Welche Phantasie? Welche Poesie?

Zu: „Die Poetik des Geldes“ von Stephan Eich (SZ vom 22.1.2015)

von Peter Klein

Die „Poetik des Geldes“, von der Herr Eich spricht, ist natürlich die des Kapitals. In der Funktion des Kapitals ist das Geld ein Prozess – immer in Bewegung, immer auf der Suche nach Investitionsgelegenheiten, die Erfolg im Sinne der Vermehrung des eingesetzten Geldes versprechen. Und weil die Realisation eines Versprechens logischerweise in der Zukunft liegt, ist das Kapital mitsamt dem zugehörigen Fortschrittsoptimismus seit jeher auf die für alle möglichen Phantasien offene Zukunft ausgerichtet. Insofern hat der Autor vollkommen recht, wenn er einer dynamischen Betrachtungsweise des „Geldes“ das Wort redet, wenn er von realitätstüchtiger „Phantasie“ und „Fiktion“ spricht. Mit solcher Phantasie hat Kolumbus, unterstützt von hochwohlgeborenen Kreditgebern, seine Schiffe ausgerüstet, denn in dem auf neue, „innovative“ Art angesteuerten „Indien“ schienen ihm gewaltige Reichtümer zu winken. Für die Zwecke der Kapitalakkumulation braucht es unternehmende Leute, für die das „Gold“ eine Vision und eine Sache der Zukunft ist. Es darf nicht bereits als ein Schatz vorhanden sein, von dem man sich zwecks Genuss oder Bewachung nicht fortbewegen mag.

Die Frage ist allerdings, wie es um die Kapitalakkumulation heutigentags bestellt ist, in einer Welt, die die Entdeckung Amerikas und so manch anderer wichtiger Dinge schon lange hinter sich hat. Diese Frage übergeht Herr Eich mit einer gewissen schludrigen Eleganz, indem er die Worte „Phantasie“ und „Fiktion“ von der einen Sphäre, in der das Kapital, metaphorisch gesprochen, wirkliche Schiffe ausrüstete und wirkliche, sich für Geld schindende Seeleute anheuerte, hinüberspielt in eine andere Sphäre, nämlich die der Zentralbanken und der daran hängenden Finanzindustrie. Hier, wo es dem Geld gelingt, durch den „sprichwörtlichen Mausklick“ mehr zu werden, kann von Phantasie im Sinne jenes wie immer falsch oder verzerrt vorgestellten „Indiens“ keine Rede mehr sein. Und die Fiktion reduziert sich auf einen bloßen Wunsch. Nämlich den, dass es gelingen möge, jene Phantasie, die die Entdecker und Forscher von einst zu ihren großen Unternehmungen angestiftet hat, durch das geschöpfte Geld irgendwie zu ersetzen oder zu simulieren. Indem es von vornherein als Kapital behandelt wird, als das zu einem eigenen Dasein gekommene „Mehrwerden des Werts an sich“ sozusagen, soll das Geld dazu ermuntert werden, sich auch in der Realwirtschaft als Kapital zu betragen, so „ordentlich“, wie man es aus jenen von der Erinnerung vergoldeten Zeiten kennt, in denen es – in Europa zumindest – noch einen funktionierenden Sozialstaat gab.

Dagegen steht aber die hohe Produktivität und technische Effizienz, die das in der güterproduzierenden Industrie angelegte Kapital inzwischen erreicht hat – jedenfalls in den wenigen Ländern, die die internationale Konkurrenz als Produktionsstandorte noch übriggelassen hat. Die wissenschaftlich-technische Innovation unserer Zeit, die sich vielleicht der Entdeckung Amerikas oder der Erfindung der Dampfmaschine zur Seite stellen lässt, war die Entwicklung der Informationstechnologie und der elektronischen Datenverarbeitung. Die aber ging von Anfang an mit der Phantasie einher, dass sie helfen werde, produktive Arbeit einzusparen. Und die Phantasie hat gehalten, was sie versprach. Per saldo gehen deutlich mehr „Seeleute“ von Bord, als dass neue angeheuert würden – weltweit gesehen, versteht sich, unter Einschluss der sich ständig vergrößernden Zahl der failed states und der Bürgerkriegsregionen. Die Arbeitslosen dieser Welt haben zwar viele Bedürfnisse, aber nützlich machen im Sinne des Kapitals können sie sich offensichtlich nicht, auch nicht als Konsumenten.

Die „Not“, in die das produzierende Kapital unter diesen Umständen geriet, kam, wie bekannt, seit den 90er Jahren den von der Finanzindustrie reichlich angebotenen Wertpapieren und Wertpapier-Derivaten zugute. Angesichts steigender Aktienkurse und sinkender Zinsen wurden sehr bald auch die sogenannten Kleinanleger von dem Trend zur spekulativen Geldanlage erfasst. Das Anleger-Fernsehen entstand, und gleichzeitig boten neue Direktanlage-Banken ihre Dienste an, sodass das Mausklicken, mit dem in rascher Folge Aktien und Aktienoptionen hin- und hergehandelt werden konnten, zu einer Art Volks- oder doch Mittelstandssport wurde. Alan Greenspan, seinerzeit Chef der amerikanischen Zentralbank, fühlte sich schon 1996, als der Dow Jones Index bei 6000 Punkten stand, zu dem besorgten und oft zitierten Ausspruch vom „irrationalen Überschwang“ (irrational exuberance) der Finanzmärkte veranlasst.

