Die Debatte um die Gleichstellung von Frauen und Männern ist inzwischen in praktisch alle Institutionen des öffentlichen Dienstes und teilweise auch der Privatwirtschaft eingeschrieben. Es gibt Gleichstellungsbeauftragte, Frauenberatungsstellen und Förderprogramme für Frauen. Politische Parteien thematisieren in unterschiedlichem Ausmaß die immer noch divergierenden Lebenslagen und Einkommensniveaus von Frauen und Männern. So genannte Genderfragen sind Teil des öffentlichen Diskurses.
In Hinblick darauf dominiert die Sicht, dass es lediglich einiger Reformen bedürfte, um Frauen und Männer gleichzustellen. Die stärker linksorientierten Strömungen pochen dann noch pointierter auf den Abbau von Normen, die sich am biologischen Geschlecht festmachen. Das scheint gegenwärtig den Inbegriff „geschlechtlicher Emanzipation“ darzustellen: Frauen und Männer sollen unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht ihre Lebensentwürfe, Liebesweisen und so weiter wählen können. Die Grenzen zwischen „Mann“ und „Frau“ sollen dekonstruiert werden, so fordert die queer-feministische Debatte. Zugleich dürfe es keine Benachteiligung von Frauen in ökonomischer Hinsicht geben, was eine gleiche Aufteilung von Hausarbeit einschließe.
Dieser Sicht unterliegen zwei Annahmen:
– Erstens jene, dass Identitäten grundsätzlich nicht sexuell bestimmt sein sollen, sich also nicht am biologischen Geschlecht festmachen dürfen und müssen.
– Zweitens jene, dass der Kapitalismus mit einer Gleichstellung und Ent-Normierung im oben genannten Sinn vereinbar ist; wiewohl in der queer-feministischen Debatte auch kapitalismuskritische Strömungen wichtig sind.
Diese beiden Annahmen sind durchaus bemerkenswert. Die letztere, weil es vor allem in früheren Jahren eine starke – wenngleich minoritäre – Argumentation gegeben hat, die Kapitalismus in engem Zusammenhang mit patriarchalen Strukturen gesehen hat; nicht als „Nebenwiderspruch“, sondern in einer inneren Verschränkung von Patriarchat und Kapital. Die erstere, weil man durchaus die Frage stellen kann, ob die angestrebte Ent-Normierung nicht eine neue Form von Normierung ist. Denn die Auflösung von (traditionellen) Geschlechterrollen versetzt die Individuen in einen Zugzwang, was ihre Selbstdefinition angeht. Dies passt in das postmoderne Selbstverständnis des Menschen, wonach jede und jeder „des eigenen Glückes Schmied“ sei und sich ihren oder seinen Lebensentwurf kreativ, flexibel und „authentisch“ schaffen solle. Identitäten sollen als selbstgewählt erscheinen und stellen sich über „individuelle“ Stilkombinationen her.
Insbesondere queer-feministische Debatten betonen die Konstruktion des sozialen Geschlechts als „Gender“ (im Unterschied zum biologischen Geschlecht, englisch dem „Sex“) und weitergehend auch die des biologischen Geschlechts. Diese Konstruiertheit wird zum Anlass der Kritik genommen. Konstruiertheit wird hier mit Willkür übersetzt und zugleich mit einer repressiven Formierung von Menschen. Demgegenüber könnte man freilich ebenso argumentieren, dass auch die Angleichung der sozialen Geschlechter, also die Aufhebung der Unterschiede zwischen sozialen „Männern“ und „Frauen“, und die Ablösung der biologischen Geschlechtskonstruktion eine Konstruktion darstellt. Man könnte folgern, auch diese Konstruktion sei willkürlich und – je nach Prämissen – repressiv.
Die postmoderne Norm
Der Einwand liegt nahe, dass es ja nicht um eine zwangsweise Auflösung von traditionell erscheinenden Männer- und Frauenidentitäten gehe, sondern um eine Wahlfreiheit. Dennoch ist genau diese „Wahlfreiheit“ Teil einer eingrenzbaren Subjektkultur, also eines bestimmten, heute dominanten und als solches erneut (scheinbar) alternativlosen Menschenbildes. Darin erscheinen traditionelle Männer- und Frauenidentitäten per se als rückständig, rigide, unkreativ oder jedenfalls langweilig. Das Bild der „selbstbestimmten Geschlechtsidentität“ hebt sich positiv erst vor einem abgewerteten Bild einer „fremdbestimmten“, weil traditionellen Geschlechtsidentität ab.
Die Inhalte der „freien Wahl des Lebensentwurfs“ der postmodernen Identität erscheinen kontingent. Man kann zwischen einem Dasein als Single, Wochenendpaar, in klassischer Zweierbeziehung mit und ohne Kinder, als patchwork-Familie, in polyamoren Beziehungsnetzwerken, in romantischer oder a-romantischer Prägung, sexuell oder a-sexuell, mit homo-, hetero-, und bisexuellen Identitäten – oder all dies in wechselnder Folge „wählen“. Leitlinie dafür ist unter postmodernen Gesichtspunkten die „Authentizität“ und der „kreative Selbstentwurf“. Dabei handelt es sich jedoch zugleich mehr oder weniger insgeheim vor allem um denjenigen „authentischen Entwurf“, der kulturell oder subkulturell prämiert wird.
