Mein mangelndes Verständnis für Bildung und Pädagogik
Streifzüge 64/2015
von Lorenz Glatz
Eine radikale Kritik am Leben in der Marktwirtschaft als destruktiv und menschenfeindlich ist in den Metropolen der Weltordnung zum bisher letzten Mal in den Sechzigerjahren allgemein wahrnehmbar geworden. Das „Make Love Not War“ der sogenannten Hippies im Kernland von Freedom and Democracy stellt(e) sich über den unmittelbaren Anlass Vietnamkrieg hinaus gegen alle Grundkategorien und Institutionen der modernen Zivilisation. Sie bewegten sich in ihren Äußerungen nicht im Vokabular und der Denktradition europäischer Philosophie und Wissenschaft, sondern eher in mythologischer und poetischer Erzählung und Darstellung, sie ließen aber in Wort und Tat keinen Zweifel an ihrer Ablehnung von Staat und Nation, Arbeit und Kapital, Geld und Recht, der Ordnung der Geschlechter und dem vorherrschenden Umgang der Menschen sowohl untereinander als auch mit der Natur, kurz von allem, worauf sich Freiheit und Demokratie entfaltet haben.
Auch Pädagogik ist in der geistigen und sozialen Unruhe jener Zeit Gegenstand der Kritik geworden. – Sowohl als Umgang mit Menschen, die in dieser Gesellschaft zu sittlich-vernünftiger Handlungsweise (und natürlich: kompetenter Arbeit) befähigt werden sollen, als auch als Reflexion dieses Umgangs. Die auch im deutschen Sprachraum in Bewegung geratenen Studenten kritisierten ihre Bildungsinstitutionen einerseits als (post)faschistisch und autoritär („Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“), andererseits und weiter blickend wurde, durchaus in Nähe zu den Hippies, das Bildungssystem überhaupt als Ausdruck einer menschenfeindlichen Lebensweise angegriffen. Ivan Illich (der wegen seiner jüdischen Abstammung als Teenager aus Österreich geflohen war und später ein ungewöhnlich unangepasster katholischer Priester wurde) trat in seiner Streitschrift „Deschooling Society“ (englische Originalausgabe 1971) für die Abschaffung der Institution Schule ein: „Die heutige Suche nach neuen Bildungstrichtern muss in die Suche nach deren institutionellem Gegenteil umgekehrt werden: nach Bildungsgeflechten, die für jeden mehr Möglichkeiten schaffen, jeden Augenblick seines Lebens in eine Zeit des Lernens, der Teilhabe und Fürsorge zu verwandeln.“ Seine Befürwortung solcher autonomen „Bildungsgeflechte“, die das ganze Leben erfassen und die Pädagogik als institutionellen Zugriff beenden sollten, fand ein weites Echo und hatte beträchtlichen Einfluss auch in den Kinderläden des deutschen Sprachraums, die in Wien zuerst noch Kinderkollektive hießen.
Im Kinderkollektiv
Wir waren beseelt vom Impuls, die Kleinen den Institutionen und dem lähmenden autoritären Ungeist des Establishments, den in Wirtschaft, Staat und „Zivilgesellschaft“ den Ton Angebenden, zu entziehen. Es ging um ein „anderes“, ein wirklich „freies“ Leben für die Kinder jenseits der Wahl zwischen „Coca“ und „Pepsi“, um möglichst große lebenspraktische Distanz zum konsumvertrottelten, nur auf Bravsein und Reinlichkeit bedachten „Mainstream“, um ein Experiment für ein gesellschaftliches Leben, das sich den Zwängen des Staats und der Wirtschaft so weit wie möglich entzog, aber auch der bürgerlichen Ehe und Familie und allen unbefragten Konventionen, die von den Generationen unserer Eltern und Großeltern an uns weitergereicht wurden, von Menschen, die selbst durch zwei Weltkriege psychisch und oft auch physisch übel zugerichtet waren.
