Die gesellschaftliche Emanzipation wird zumeist als eine Sache des Kopfes aufgefasst. Ich solle doch kognitiv einsehen, dass der Kapitalismus abgeschafft gehört, argumentiert die Linke. Dabei manifestieren sich die alltäglichen Leiden vor allem körperlich: als Schmerzen, Depressionen, Schlaflosigkeit, Unruhe, Angst usw. Das Problem ist nicht, das Leiden am Kapitalismus zu spüren, das Problem ist, es mir nicht als bloß mein individuelles Problem zuzuschreiben. Oder wahlweise externen Schuldigen. Hat die Linke körperliche Emanzipationsvorstellungen – so sie solche nicht ohnehin unter das Utopieverbot stellt? Kann ich die Emanzipation schon ahnungsvoll erfühlen oder muss ich mich knechten bis die Revolution uns und unsere Körper erlöst?
Im Kapitalismus setzen wir uns permanent auf Kosten von anderen durch – ob wir dies wollen oder nicht. Emanzipation bedeutet, diese strukturell naheliegende und nahegelegte Handlungsmatrix der Exklusion durch eine Strukturlogik der Inklusion aufzuheben, bei der die je individuelle Entfaltung die Voraussetzung der Entfaltung aller anderen ist – und umgekehrt. Die freie Entfaltung der Individualität ist dabei immer auch die freie Körperentfaltung. Letztere ist Ergebnis und Voraussetzung der ersteren.
Unmittelbar-sinnliche wie auch vermittelt-diskursive Erfahrungen schreiben sich in unsere Körper ein, sowohl mental (Gehirn) als auch in unseren ganzen Körper (Muskeln, Knochen, Sehnen usw.). Wir sind unsere eigene materialisierte Biografie. Pierre Bourdieu nennt die gesellschaftlich-vermittelten eingeschriebenen Körpererfahrungen der Stile, Moden, Sprachen, Gewohnheiten und Bewegungen Habitus bzw. Hexis. Die Disziplinierung der Körper funktioniert direkter als die Disziplinierung der Gehirne. Wir haben den Kapitalismus körperlich verinnerlicht: Wir sind der Kapitalismus, den wir schaffen und der uns schafft – im doppelten Sinne des Wortes.
Die fremde wie eigene Körperwahrnehmung im real existierenden Kapitalismus ist geschlechtlich und exklusionslogisch strukturiert. In der „männlich“ präformierten Sphäre der Produktion/Öffentlichkeit erfährt die dominante vermittelt-diskursive Schöpfung von Welt gesellschaftlich eine höhere Anerkennung als die der „weiblich“ präformierten abgespaltenen Sphäre der Reproduktion/Privatheit zugewiesene unmittelbar-sinnliche Erfahrung. Manifeste Exklusionen – denen wir unterliegen und die wir vollziehen – erleben wir als herrschaftsförmige Nichtung unseres physischen und psychischen Seins, von Wohlbefinden, Gesundheit und Lebenserwartung, von Freude, Anerkennung und Aufgehobenheit.
Doch Herrschaft richtet sich nicht nur gegen andere, sondern auch gegen uns selbst. Unser Körper gehört nicht uns, sondern unser Körper ist Instrument für einen dritten Zweck. Die gesellschaftlich präformierte Instrumentalität unterscheidet sich dabei geschlechtlich. Die männlich-beherrschende Fremd- und Selbstwahrnehmung sieht im Körper ein Werkzeug für einen operativen Zweck („Ich habe einen Körper“), während die weiblich-identifikatorische Fremd- und Selbstsicht den Körper herrichtet, um ihn zweckgerichtet zu präsentieren und einzusetzen („Ich bin mein Körper“). Diese nahegelegten Weisen der instrumentellen Fremd- und Selbstwahrnehmung sind effektive Mittel der Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung. Im Neoliberalismus lösen sich zwar die Geschlechtergrenzen zunehmend auf, doch die Selbstunterwerfung bleibt und intensiviert sich in dem Maße, wie die gesellschaftlichen Anforderungen verinnerlicht werden. Fremd- und Selbstbestimmung lassen sich nicht mehr unterscheiden.
Emanziption als Prozess der Aufhebung des Kapitalismus ist der qualitative Übergang von der exklusions- in eine inklusionslogisch strukturierte Produktionsweise, ist gleichzeitig der Prozess der Aufhebung der gesellschaftlich vermittelten Körpereinschreibungen des Kapitalismus. Der so verstandene Commonismus hebt die Sphärenspaltung zwischen Produktion/Öffentlichkeit und Reproduktion/Privatheit sowie die damit verbundenen geschlechtlich und exklusionslogisch strukturierten Fremd- und Selbstwahrnehmungen des Körpers auf.
Emanzipation ist damit auch der Prozess des Umlernens der gesellschaftlich vermittelten Körpereinschreibungen. Neue unmittelbar-sinnliche wie vermittelt-diskursive Körpererfahrungen sind das Medium, in dem das Umlernen stattfinden kann. Sie sind wesentlich von neuen Formen der gesellschaftlichen Herstellung unserer Lebensbedingungen bestimmt. Ohne eine neue inklusionslogisch strukturierte Produktionsweise keine Aufhebung der gesellschaftlich vermittelten Körpereinschreibungen des Kapitalismus. Ohne Umlernen restriktiver Körpereinschreibungen keine neue Produktionsweise.
Mitunter wird das Befassen mit dem Körper, ein Hineinspüren in den eigenen Körper, ein Wahrnehmen der körperlichen Befindlichkeit, ein Ernstnehmen körperlichen Widerwillens und Anstreben körperlichen Wohlbefindens unter Esoterik-Verdacht gestellt. Riesig ist der Markt der Wohlfühl- und Erleuchtungsangebote. Doch diese isolieren den Körper von der Welt, sie legen die Illusion nahe, ein unentfremdetes und ungebrochenes Beisichsein sei allein individuell oder in überschaubaren Gemeinschaften mental wie körperlich erreichbar. Der verständliche Wunsch nach Kompensation kapitalistischer Zumutungen treibt jedoch die bürgerliche Trennung von Individuum und Gesellschaft auf die Spitze.
Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Existenz bedeutet, dass wir immer auch die Gesellschaft sind, in der wir leben. Wir können sie nicht „draußen“ lassen, um einen „inneren“ Wohlfühlraum zu imaginieren. Weder das Abschneiden der Individualität von der Gesellschaft noch die Privilegierung der Gesellschaft gegenüber den Individuen erreicht die Emanzipation. Unsere Körper sind Quelle der Erkenntnis und Medium der Veränderung, und es gibt hier kein erst – dann: „Erst die Gesellschaft verändern und dann uns selbst“ – oder umgekehrt.
Der Commonismus ist keine bloße Idee, sondern die Bewegung der Aufhebung der geschlechtlich und exklusionslogisch strukturierten Spaltungen des Kapitalismus. Überlassen wir unsere Körperlichkeit nicht der Esoterik.