Während die Inhalte der „freien Wahl des Lebensentwurfs“ also scheinbar eine große Vielfalt erlauben, ist der Modus der „rationalen“ und zugleich „kreativen“ Wahl selbst für die typisch postmoderne Identität in der Tat alternativlos. Unter den Voraussetzungen der postmodernen Identität kann man nicht nicht wählen. Dabei beruht diese Identität gerade nicht auf einer „freien Wahl“, sondern erweist sich als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, die weit über bewusstes Wollen hinausreichen: von der Dominanz der Marktideologie, die entsprechend soziale Beziehungen als einen sozialen Markt konzipiert, bis hin zum Mediengebrauch. Das Internet etwa lässt kaum eine konzentrierte, an einem Werk orientierte und kohärente Verarbeitung von Inhalten zu. Diese Technologie führt unter den Bedingungen der postmodernen Lebenshaltung, Identität und Selbstkonzeption zu einer Praxis des Copy und Paste, zu einer rasch wechselnden „individuellen“ Kombination von Sinnfragmenten und zu einer explorativen (im Unterschied zu einer im engen Sinn ökonomischen) Wahl von Inhalten, die auf „authentische“ Weise neu und „kreativ“ arrangiert werden.
Jede Identität lebt von der Abgrenzung zu einem abgewerteten Außen. Von daher erweist sich, wie erwähnt, der scheinbar „fremdbestimmte Lebensentwurf“ als defizient und der Veränderung bedürftig. Von daher auch erscheinen beispielsweise starke emotionale Verhaftungen oder traditionsbezogene Nostalgien als pathologisch, willkürlich, oder in weiterer Folge als repressiv und zwangsförmig.
Wie in jeder Subjektkultur, die eine bestimmte Identität generiert, verschwindet der historisch spezifische Gehalt einer solchen Formierung und wird naturalisiert, wie der Soziologe Andreas Reckwitz in „Das hybride Subjekt“ ausführlich aufgezeigt hat. Wie in jeder Subjektkultur wird „der Mensch“ auch in der Postmoderne auf bestimmte Weise konzipiert, die scheinbar „der menschlichen Natur“ entspricht. Der Modus der „freien Wahl des Lebensentwurfs“ ist in dieser Konzeption daher genauso unhintergehbar wie das Befolgen traditioneller Rollenvorschriften und Selbstverständnisse in einer früheren Epoche. Zugleich wird, was der Mensch angeblich „von Natur aus ist“, als eine Anforderung implementiert. Kreativ und im Sinn der eigenen persönlichen „Entfaltung“ Geschlechtsidentitäten, Beziehungen und anderes zu „wählen“ ist selbst nicht Gegenstand einer „freien Wahl“, sondern eine kaum hinterfragbare Norm.
Dies zeigt sich nicht nur auf der Ebene von Geschlechterrollen, geschlechtlichen Zuschreibungen und Beziehungsverhältnissen, sondern ähnlich auch in den Arbeitsverhältnissen. Unter anderen kulturellen Bedingungen wurde das Verfolgen eines konzentrierten Lebenslaufs, der sich an traditionellen Vorgaben orientierte und von emotionalen Verhaftungen an ein Handwerk oder eine Kompetenz begleitet war, prämiert: als moralisch integer oder als einer sozialen Anpassung an die Standards einer Gruppe oder eines Standes verpflichtet. Unter postmodernen Bedingungen dagegen kann dies leicht als eine unkreative Rigidität, als realitätsfremde Borniertheit oder eine defizitäre Konventionalität erscheinen, welche die eigene employability bedroht.
Dies hat nicht mit einer so genannten Zumutung der „Freiheit“ zu tun, die notwendigerweise spezifische Anforderungen impliziere, deren sich „der Mensch“ als „reife“ oder „emanzipierte Persönlichkeit“ stellen müsse und auch könne. Vielmehr erweist sich die postmoderne „Wahlfreiheit“ unter den Voraussetzungen einer beständigen „Suche nach dem eigenen Selbst“ als eine rigide Tiefenstruktur. Diese bedeutet auch eine Reihe von Anforderungen oder Zumutungen. Allerdings nicht die einer historisch unspezifischen „Freiheit“, die eine „Emanzipation“ mit sich brächte.
Die Lust an der Identität
Wie in jeder Subjektkultur ist auch die postmoderne Identität keineswegs und immer nur offensichtlicher Zwang. Sie operiert stattdessen vorrangig mit einem Ideal-Ich, das ein Individuum anstrebt. Eine gelingende Identifikation mit dem Ideal-Ich wird als Lust oder Glück erlebt. Dieser Mechanismus stabilisiert die Anforderungen einer historisch bestimmten Identität und äußert sich als eine leidenschaftliche Verhaftung.