Es ging um ein anderes Leben nicht nur für die Kinder, sondern auch für das „Elternkollektiv“ – mit dem Anspruch, damit zu einer gesellschaftlichen Umwälzung der ganzen Lebensweise beizutragen. „Knabenmorgenblütenträume“ könnte man sagen, wie Prometheus bei Goethe es ausdrückt – Ahnung, Aufgang, erst zu befruchtender, noch unverwirklichter Wunsch. Ein Aufbruch, bei dem der Ausgangspunkt, die autoritäre Umgebung, gegen die wir uns richteten, deutlich war. Das positive Ziel einer „freien Entwicklung“ aber konnte erst mit dem Tun Gestalt annehmen, eine Gestalt freilich, die sehr leicht wieder in einem bloß umgestülpten, aber nicht weniger herrschaftlichen Modus formatiert war, in neuen „Sollensnormen“, wie eins „frei“ zu sein hatte. Ein Modus, der sich seit unzähligen Generationen, in modernen Zeiten vor allem mittels „Pädagogik“ und „Erziehung“ (die schon als Wort in mir die Vorstellung von gezogenen Ohren auslöst) mit durchaus verschiedenen Inhalten in uns eingegraben hat und der jetzt als „linker Moralismus“ (Julius Mende) verkleidet noch in der radikalsten Opposition Freiheiten, Sehnsüchte und Wünsche undenkbar und indiskutabel zu machen drohte.
Ich war ein Vater beim 2. Wiener Kinderkollektiv. Wir Eltern hatten die benötigten Räume in einer ablehnenden, mindestens skeptischen Umgebung selbst „auftreiben“, adaptieren, einrichten müssen. Wir hielten sie instand, leisteten aufwendige Fahrt-, Koch-, Putz- und Spieldienste und wurden so in gewissem Maß Bezugspersonen aller beteiligten Kinder. Wir wollten von Sigmund Freud, Erich Fromm, Wilhelm Reich, A.S. Neill, Ivan Illich und anderen lernen, von denen im Lehrbetrieb der Uni damals nichts zu hören und zu lesen war. Wir setzten uns im täglichen Umgang und an den wöchentlichen Elternabenden mit dem Verhalten und den Wünschen der Kinder auseinander, gerade mit ihrem Trotz und ihren Aggressionen, die nicht tabuisiert und abgestellt, sondern ernstgenommen und bewältigt produktiv fürs Leben werden sollten.
Zugleich bezogen sich die Eltern selber (in recht unterschiedlichem Maß allerdings) in die „Erziehung“ mit ein, versuchten im Grund „Pädagogik“ in dem Bemühen um eine gemeinsame Entwicklung aufzuheben. Unsere Probleme miteinander kamen zur Sprache, eine Zeitlang sogar in Gruppentreffen mit einem Psychoanalytiker, an denen ein Großteil regelmäßig teilnahm. Auch in den Wohngemeinschaften, in denen nach einem Jahr fast alle lebten, konnte über das „Private“ gesprochen werden – über unser Eigentumsdenken, gegenseitige Hilfe und Verlässlichkeit, monogame Moral, das Aufbrechen von Paarbeziehungen und Kleinfamilien. In diesem chaotischen Prozess von „Selbsterziehung“ mit unbändiger Lust auf Neues und tiefer Verunsicherung, emotionalen Katastrophen und Hilfe der Gemeinschaft lagen Hoffnung auf ein neues, zu einander offeneres Leben und Überforderung und Verzweiflung nahe beisammen. Wo uns hier Kommunikation im wörtlichen Sinn von „Vergemeinschaftung“ dessen, was wir uns „mit-zu-teilen“ hatten, gelang, ging es nicht um „Rationalität“ im etymologischen Sinne von Berechnung, sondern um „Vernunft“ als einem über die Sinne kommenden „Ver-nehmen“ – den Hippies gar nicht so fern. Was uns da eine Zeit lang trug, war so etwas wie ver-rückte Sehnsucht nach einer Freiheit, die am Horizont erreichbar, gestaltbar und doch im Fluss zu bleiben schien.
