von Ewgeniy Kasakow
Die These, dass das Problem an der gegenwärtigen Demokratie sei, dass nicht alle Betroffenen von politischen Entscheidungen diese auch selbst treffen dürfen, ist eines der häufigsten Topoi linker Kritik. Der positive Bezug auf die Basisdemokratie ist eine Art Minimalkonsens der heutigen Linken in der Bundesrepublik, von denen nur wenige Strömungen und Gruppen Ausnahmen bilden. Dass eine Basis etwas sei, was Entscheidungen zu treffen habe, erscheint vielen selbstverständlich. Welche Entscheidungen es sein sollen, meist auch. Was von der Basis ausgehen soll, wird dabei mit vielen Adjektiven beschrieben: antirassistisch, antisexistisch, solidarisch, antikapitalistisch und (sehr abstrakt, daher wohl als Summierung der vorherigen Adjektive benutzt) „emanzipatorisch“. Weniger klar ist, was bzw. wer die Basis bilden soll. „Alle Betroffenen“ wird wahrscheinlich der durchschnittliche linke Anhänger alternativer Demokratiemodelle darauf antworten. Alle?
Spielen wir ein Beispiel aus der Realität durch: In einer Stadt (egal ob Berlin oder Duisburg) wird seitens der Behörden ein Haus für die Unterbringung von Migranten ausgewählt. Die Anwohner, die von jeder Entscheidung, die ihre Straße betrifft, selbstverständlich „mitbetroffen“ sind, sehen dies gar nicht gern. Sie sind sich nicht zu schade, ihre Freizeit dafür aufzuopfern, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und sich mit Transparenten, Fackeln und ortsansässigen NPD-Funktionären vor das Heim zu stellen, um ihren Willen kundzutun. Betroffen sind natürlich auch die zukünftigen Bewohner des Heims. Unwahrscheinlich, dass sie sich speziell diese Straße ausgesucht haben. Aber irgendwo wollen sie schon unterkommen, und auf die Schnelle lässt sich keine Straße finden, bei der das basisdemokratische Votum der betroffenen Nachbarn wesentlich anders ausfallen würde.
Wenn nun also sowohl die Anwohner als auch die Unterkunft-Bedürftigen „Basis“ sind, dann ist sie durch sich ausschließende Interessen gespalten. Die Entscheidung zugunsten einer Seite, die auf Mehrheitsverhältnisse gründet (Abstimmung), würde ein idealtypischer Fan der Basisdemokratie in dieser Situation mit großer Wahrscheinlichkeit ablehnen. Stattdessen würde er Kräfte von außerhalb sammeln und mit ihnen eine Aktion zur Unterstützung der Heimbewohner organisieren. Diese würde er dann als basisdemokratischen Protest bezeichnen. Dabei wird geflissentlich die Bedeutung des Wortes „Basis“ vertauscht. Denn jetzt steht „Basis“ für Anhänger einer bestimmten Entscheidung, erstmals unabhängig vom Grad der persönlichen Betroffenheit. Mit anderen Worten ist jetzt mit „Basis“ „eigene Basis“ gemeint, was so viel heißt wie „Gleichgesinnte“. Die „externe“ Basisdemokratie ist der organisationsinternen gewichen, geblieben ist nur die Bezeichnung. Nur so lässt sich z.B. von Enteignung der Produktionsmittel sprechen und zugleich behaupten, dass von den Betroffenen niemand übergangen werden darf. Eigentümer wären von solchen Entscheidungen selbstverständlich betroffen und würden sie wohl nicht befürworten.
Wie das „Demos“ der jeweiligen Demokratieform eingehegt wird, bleibt bei allen linken Basisdemokratie-Entwürfen ein Problem. „Betroffen von der Entscheidung“ ist eine äußerst unklare, dehnbare Kategorie. Es bleibt offen, wer die politische Entscheidung darüber, wo die Betroffenheit beginnt, treffen soll. Weit klarer waren da die früheren Anhänger der „Diktatur des Proletariats“, die Macher des untergegangenen Realsozialismus. Deren Vorstellungen von „demokratischer Diktatur“ dienen bis heute als identitätsstiftende Negativfolie für die meisten Linken. Dabei waren die Bolschewiki, die zwischen Diktatur und Demokratie keinen Widerspruch sahen, von Anfang an ehrlich, wenn sie sagten, dass ihre proletarische Demokratie nur machbar sei unter Ausschluss der Nichtproletarier vom Entscheidungsprozess. Ihre linken Kritiker hatten oft an das Modell „Demokratie nur für die eigene Basis“ angeknüpft und an den Bolschewiki vor allem kritisiert, dass ja gar nicht das authentische Proletariat die Diktatur ausgeübt hätte. Leninisten verstanden „wahre Demokratie“ schlicht als Diktatur des richtigen Standpunktes.
Dagegen brachte die „Neue Linke“ nach 1968 unzählige Ideen zur Verbesserung der Demokratie hervor. Die Demokratie, die sie um sich herum vorfanden, verdiente nur das Prädikat „formal“. Demokratie, eine Entscheidungsform, sollte aber inhaltlich werden. Daran sieht man: Entscheidungen die inhaltlich nicht passen, werden als „undemokratisch“ angeprangert. Wenn Demokratie anders justiert würde, würden auch andere, sprich bessere, Entscheidungen dabei herauskommen, so die verbreitete Vorstellung.
Die Kategorie „alle Betroffene“ vulgo „die Basis“ ist immer eine Berufungsinstanz. Sie soll Entscheidungen legitimieren oder delegitimieren und bleibt dabei selbst unhinterfragbar. Über die Grünen, die erste basisdemokratische Partei Deutschlands, bemerkte eine aufmerksame Beobachterin schon 1983: „Ob ‚Basis‘ die Mitgliedschaft der Grünen, die Wähler oder die diversen Bürgerinitiativen meint, unterliegt offenbar dem Ad-hoc-Befund gerade Versammelter.“ (Stephan, 1983, S. 52) Es ist auch kein Geheimnis, dass alle Parteien immer dann für Plebiszit sind, wenn sich eine Mehrheit für eine Entscheidung in ihrem Sinne abzeichnet. Linke von Autonomen bis Piraten erheben die Basisentscheidung zum Grundsatzprinzip, obwohl oft nichts dafür spricht, dass die „Betroffenen“ in irgendeiner Weise „besser“ entscheiden würden als gewählte Vertreter. Was die Betroffenen für Erklärungen für ihre Betroffenheit haben, ist nämlich eine inhaltliche und keine formelle Frage. Es steht jenseits der Gegenüberstellung „demokratisch-undemokratisch“.
Literatur
Stephan, Cora: „Grundsätzlich fundamental dagegen“ Basis oder Demokratie? in: Infrarot. Wider die Utopie des totalen Lebens. Zur Auseinandersetzung mit „Fundamentalopposition“ und „neuem Realismus“, Berlin, S. 35-58.