Folglich kann die Norm traditioneller Geschlechterrollen von bestimmtem Standpunkt aus betrachtet auch als eine Entlastung von „Wahlfreiheit“ oder vielleicht sogar als Voraussetzung von geschlechtlichen Beziehungen erscheinen, die „glücken“ – wenn dafür eine gewisse längerfristige Passung von Erwartungen für notwendig gehalten wird. Die bloß individuelle Aushandlung solcher Erwartungen kann dafür in der Tat kaum einen institutionellen Rahmen bieten. Und diese spezifische Norm kann als eine mögliche Quelle der Lust wahrgenommen werden, wie Robert Pfaller in „Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft“ meint: „Keine Identität lässt die Individuen jemals einfach mit sich selbst zufrieden; von jeglicher Identität gehen Forderungen aus. Sie lauten: ‚Wenn du das sein willst, dann musst du es so und so machen.‘“ – und er fährt fort: „Daraus ergeben sich in der älteren, schon fast in Vergessenheit geratenen Sprache die auffälligen, für die Differenz zwischen biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechterrolle aufschlussreichen Formulierungen wie ‚die Kunst, eine Frau zu sein‘ oder ‚sei ein Mann!‘ Zugleich deuten sie an, inwiefern aus der Auseinandersetzung mit der Identität Lust gewonnen werden kann: nämlich indem das, was der Identität entspricht, gut gemacht wird… Übrigens braucht man es dabei nicht bis zur Weltmeisterschaft zu bringen: Freude entsteht schon, wenn etwas heute besser gelingt als noch gestern.“
Anders als Pfaller meint, gelten diese seine Bemerkungen allerdings für die postmodernen flexibel-kreativen Identitäten ebenso wie für die von ihm favorisierten. Und anzumerken ist weiterhin, dass eine institutionalisierte Rollenerwartung sich freilich nicht in traditionell erscheinender Form darstellen muss. Der postmodernen Identität entspricht auf der Ebene von Liebesbeziehungen eine Rollenerwartung im Sinn einer „Kreativitätsgemeinschaft auf Zeit“, wie Andreas Reckwitz dies nennt. Diese Rollenerwartung ist mit besagter „Wahlfreiheit“ beschäftigt, die sich tief in davon geprägte Beziehungen einschreibt.
Davon abgesehen unterschätzt Pfaller womöglich die Tiefenstruktur der postmodernen Subjektkultur. Weil man in ihr nicht nicht wählen kann, kann auch ein scheinbar traditioneller „Rollenentwurf“ nicht länger traditionell sein, sondern erscheint als Gegenstand einer Wahl – für die Individuen, aber auch für die soziale Umwelt.
Andreas Reckwitz verweist entsprechend auf eine übergreifende kulturelle Problemstellung der Moderne überhaupt: nämlich die Frage der „richtigen Subjektform“, das heißt der „richtigen Art, ein Mensch zu sein“. Diese Frage war in früheren Zeiten nicht derart zentral und wurde in unterschiedlichen sozialen Gruppen je unterschiedlich beantwortet, ohne dass diese Strategien einer Universalisierung oder Naturalisierung ihrer Subjektkonzeptionen anstrebten. So betrachtet erweist sich die Moderne als kulturell homogener im Vergleich zu früheren Kulturepochen.
Die Fortschreibung des binären Geschlechtercodes
Tatsächlich scheint die symbolische Ordnung der Geschlechter als binäre Struktur von Mann und Frau auch in queer-feministischen Praktiken des Überschreitens von Geschlechtergrenzen und des Durchmischens von Gender-Attributen intakt. Männer sind heute in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften der Postmoderne „feminisiert“, wie Studien von beispielsweise Eva Illouz argumentieren. Und Frauen können heutzutage auch durchaus „viril“ auftreten. Figuren wie Conchita Wurst spielen zwar mit der strikten Trennung von „männlich“ und „weiblich“. Dennoch ändert das wenig an dem Umstand, dass Conchita als eine „Frau“ erscheint – da machen weder Bart noch biologisches Geschlecht einen großen Unterschied. Die Wirkmacht der binären Geschlechterordnung zeigt sich sogar noch bei biologisch androgynen Menschen. Trotz der uneindeutigen beziehungsweise biologisch eindeutig zwittrigen Merkmale wirken diese entweder eher „weiblich“ oder aber eher „männlich“. Auch in der fantasievollsten Kreation des „Gender-Bending“ ist es möglich und oft auch leicht, „weibliche“ und „männliche“ Genderattribute, Versatzstücke des sozialen Geschlechts zu unterscheiden.
Die binäre Geschlechterordnung scheint auch weitgehend unabhängig von der sexuellen Orientierung zu sein. Schwule Männer können eher „feminin“ oder eher „viril“ wirken, ebenso wie lesbische Frauen eher „feminin“ oder „burschikos“ und „männlich“.
Könnte eine weitere Verbreitung und gesellschaftliche Routinisierung des „Gender-Bending“ letztlich doch den binären Geschlechtercode auflösen? Wäre das eine „Befreiung“? Wenn ja, wovon? Und welche neuen „Zwänge“ könnten damit einhergehen?