Die Kinder waren stabiler. Die mögliche „Overprotection“ und die naheliegende Vereinnahmung durch neue, diesmal „fortschrittliche“ Programme wurde durch das zumindest ansatzweise Aufbrechen der gelernten Rollen und Verhaltensweisen in der Elterngruppe oft recht wirksam konterkariert, der größere Freiraum für die kindlichen Regungen und der recht aufmerksame und liebevolle Umgang der Betreuer trug dank einer Kinder-Betreuerrelation von oft nur 5:1 gute Früchte. Der Aggressionspegel nahm sichtbar ab, das „Kinderplenum“ wurde für die Kleinen zur gern, manchmal lautstark angerufenen Instanz für das Beilegen von Streitigkeiten. Der Schritt dazu, als Gruppe auf Dauer zusammen zu leben und zu wirtschaften, um diesen Vorschein eines besseren Lebens irgendwie zu schützen und auszuweiten, blieb aber in dem Trubel doch ein blasser Gedanke, hie und da bloß ausgesprochen.
Im zweiten Jahr fuhren einige von uns nach Westberlin, um dort einige Kinderläden zu besuchen, die um ein paar Jahre älter waren als unser Kinderkollektiv. Wir waren peinlich überrascht. Unsere hochfliegenden Vorstellungen von unseren Perspektiven trafen auf etwas, das uns als müde Resignation erschien. Kreativiät und freiere Entfaltung des kindlichen Potentials, ja das wollte man ganz „realistisch“ betreiben. Das konnten die Kinder auch in Zukunft brauchen, „fürs Leben“ nach dem freundlichen Gehege des Kinderladens. Das alte Ziel war da, bloß ein wenig „post-antiautoritär“ umformuliert. Zwei Jahre später war es bei uns nicht mehr anders.
Wir waren überfordert. Der große Aufwand, den unser Kinderkollektiv mit sich brachte, die Erschütterungen, die unsere engen Kontakte auslösten, waren aber nur die eine Seite. Schwerer noch wog, dass sich die Perspektiven des Aufbruchs der späten 60er Jahre, die so weit schienen, verengt hatten. Die kleinen Keime des Alternativen, die in den Rissen im Beton des bestehenden Ökonomisch-Politischen wurzelten, faszinierten (mich jedenfalls), waren aber schwach und „unklar“, wie Keimblätter halt so sind. Wir rieben uns am Autoritär-Engen der Verhältnisse, blieben aber materiell (notgedrungen) und auch in unseren Vorstellungen (leider) weitgehend auf dem alten Boden von Ökonomie und Politik. Wo ein Weg aus unserer eigentlich auf Erweiterung und Zukunft angelegten Nische führen könnte, war im Nebel geblieben und geriet schließlich aus dem Blick.
In der pädagogischen „Anstalt“
Politik und Staat erschienen vielen mittlerweile als ein Boden, auf dem Neues wachsen könnte, ob in Reform oder in Revolution. Schließlich hatten auch Fromm und Illich ihre oft heftige Kritik nicht selten als Politikberatung formuliert. Die Macht der unbesiegbaren USA ging in Vietnam gerade den Bach hinunter, die „Dritte Welt“ schien siegreich auf dem Weg in eine bessere, ja kommune Lebensweise, und zu Hause war die neue sozialistische Alleinregierung dabei, wenigstens „Reformprogramme für ein modernes Österreich“ umzusetzen. Auch eine demokratische Schulreform.
Vor allem aber: Staat und Wirtschaft hatten noch „was zu bieten“: Kaum wer von uns musste damals mühsam einer halbwegs guten Arbeitsstelle nachlaufen, sie kam eher auf uns zu. Ich schloss zwei meiner Fächer auf der Uni mit dem Lehramt ab, sah im Telefonbuch nach, wo das nächste Gymnasium stand, und sagte dem Beamten, wo ich mein „Probejahr“ (um einiges besser als das heutige „Unterrichtspraktikum“ bezahlt und viel weniger stressig) verbringen wollte. Ein gewisses Gefühl der Kapitulation hatte ich doch – und noch die Hoffnung, im Jahr darauf was Besseres, Kommuneartiges, zu haben. Daraus wurde nichts, aber ich konnte trotz miesem Zeugnis meines Probejahrs zwischen zwei Schulen wählen, die mich zur fixen Anstellung haben wollten. Das Kinder- und Elternkollektiv lief aus. Die nachkommenden Kinderläden setzten den „Realismus“ fort, mit dem wir aufgegeben hatten.