Konservative Stimmen, zu denen man in diesem Falle – als die Nostalgiker der 80er Jahre, die sie sind – wohl auch einen Großteil der „Linken“ rechnen kann, haben diese Entwicklung zur Spekulation und zum „leichtsinnigen Finanzgebaren“ von Anfang an kritisiert. Die Mentalität des Mausklickens und des schnellen Geldes, die in den letzten Jahrzehnten um sich gegriffen hat, passt nicht zum Arbeitsethos des klassischen Kapitalismus und nicht zum Geist des eifrigen Strebens, des Anpackens und Ärmelhochkrempelns, von dem der ältere Mittelstandsbürger (Typ Gauweiler etwa) vielleicht noch berührt worden ist. Das muss ich hier nicht weiter ausführen. Mit der Feststellung, dass auf die mausklickende Weise die „gute alte Zeit“ des expandierenden Kapitalismus sich nicht wird zurückholen lassen, haben sie jedenfalls Recht behalten. Auch auf das Argument, dass vom boomenden Finanzüberbau Impulse für die Realwirtschaft ausgegangen seien, kann ich hier nicht weiter eingehen. Es ist etwas dran (wenn man sich etwa die Wellness-Industrie anschaut), aber wenig. Allzu krass ist das Missverhältnis zwischen den seit 1996 um mehrere hundert Prozent in die Höhe geschossenen Aktienkursen und den eher mäßigen und oft noch geschönten Zahlen, die aus der Realwirtschaft gemeldet werden.

Ich will hier nur auf eine Fiktion hinweisen, die unser Autor bei seinem Lob der geldschöpfenden Branche zweifellos in seinem Kalkül hat, aber stillschweigend, möglicherweise ohne dass es ihm bewusst ist. Diese Fiktion muss funktionieren, damit sich der „sprichwörtliche Mausklick“ nicht von vornherein als fauler Zauber entlarvt. Der von der jüngsten Maßnahme der EZB ausgelöste Aktien-Hype hat es wieder einmal vor unser aller Augen geführt (und in einem SZ-Kommentar vom 26.1.2015 ist es auch schon vermerkt worden): Der Mausklick, der fortzeugend neue Mausklicks gebiert, kommt denen zugute, die bereits etwas haben. Das Mehrwerden ihres Geldes ereignet sich, ohne dass sie sich in irgendeiner für den klassischen Kapitalismus kennzeichenden Weise in Bewegung gesetzt hätten (vom Urlauber-Jet einmal abgesehen). Damit kommt ein statisches Moment in diese mausklickenden Zeiten. Das reichlich geschöpfte Geld, mit dem die Felder des Kapitalismus überschwemmt werden, macht sie nicht fruchtbar, sondern zum Sumpf. Der Wirtschaftskapitän und Betriebsführer früherer Zeiten, der sich durch sein Wissen, seine organisatorische Kompetenz und durch die strenge Selbstdisziplin, mit der er seine Vision verfolgte, Respekt zu verschaffen wusste bei seinen Arbeitern (oder „Seeleuten“, um im Kolumbus-Bild zu bleiben), befindet sich auf dem Rückzug. An seiner Stelle schiebt sich ein Typus in der Vordergrund, der bei aller Hektik und Nervosität, die ihn auszeichnet, die zielgerichtete Tatkraft eher vermissen lässt. Er hat etwas Spielerisches, Tändelndes an sich, die Eleganz eines Kasinobesuchers, die in ihrer äußeren Erscheinung vielleicht jener Eleganz entspricht, die Herr Eich in seiner Argumentation entfaltet. Durch die Hintertür des Mausklickens hat sich, diesmal ausstaffiert mit einem „automatisch“ wachsenden Aktiendepot, der längst verloren geglaubte Schatzbildner des 18. Jahrhunderts wieder eingefunden. Die Champagner oder Aperol Sprizz trinkende Jeunesse dorée unserer Zeit, zu der man sicherlich auch den einen oder anderen sympathischen Rentner zählen darf, der seine Leidenschaft für Museumsbesuche entdeckt hat, erinnert von fern her an den französischen Adel des Rokoko, der sich die Zeit mit Schäferspielen und galanten Abenteuern vertrieb – kurz bevor die Guillotine auf der Bildfläche erschien.

Die Fiktion besteht darin, dass die reichlich locker auftretenden Repräsentanten des jüngsten Kapitalismus (Typ Middelhoff etwa) auch weiterhin auf eine leistungsbereite, für 8,50 Euro pro Stunde zuverlässig funktionierende Arbeiterbevölkerung treffen werden. Sie besteht darin, dass diejenigen, die unten sind, die Abgehängten, Ausgemusterten und Unbrauchbaren oder wie man sie nennt, weiterhin ruhig bleiben, sich geduldig die Phrasen à la „Leistung aus Leidenschaft“ anhören und computerspielend auf einen Arbeitsplatz warten werden. Der Mordanschlag auf die Redakteure von Charlie Hebdo und das Unbehagen, dass sich auch anderswo teils amoklaufend, teils demonstrierend äußert, lassen mich an der Realitätstüchtigkeit dieser Fiktion zweifeln.

P.S.: Einen schönen Gruß an Ingo Schulze

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