Würde das „Gender-Bending“ und das „Queeren“ der sozialen Geschlechterrollen und Geschlechtsattribute dann noch das durchaus als lustvoll empfundene „Spielmaterial“ des „Weiblichen“ und des „Männlichen“ vorfinden, würde es tatsächlich zu einer Auflösung des binären Geschlechtercodes führen (können)?
Dabei wäre freilich zu bemerken, dass Gender, das soziale Geschlecht also, und der damit verkoppelte binäre Geschlechtercode durchaus nicht unbedingt universelle Kategorien aller Gesellschaften darstellen dürften – zumindest in der herausgehobenen, gesellschaftliche Verhältnisse strukturierenden Bedeutung wie im Westen. Jedenfalls wurde diese Kritik prominent von der afrikanischen Anthropologin Oyeronke Oyewumi formuliert. Sie verortet im westlichen Gender-Feminismus selbst eine problematische Universalisierung historisch spezifischer Kategorien, worunter ihrer Meinung nach die des Gender fällt. Dies analysiert sie mit Bezug auf die Yoruba-Gesellschaft in Nigeria.
Es wäre wohl erst noch eingehender zu untersuchen, ob der binäre Geschlechtercode universellen, kulturübergreifenden Charakter hat oder nicht. Während ein Ansatz strukturaler Anthropologie das nahelegen könnte, ist demgegenüber durchaus und erneut der Blick auf spezifische kulturelle Formungen scheinbar „natürlicher“ und „universeller Tatsachen“ zu richten. Festzustellen ist davon unabhängig allerdings, dass auch ein idealtypischer Ausdruck der postmodernen Subjektkultur, nämlich queer-feministische Praktiken, nicht eindeutig zu einer Auflösung dieses Codes geführt haben oder führen. Es scheint zudem (noch) unklar, ob diese Praktiken dazu grundsätzlich in der Lage sind.
Diesen Fragen kann hier im engeren Sinn nicht allzu weit gefolgt werden. Stattdessen soll es um ein Buch gehen, das 1990 erschienen ist und sozusagen einen Hintergrund für diese Fragestellungen liefern kann. Es handelt sich um den Sammelband „Frauenmacht ohne Herrschaft“, herausgegeben von Ute Luig und Ilse Lenz. Es geht darin um „Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften“.
Jenseits von Patriarchat und Matriarchat. Eine anthropologische tour d’horizon
Der Sammelband vereint Fallstudien zu verschiedenen nichtpatriarchalischen Gesellschaften, in denen Frauen und Männer mehr oder weniger gleichgestellt sind. Einzelne Untersuchungen befassen sich mit afrikanischen Wildbeutergesellschaften insbesondere am Beispiel der San in Namibia und Botswana, den Irokesinnen, Huronen, Hopi, den Zigua und Ngulu in Ost-Tansania, den Baule an der Elfenbeinküste, den Minangkabau in Westsumatra und schließlich auch mit Gesellschaften in Ozeanien. Darin werden detailliert die jeweiligen Geschlechterkonstruktionen und geschlechtlichen Machtbeziehungen analysiert.
Das Vorwort des Buches umreißt das erkenntnisleitende Interesse wie folgt: „Die neueren Untersuchungen zu nichtpatriarchalischen Gesellschaften bieten einen besonderen Zugang zu dem Verhältnis von Macht und Geschlecht, da hier Frauen in der Regel öffentlich und sichtbar Machtstrategien anwenden. Ihre Ergebnisse sind nicht einfach auf patriarchalische Verhältnisse zu übertragen, aber sie ermöglichen zumindest, von der ahistorischen Wahrnehmung abzugehen, Frauen hätten mit Macht nur als Opfer zu tun.“
Für eine Diskussion der einzelnen Fallstudien fehlt hier der Platz. Wichtiger ist an dieser Stelle dagegen die allgemeine Theorie der Geschlechtsegalität in historischen oder zeitgenössischen nichtpatriarchalischen Gesellschaften, die von den Autorinnen auf dieser Basis und mit Verweis darauf formuliert wird.
Als erster Ausgangspunkt dient dabei die Konzeption von vier möglichen Ausbildungen geschlechtsegalitärer Verhältnisse. Eine geschlechtliche Herrschaft – im Unterschied zu den immer existenten Machtbeziehungen und -strategien – fehlt demnach:
bei fehlender Differenzierung des sozialen Geschlechts. In diesem Fall stimmen die Ideologie, die Interessen und Aktivitäten der biologischen Geschlechter überein.
bei gegenseitiger Abhängigkeit. Hier verfolgen Frauen und Männer die gleichen Interessen und Aktivitäten, auch wenn sie in der Ideologie als ganz unterschiedlich definiert werden.
bei geschlechtlichem Parallelismus. Frauen und Männer haben unterschiedliche Interessen und Aktivitäten. Sie erscheinen daher ideologisch verschieden. Allerdings intervenieren sie nicht wechselseitig in die ihnen jeweils zugeschriebenen Lebensbereiche, sondern verfügen darüber autonom.
bei mythischer männlicher Vorherrschaft. In diesem Fall verhalten sich die biologischen Geschlechter öffentlich so, als hätten die Männer das Sagen. Frauen üben jedoch reale Macht aus.