Der Schuldienst in der „Anstalt“, wie mein letzter Direktor ironisch-kritisch sagte, dauerte Jahrzehnte, aber das Neue darin war dünn. Ja, die Willkür des Betriebs kam an die Leine von Gesetz und (wuchernder) Bürokratie, die Eltern konnten in Maßen mitwirken und beeinspruchen, ein wenig auch die Schüler, der Ton und die Methoden der Lehrer wurden jedenfalls „moderner“, ihr Verhalten gegenüber den Schülern weniger autoritär, mehr Arbeiterkinder konnten maturieren und studieren.
Was aber Emanzipation und Freiheit angeht, stellten sich die „Mehrheitsinteressen in unserer Gesellschaft“ (Norbert Kutalek), denen unser fortschrittliches Wirken dienen sollte, als durchaus immanent heraus. Sie wandten und wenden sich auch im gängigen fortschrittlichen Verständnis keineswegs gegen die gesellschaftliche Grundkonstruktion, die vom Staat als „Verfassungs- und Rechtsordnung“ vertreten wird, als „Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit unserer Republik“ umfassend verteidigt und als „Politische Bildung in den Schulen“ gelehrt und praktiziert werden soll (siehe den gleichnamigen Erlass des Unterrichtsministeriums). Der Widerspruch von Schulpflicht und freiem Lernen wurde „natürlich“ nicht einmal angesprochen. Die Schule blieb damit über alles andere hinaus eine Anstalt gigantischer Verschwendung von Lebenszeit. Im beiläufigen Selbstversuch lernte ich im Selbststudium gleich viel Italienisch in einem recht kleinen Teil der Zeit, die ein durchschnittlicher Schüler in vier Jahren abzusitzen hat. Ich wollte, er musste.
Die Realverfassung des freien und demokratischen Staats als des Herrn und Aufsehers aller institutionellen Pädagogik kommt in der Schule nur in Andeutungen vor. Sie besteht vor allem in der Abhängigkeit von und im Einsatz für seine ökonomischen Grundlagen als dem Fundament seines Wirkens. Diese Grundlagen sind die Notwendigkeit der Verwertung (dass als Kapital investiertes Geld sich vermehren muss oder bei Misserfolg entwertet wird) und der sich daraus ergebende Zwang, ein Wirtschaftswachstum in globaler Konkurrenz zu schaffen. Zur Erfüllung dieser Vorgaben muss auch die Schule in der „Vorbereitung der jungen Menschen aufs Leben“ ihren Beitrag leisten. Die Ökonomie ist schließlich schon der Taufpate der allgemeinen Schulpflicht gewesen. Auch die Beseitigung der Privilegierung von Minderheiten und der Benachteiligung der Mehrheit muss letztlich diesen für ein gutes Leben nicht gerade relevanten Zielen dienen, um erfolgreich einen Anspruch auf Finanzierung anmelden zu können. Das Bemühen kann dabei aber auch im besten Fall nur die Chancengleichheit in der Konkurrenz herstellen, nicht aber deren Ergebnis grundsätzlich ändern – den Aufstieg der Gewinner und den Abstieg der Verlierer.