Der Begriff der Geschlechtssymmetrie
Die Herausgeberinnen halten dieses Schema zur Einteilung von Gesellschaften für sinnvoll, weisen aber zugleich darauf hin, dass es zu abstrakt sei. In der Realität leben Geschlechter selten in völlig getrennten Sphären. Sie meinen weiters, dass Interessen und Ideologien selten einer binären Geschlechterordnung folgen. Damit kann man die Geschlechter auch nicht eindeutig als gleich oder unterschiedlich einstufen. Eine klare geschlechtliche Differenzierung gäbe es – wenn überhaupt – vor allem in Paarbeziehungen von Ehemann und Ehefrau.
Zentral ist die Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft für Lenz und Luig. Herrschaft gründe sich auf Gewalt, die als legitim anerkannt wird. Macht dagegen werde nicht als solche von Gewalt bestimmt. Sie kann vielmehr auf „der eigenständigen Verfügung über Land, den Körper, die Sexualität“ und anderem beruhen.
Die Herausgeberinnen sehen den Begriff der Geschlechtsegalität kritisch. Denn das Geschlechterverhältnis enthalte „gerade bei vormodernen Gruppen immer die mitgedachte Dimension der Differenz: die Frage, inwiefern trotz der Unterschiede gleichheitliche Verhältnisse fortbestehen; im ‚Geschlechtsegalitarismus‘ geht sie zugunsten der Gleichheit unter“. Sie sprechen daher von Geschlechtssymmetrie.
In geschlechtssymmetrischen Gesellschaften sei Macht polyzentrisch zwischen Männern und Frauen verteilt. Sie fließe in bestimmten sozialen Brennpunkten zusammen. Dadurch stelle sich eine Balance zwischen biologischen Frauen und Männern her, ohne dass ein einseitiges Dominanzverhältnis festzustellen sei.
Diese Sichtweise führt zu dem interessanten Schluss, dass die materielle Gleichheit relativ unwichtig sei. Geschlechtssymmetrisch können sowohl Gesellschaften sein, in denen sich Geschlechter in Bezug auf Arbeitsteilung und Normen kaum unterscheiden, als auch solche, wo die Geschlechter auf weitgehend getrennte Machtfelder verteilt sind.
Daraus folgt für Lenz und Luig: „Der Vorrang der Männer in der politischen Repräsentation bedeutet nicht notwendig, dass sie herrschen. Ebensowenig führt eine starke wirtschaftliche Position der Frauen zu Frauenherrschaft. Aus der Kontrolle verschiedener Machtfelder ergibt sich also eine Balance der diffusen und multifokalen Macht.“ Die Kontrolle der Machtfelder von Frauen und Männern erfolge über Institutionen, etwa Hausversammlungen, Nachbarschaftsberatungen und so fort. In welchen solcher Institutionen Frauen oder Männer jeweils führend sind, sei nicht entscheidend – „Wichtig ist vielmehr, dass sich ein Gleichgewicht ergibt“.
Abschließend halten die Herausgeberinnen drei Rahmenbedingungen von Geschlechtssymmetrie fest (wobei die ersten beiden Punkte sich überlappen):
Frauen und Männer haben entweder gleichen Zugang zu Machtfeldern oder sie kontrollieren vorrangig jeweils unterschiedliche Machtfelder. Beispielsweise können Frauen die wirtschaftlichen Ressourcen, Männer die politischen Prozesse kontrollieren.
Dadurch wird einseitige Kontrolle von Machtfeldern ausgeschlossen. Beispielsweise kann einer stärker repräsentativen politischen Rolle von Männern die Verfügungsmacht von Frauen über die Ernte gegenüberstehen.
Frauen und Männer haben Zugang zu den zentralen Institutionen, ohne dass diese Institutionen in einem hierarchischen Verhältnis stehen. Dies gilt insbesondere für Gesellschaften, in denen Frauen in von Männern getragenen Institutionen mitwirken oder umgekehrt.
Kehren wir zurück zur eingangs skizzierten Fragestellung dieses Artikels, so erscheint das Resümee der Herausgeberinnen nun in einem interessanten Licht. Die „unterschiedliche Verfügung der Geschlechter führt zu einer Balance, die sich in einer Symmetrie von verschiedenen Machtfeldern, wenn auch nicht in Gleichheit im Sinne einer Angleichung der verschiedenen Frauen- und Männerkulturen ausdrückt.“
Dabei beziehen Lenz und Luig diese Feststellung selbst auf die vom „Spiel der Differenzen“ geprägte, eingangs skizzierte postmoderne Subjektkultur, wenn sie schreiben: „Das Spannende an dem Konzept der Geschlechtssymmetrie ist, dass es offen für Unterschiede zwischen Frauen und Männern, zwischen Frauen und Frauen oder Männern unter sich ist, ohne dass daraus Diskriminierung oder Herrschaft folgen muss. So eröffnen geschlechtssymmetrische Gesellschaften eine geschichtliche Perspektive auf multifokal egalitäre Machtprozesse und auf ‚Geschlechtergleichheit‘ im lebendigen Spiel von Differenzen.“
Die Idee der Geschlechtsegalität im Kapitalismus
Die von Lenz und Luig versammelten und theoretisch ausgearbeiteten anthropologischen Untersuchungen können die eingangs skizzierten Debatten befruchten. Zum einen wird deutlich, dass im Rahmen solcher Debatten immer klarzulegen ist, ob es um geschlechtsegalitäre Verhältnisse oder um eine Geschlechtssymmetrie gehen soll. Zum anderen ist es möglich, im Anschluss an deren Überlegungen die Frage zu vertiefen, was „geschlechtliche Emanzipation“ jeweils ist oder sein soll und welche Voraussetzungen sie hat.