In der Weltkrise der Verwertung …
In den Siebzigerjahren mochte man noch daran glauben oder zumindest darauf hoffen, mit dem Schulbetrieb trotz alledem „überschüssige“ Ziele pädagogischer Bemühung erreichen zu können. Seit dem Ende des fordistischen Booms, das sich schon damals abzeichnete, wurde jedoch der direkte Konnex von Schule und ökonomischer Behauptung des „Standorts“ auch im öffentlichen Diskurs immer deutlicher und unverblümter. Gegen das Lahmen von Verwertung und Wirtschaftswachstum wurden seitdem hierzulande wie weltweit nicht nur neoliberale Deregulierung und Privatisierung als Heilmittel eingesetzt, sondern die Staaten verschuldeten sich enorm zur Erfüllung ihrer sozialen, infrastrukturellen und konjunkturfördernden Aufgaben, zuletzt dann sprunghaft sowohl zur Rettung des Finanzsystems als auch im Bemühen, durch Investitionen die Wirtschaft auch nur notdürftig am Laufen zu halten. Dies führte im Bildungs- wie auch im Sozialsystem zu Einsparungen, im Fall der Bildung auch zur offenen Konzentration auf „Exzellenz-“ und „Eliten“-Bildung. Soweit das erreichte Qualifikationsniveau angesichts zunehmender Unverkäuflichkeit der Ware Arbeitskraft gesteigerte Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt bekommen hat, dieses an den staatlichen Institutionen aber nur mehr teilweise oder mangelhaft zu erreichen ist, wird der private Zukauf von Qualifikation zu einem sich ausdehnenden Geschäft, in dem Pädagogik unmittelbar an finanziellem Erfolg messbar wird. In einer solchen Bildungsarchitektur bleibt für soziale Breite und „schöngeistige“ Schörksel sowieso nur wenig Raum.
Und doch ist die antiautoritäre und emanzipatorische Bemühung des Aufbruchs der Sechziger- und Siebzigerjahre in der offen ökonomisierten Verfassung der gegenwärtigen Denk- und Lebensweise durchaus präsent. Denn „die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung“ (Marx / Engels: Kommunistisches Manifest) gehören zum Kapitalismus – er frisst alles, verdaut, was daran für sein Leben in Verwertung und Wachstum nahrhaft ist, scheidet aus, was nicht. Und dies umso hektischer, als die Substanz des Werts, die produktive Arbeit angesichts der von der Konkurrenz immer weiter hochgepeitschten Produktivität zur Mangelware wird. Und so ist mitten in der Weltkrise für zukunftsgerichtete Bildung in der heutigen „Gesellschaftsformation“ die Verstärkung von „persönlichkeitsbildenden Elementen“ wie „Autonomie, Eigenverantwortung, Kreativität, Resilienz und soziale Empathie“ vonnöten, um in der zunehmenden „Komplexität und Vielfalt in allen Lebensbereichen“ zurechtzukommen (Zukunftsforscher Reinhold Popp in Der Standard vom 4.5.2015 als einer von vielen). Was als neu und als Alternative aufgetreten ist, wird nach der Rezeptur des Alten verkocht.
Eins ist nicht mehr Handlanger der Maschine, bloßer Befehlsempfänger von Vorgesetzten, sondern selbstverantwortlicher Förderer des Betriebszwecks, autonomer, empathischer und kreativer Mitplaner und Mittäter der Verwertung in der Verwertung seiner selbst – „macht, was ihr wollt, aber seid profitabel“ (eine Losung bei IBM Deutschland). Die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten um der Menschen selbst willen (in der Vorstellung emanzipatorischer Pädagogik) soll mit einem anderen Selbstzweck deckungsgleich werden, mit dem Selbstzweck der Verwertung nämlich, indem der ganze Mensch einschließlich seines Selbstverständnisses und seiner sozialen Fähigkeiten als „Soft Skills“ vereinnahmt wird, in selbsttätiger Verzweckung noch der menschlichen Autonomie, des hehren Ziels aufklärerischen erzieherischen Wirkens.