Die vorherrschende Diskussion dreht sich zunächst einmal um die Idee einer Geschlechtsegalität. Insbesondere in linken Zusammenhängen wird eine weitgehende Angleichung von Interessen und Aktivitäten von biologischen Frauen und Männern angestrebt. Möglicherweise ergibt sich diese spezifische Fassung von „geschlechtlicher Emanzipation“ unter anderem aus dem Umstand, dass anthropologische Befunde wenig bekannt sind, wonach es Gesellschaften gibt, die eine recht strikte Trennung von Rollenzuschreibungen an biologische Frauen und Männer auszeichnet, die aber dennoch Frauen und Männern die gleichen Einflussmöglichkeiten bieten. Allerdings mag dabei die Orientierung an der vom Kapitalismus beförderten – und teilweise ihm vorausgesetzten – Idee eines abstrakten und in dem Sinn geschlechtslosen Individuums von noch weit größerer Bedeutung sein. Das Individuum als reine Arbeitskraft, die der Verwertung von Kapital dient, ist als solches quasi ohne Geschlecht. Die vom Kapitalismus selbst produzierte Norm des abstrakten Individuums erscheint in einem zweiten Schritt als Ideal, mit dessen Hilfe die immer nur unzureichend durchgesetzte Norm kritisiert wird.
Dagegen kann eingewendet werden, dass bis heute der Haushalt und die so genannte Wirtschaft (also die kapitalistische Produktionsweise auf der Basis von Lohnarbeit) geschlechtlich konnotiert sind. Frauen werden mit dem Haushalt und darin wichtigen Qualitäten wie Zuwendung, Sorge, Zeitverausgabung identifiziert, Männer dagegen mit der kapitalistischen Wirtschaft und den damit unter anderen verbundenen Qualitäten von Konkurrenzfähigkeit, Rücksichtslosigkeit und einer Zeitsparlogik. So gesehen wäre das Geschlecht auch für den Kapitalismus von zentraler Bedeutung.
Dies scheint aber nicht unbedingt ein strukturelles Merkmal des Kapitalismus darzustellen. Der Trend zu einer Gleichverteilung von Hausarbeit deutet in Richtung auf eine weitere Angleichung der Geschlechter im postmodernen Kapitalismus – auch wenn reichere Haushalte vielfach weibliche Dienstbotenarbeitskraft zukaufen. Auch die von Eva Illouz und anderen festgestellte „Feminisierung“ des Mannes verweist darauf.
Ist die Koppelung von Patriarchat und Kapitalismus strukturell vorgegeben?
Wichtiger jedoch scheint in dem Zusammenhang der Befund von Lenz und Luig, dass allein die geschlechtliche Konnotierung bestimmter Sphären noch keine Geschlechtsasymmetrie nach sich zieht. Daran kann sich eine kapitalismuskritische Perspektive anschließen. Denn im Kapitalismus wird der Haushalt in der Tat aus strukturellen Gründen abgewertet, was sich in fehlender Entlohnung und einer symbolischen Geringschätzung äußert. Ob diese Geringschätzung im Kapitalismus notwendig und historisch unveränderlich mit der patriarchalen Ordnung der Geschlechter verknüpft sein muss, scheint dagegen wohl eher fraglich.
Ein empirischer Befund, der diese Problematisierung untermauern kann, stammt von der karibischen Insel Barbados. Constance Sutton und Susan Makiesky-Barrow haben eine Untersuchung dazu im Sammelband „Sexual Stratification“ veröffentlicht, den Alice Schlegel 1977 herausgegeben hat. Die frühere afrikanische Sklavenbevölkerung von Barbados kannte keine Trennung zwischen biologischen Frauen und Männern in der öffentlichen ökonomischen Sphäre der kapitalistischen Sklavenarbeit. Beide Geschlechter waren gleichermaßen darin einbezogen. Zugleich führte die strikte kulturelle Trennung zwischen weißer Herrscherklasse und der Sklavenbevölkerung zu einer ausgeprägten kulturellen Autonomie der letzteren. Geschlechterzuschreibungen im patriarchalen Sinn ergaben sich damit weder aus den Produktionsverhältnissen noch über den Weg einer Diffusion kultureller Muster aus der Ideologie der Herrschenden.