In Bildung und Pädagogik wird so aus der Abschaffung der Schule, um „Möglichkeiten (zu) schaffen, jeden Augenblick seines Lebens in eine Zeit des Lernens, der Teilhabe und Fürsorge zu verwandeln“ (Ivan Illich), z.B. eine „internationale Enquete“ des Berufsförderungsinstituts Oberösterreich „zum Thema Berufliche Aus- und Weiterbildung“ mit dem Anliegen, „den Menschen einen breiten Zugang zu lebenslangem Lernen (zu) ermöglichen.“ (www.bfi-ooe.at) Um ihre „Arbeitsplätze zu sichern“ und was halt sonst noch zu einer freien und demokratischen Marktwirtschaft gehört. Der „Marsch durch die Institutionen“ hat statt der Institutionen die Marschierer gewandelt. Ähnlich übrigens auch die Wandlung von Bio-Bauern und Bio-Produkten seit dem Einzug der Bio-Regale in die Supermärkte sowie die Anpassung der Alternativbetriebe, die sich auf dem Markt behaupten wollen müssen.
Dem dramatischen Aufgehen des Menschen in der Selbstverwertung entspricht zudem seine nicht minder dramatische Selbstgefährdung in diesem Prozess. Die rechtschaffen gebildeten „ehrlichen Arbeiter“ und die hochgebildeten „Leistungsträger“ dieser Welt verwüsten mit ihrem Tun absichtslos, aber konsequent die Grundlagen des Lebens. Ihr unermüdlicher Einsatz plündert und vergeudet unwiederbringlich die natürlichen Ressourcen und vergiftet Erde, Meere, Luft und alle Lebewesen durch Industrie und Konsumwahn mit Abfall und Jahrzehntausende strahlendem Atommüll, und er löst einen für uns Menschen und viele andere Lebewesen katastrophalen Klimawandel aus. „Keiner will es, alle tun es“ – wer sich innerhalb der Strukturen einrichten will, kann höchstens deren ungemeine Flexibilität in der Verfolgung ihrer Zwecke als Chance grundsätzlicher Änderung halluzinieren.
In der gleichzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise verelenden hunderte Millionen, darunter Millionen Hochgebildete, nicht nur in der sogenannten Dritten Welt, sondern auch hier um die Ecke. Es bröseln, ja zerfallen mit dem Verfall der Wirtschaft deren Staaten: Krieg und Massenflucht greifen um sich – aus der „Tauschgegner“schaft (Max Weber) von Käufer und Verkäufer entpuppt sich beim Zerfall der Ordnung des Gelds Rassismus und Fanatismus, Raub und Mord.
„… wächst das Rettende auch“
Es ist unvergleichlich ernster als in der Zeit des Aufbruchs in den 60er Jahren. Und doch: Das Rettende wächst auch. Für die Etablierten ist es unscheinbar. Es ist tiefer noch als die Krise der Lebensweise, ist das, was die Menschen unter den Zumutungen, Verdrehungen und Katastrophen der Herrschaft auch in schlimmen Zeiten noch retten kann – es sind die auf dem Grund der Gesellschaften immer auch (wenn auch beschädigt und arg verkümmert) vorhandenen „Bildungsgeflechte“, die Ivan Illich statt des institutionellen Schulsystems wachsen lassen wollte, in denen Lernen, Teilhabe und Fürsorge in nuce erfahrbar und ausgestaltbar sind und Pädagogik/Bildung sich im Leben auflösen könnte. Es ist in unserer Evolutionsgeschichte der vielen Herrschaftsformen das andere Ergebnis, unsere Fähigkeit, ohne andere Zwecke als die unseres guten Zusammenlebens kooperieren, einander „ansehen“ und „zuneigen“ zu können. Es ist die Subsistenz, die dem Konsumismus als „Armut für alle“, bestenfalls als „Notbehelf in der Krise“ erscheint.