Dieser Befund irritiert, wie auch die Autorinnen betonen, denn „Barbados teilt mit westlichen Industrieländern eine kapitalistische Ökonomie mit einem gut entwickelten Arbeitsmarkt und einer ausgeprägten Trennung zwischen ‚häuslichen‘ und ‚öffentlichen‘ Sphären von Aktivitäten. Solche Verhältnisse werden als die Ursache eines Verlusts an Autonomie und öffentlicher Wertschätzung für Frauen identifiziert, ebenso wie für ihre abhängige Rolle innerhalb der Familie.“ Dieser Identifikation von kapitalistischen Produktionsverhältnissen und der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre mit der patriarchalen Geschlechterasymmetrie widerspricht jedoch die Realität in Barbados, wie die Autorinnen sie darstellen.
Die strukturellen Ursachen dafür, die in der früheren Sklavenökonomie und ihrer spezifischen Arbeitsteilung liegen, schrieben sich in ihren Auswirkungen jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Untersuchung Ende der 1970er Jahre fort: „Wir fanden heraus, dass die unabhängige Position von Frauen in einkommensgenerierenden Aktivitäten, verbunden mit ihren Positionen innerhalb des Verwandtschaftssystems die Basis ihrer Autonomie und ihrer Selbstachtung darstellen, ebenso wie für die Aufrechterhaltung einer relativ gleichgewichtigen Balance der Macht zwischen den Geschlechtern. Darüberhinaus arbeiten diese mit einer kulturellen Ideologie, die Frauen wie Männern ein ähnliches Set an positiv bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreibt und die Elternschaft und Sex als zwei höchst angesehene Erfahrungen definiert.“
Diese relativ gleichgewichtige Geschlechterbalance beruht allerdings nicht zuletzt auf einer anderen Konzeption des Individuums als im Westen: „Im Kontrast zum westlichen Konzept individueller Autonomie und Gleichheit, das eine Ablösung von sozialen Bindungen impliziert, verbindet sich das afro-karibische wie auch das afro-amerikanische Konzept von Autonomie mit einer starken Empfindung interpersoneller Verbundenheit – einer Verquickung mit den Leben anderer.“
Man könnte gegen eine allzu hohe Bewertung dieses Befundes einwenden, dass Ausnahmen eben die Regel eines patriarchalen Kapitalismus bestätigen. Allerdings wäre das ein Einwand auf einer empirischen Ebene. Die Argumentation eines engen, notwendigen und unwandelbaren Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und Patriarchat beruht demgegenüber auf einem theoretisch-strukturellen Argument. Dafür erweist sich auch ein einzelner empirischer Gegenbefund als problematisch.
Was ist geschlechtliche Emanzipation?
Die zweite Fragestellung betrifft nun das Wesen der „geschlechtlichen Emanzipation“, das den Debatten geschlechtlicher Ungleichheit jeweils unterlegt wird. Gerade ein konstruktivistischer Zugang, der nicht von einem unwandelbaren, natürlich vorgegebenen „Wesen des Menschen“ oder der biologischen Geschlechter ausgeht, kommt schwer darum herum: gleich ob die biologischen Geschlechter gesellschaftlich mit relativ strikt getrennten Rollen, Sphären und Attributen versehen werden, oder ob sie den binären Geschlechtercode je individuell flexibel interpretieren und seine Elemente kombinieren und arrangieren können – immer handelt es sich um gesellschaftliche Konstruktionen.
Damit wird es aber schwierig, umstandslos von einer „Emanzipation“ im Sinn einer „Befreiung“ eines „Wesens des Menschen“ zu sprechen – und sei es eines „Wesens“ als „selbstbestimmt wählendes“ und „Identität frei konstruierendes“.
Ob die eine oder die andere Konstruktion als wünschenswert betrachtet wird, hängt zunächst einmal von spezifischen Subjektkulturen, also historisch bestimmten Selbstverständnissen des Menschen ab. Diese Wünsche legitimieren sich regelmäßig in der Diktion von „Zwang“ versus „Freiheit“. In einer konstruktivistischen Perspektive aber wird eine solche Unterscheidung schwierig, die sich aus den Subjektkulturen, also den Selbstverständnissen von Menschen ergibt. Diese Selbstverständnisse werden immer in gesellschaftlichen Praktiken, im Mediengebrauch, in Arbeits- und Intimbeziehungen und so fort hergestellt. In ihnen kommt kein unverrückbares „Wesen“ zum Ausdruck, das „befreit“ oder „unterdrückt“ werden kann, sondern es kommt dabei vielmehr zu einer spezifischen Modellierung „des Menschen“. Weder „befreit“ sich im postmodernen „Queeren“ von Geschlechterattributen ein „geschlechtsloser Mensch“ in der „selbstbestimmten“ Wahl ihrer oder seiner Geschlechtsidentität noch „befreit“ eine traditionelle Geschlechterordnung eine biologisch determinierte Geschlechterrolle.
Wäre es möglich, den Gedanken der „geschlechtlichen Emanzipation“ an das Leiden an einer bestimmten Geschlechterordnung rückzubinden?