Ja, Millionen in Russland wären wohl nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verhungert, die Menschen in weiten Teilen Afrikas wären nicht mehr am Leben, seit die Marktwirtschaft ihre verbrannte Erde verlassen hat, in Griechenland, nein auch in vielen Vierteln und Häuserblocks des „reichen Nordens“ wären Mord und Totschlag die Regel, gäbe es diese Geflechte gegenseitiger Hilfe nicht. Ihr Myzel aber verbreitet sich zunehmend auch dort, wo Menschen ihrer (noch vorhandenen) Kaufkraft nicht mehr trauen, und überall, wo es wächst, nährt es sich auch von den Gefühlen der Leere, der Aussichtslosigkeit, des hoffnungslosen Unfriedens, den die wankende Weltordnung des Gelds in der Seele erzeugt. Nicht nur bei denen, die schon materiellen Mangel leiden, auch bei Leuten, die es angesichts ihres giftigen Überflusses ekelt.
Dazu kommt, dass die Bemühungen, das Leben, wenigstens Teile davon, in die eigenen Hände zu bekommen, sich nicht mehr (oder zumindest abnehmend) an Staat, Politik und Marktwirtschaft orientieren, sondern dezidiert aus diesen Fesseln raus, die Dominanz dieser Strukturen eindämmen, schwächen, brechen wollen. An Ivan Illich z.B. interessiert nicht mehr, dass er immer wieder einmal der Politik kritische Vorschläge macht, sondern der Umstand, dass seine fruchtbaren Überlegungen mit staatlicher und kapitalistischer Ordnung unvereinbar und nur jenseits von ihr nützlich sein können. Wer sich an dieser Ordnung orientiert, schaut auf Institutionen, hat Führungen, handelt „umsichtig gesteuert“. Wer hier heraus will, achtet weniger auf politische Konjunkturen oder Wahlkämpfe, sondern wird aus den eigenen Notwendigkeiten und Gegebenheiten heraus „horizontal“, „spontaner“ (Zibechi), lokal organisiert und global kooperativ agieren, für die staatliche Bürokratie vermutlich unberechenbarer und weniger greifbar sein. Und zugleich führt diese Unterscheidung wieder auf die im ganzen Leben möglichen „Bildungsgeflechte“ des Lernens, der Teilhabe und der Fürsorge für einander.
Es ist klar, dass die herrschende Ordnung in Gestalt ihrer Vertreter, Profiteure, Anhänger und Mitläufer zu allen Mitteln der Selbstbehauptung greifen wird. Flexibel, verführerisch oder brutal. Erfolgsorient in jedem Fall. Und es ist höchst unsicher, dass unsereins ihr blindes Zerstörungswerk stoppen und ihrer vielfältigen Gewalt standhalten kann. Wenn es aber gelingen soll, und das ist so dringend wie selten in der Geschichte der Menschheit, dann gibt es eine Menge zu lernen. Vor allem aber und über alles bloße Wissen hinaus braucht es die emotionale Kraft freigelassener Fantasie und gemeinschaftlicher Experimentierlust. Es gilt „zurückzugehen“ und anzuschließen an die alten „Blütenträume“ der (auch persönlichen) Geschichte, damit sie Frucht treiben und wir aus der Vorstellungswelt von Jahrtausenden Herrschaft ins Freie zu kommen. Denn erst wenn die herrschende Lebensweise nicht mehr unsere Sehnsüchte beherrscht, wird der Weg frei zur „Konvivialität“ (Illich), zu einem guten Leben für alle, für die Menschen und alle anderen Lebewesen. Mit Pädagogik ist da nicht viel zu machen. Aber vielleicht mit den gewesten Pädagogen. So wie mit allen Menschen, in denen solche Gefühle und Gedanken wachsen.
Literatur
Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1973.
Kutalek, Norbert: Thesen zum österreichischen Bildungssystem, in: Freie Lehrerstimme, 1981 Nr.3, S. 9 f.
Mende, Julius: Was ich von Holzkamp über Erziehung lernte, in: Fischer-Kowalski, Fitzka-Puchberger, Mende (Hg.): Kindergruppen Kinder.
Zibechi, Raúl: Bolivien. Die Zersplitterung der Macht, edition nautilus 2008.
Zibechi, Raúl : Territorien des Widerstandes. Eine politische Kartographie der Urbanen Peripherien Lateinamerikas, Assoziation A, 2011.