Das läge nahe, aber auch hier sind Antworten komplex. Ein Individuum kann einerseits unter dem postmodernen „Zwang“ zur „selbstbestimmten“ Wahl von Geschlechtsidentitäten und der Kombination von Versatzstücken der traditionellen Geschlechterrollen leiden – etwa an der damit einhergehenden Flexibilisierung, Prekarisierung oder der dann mitunter fragilen Wahrnehmung eines „authentischen Selbst“, das im Verein mit der beständigen „persönlichen Entwicklung“ eine Anforderung an den postmodernen Menschen darstellt. Dieser Mensch soll „sich selbst entfalten“, aber zugleich flexibel mit Stilelementen umgehen, um einen bestimmten äußeren Schein zu erzeugen, der erstens als „authentisch“, zweitens an der „künstlichen“, kreativ gestalteten Oberfläche als stilsicher und damit souverän gilt. Diese zwei Pole können in Widerspruch treten, der als Leiden erfahren werden kann. Denn die „individuelle Authentizität“ des Selbst soll auch im „Inneren“ so empfunden werden, unabhängig von aller äußerlichen Zurschaustellung am sozialen Markt der Identitäten. Zugleich gilt nicht jede individuelle Kreation als stilsicher und damit als sozial nachgefragt, auch wenn sie als „authentisch“ entwickelt und innerlich erlebt wird.
Andererseits ist solches Leiden offenkundig auch in einer mehr traditionellen oder nicht-modernen Geschlechterordnung möglich. Gerade die Fallstudien im Sammelband von Lenz und Luig verweisen auf den möglichen Mangel einer Passung zwischen individuellen Abweichungen, Strebungen und Eigenheiten und der gesellschaftlich vorgegebenen, uniformen Rolle für das jeweilige biologische Geschlecht. Dies gilt jedenfalls für solche geschlechtssymmetrische Gesellschaften mit einer Differenzierung der Geschlechterrollen und deren Verteilung auf relativ getrennte Lebenssphären.
Vielleicht ist diese Form von Leiden – also abgesehen von den krassen Verhältnissen ökonomischer und politischer Ungleichheit insbesondere im heutigen Kapitalismus – unvermeidlich und ein Konstituens der menschlich-gesellschaftlichen Existenz; möglicherweise weil Herrschaft historisch keineswegs zwangsläufig existiert, Macht im oben beschriebenen Sinn jedoch untrennbar mit dieser Existenz verbunden ist.
Permanente Dekonstruktion?
Diese Überlegung bedeutet, dass auch reformistische Gleichstellungspolitiken notwendig sind, und eine herrschaftsförmige Gesellschaft wie die kapitalistische abgelöst werden müsste. Diese Überlegung bedeutet jedoch davon abgesehen auch, dass die Frage der „richtigen Art ein Mensch zu sein“ sich weniger leicht an Narrative der „Emanzipation“ anschließen lässt. Konstruktionen von Identität gehen immer mit Normen und in diesem Sinn mit Zwängen einher. Dort, wo sie sich als universell darstellen oder umsetzen wollen, werden sie tendenziell alternativlos – rufen freilich auch immer wieder Gegenbewegungen hervor. Die postmoderne Identität fällt nicht aus diesem Rahmen, sondern schreibt ihn – für diese Identität in schwer erkennbarer Form – fort. Der Ansatz einer Dekonstruktion scheinbarer Naturgegebenheiten erweist sich demgegenüber weiterhin als „emanzipatorisch“, allerdings sollte er gerade vor der in der Postmoderne prämierten im weiteren Sinne „queeren“ Identität nicht Halt machen.
Ein dekonstruktivistischer Ansatz vermeidet eine Identifikation mit scheinbar „traditionellen“ oder vorgeblich „wirklich modernen“ oder „emanzipatorischen“ Formen eines sich universalisierenden Selbstverständnisses. Darin liegt sein kritischer Gehalt. So ist „der Mensch“ etwa weder „von Natur aus bisexuell“ noch „heterosexuell“. Auch ist „der Mensch“, was Foucault gezeigt hat, nicht einmal ein „von Natur aus sexuelles Wesen“, oder eines, das sich über „Sexualität“ immer und überall bestimmt (hat). Daraus würde weniger eine „Befreiung der Sexualität“, als eine „Befreiung von der Sexualität“ folgen. Ähnlich wäre womöglich weniger eine „Befreiung der Identität“, sondern eine vom Zwang zur Identifizierung – und sei es eine subkulturelle – anzustreben. Wir wissen schlicht nicht, was „der Mensch“ in kultureller Hinsicht ist. Wir machen uns selbst. Indes lässt sich diese auch ethische Frage in Termini der „Wahlfreiheit“ kaum behandeln.
Wäre auch eine Gesellschaft denkbar, in der „Sexualität ‚einfach so sein‘“ könnte, wie Roswitha Scholz in „Das Geschlecht des Kapitalismus“ schreibt? Sie führt dazu weiter aus: „Erst in einer post-patriarchalen, post-warenförmigen, post-zwangsheterosexuellen Gesellschaft könnte sich jedoch die Verkrampfung lösen, in Zwangssexualitäten überhaupt zu denken, zu fühlen und zu existieren.“
Einiges scheint dafür zu sprechen – allerdings würde „Sexualität“ auch in einer solchen Gesellschaft nicht „einfach so“ existieren.