von Roger Behrens
In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird die Jeans Angestelltenmode, casual wear, was mit der Transformation der Angestelltenkultur zu einer casual culture einhergeht. Ebenso, wie die Jeans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die fordistische Gesellschaft repräsentierte, repräsentiert sie nun die postfordistische Gesellschaft: sie wird endgültig von einer Arbeitshose zur Freizeithose. Jeans als Stoff wird zur Textur des Pop; mehr noch: die Jeanshosen sind nicht länger Attribut des Pop, sondern sie sind Pop – als symbolische Substanz bzw. substanzielles Symbol. Jeans wird ein Muster, ein Pattern, das heißt, sie bildet eine Oberfläche, die nun nicht länger „mit Tiefe verwechselt wird“ (Adorno), sondern eben einfach bloß Oberfläche ist – kein Wesen, keine Existenz und keine Essenz verbirgt sich hinter oder unter oder in der Jeans. Als Ware wird die Jeans zum identitären Unikat, ohne jedoch in dieser Identität exakt zu sein.
Die Eindeutigkeit, mit der die Jugendlichen des Rock ’n’ Roll die Jeans getragen haben, das Authentische, mit der die Jeans Zivilisation (siehe das Cover von Bob Dylan, „The Freewheelin’ Bob Dylan“, 1963) und Eros (siehe das Cover zu Rolling Stones’ „Sticky Fingers“, 1971) bezeichnete, verschwindet mehr und mehr in den Siebzigern, dem Jahrzehnt des bunten Plastiks. Dass in der „postindustriellen Gesellschaft“ die alten Wahrheiten verunsichert werden und Wissen durch Information ersetzt wird, charakterisiert nun den Pop: die Mode, speziell die Jeans, ist kein (eindeutiges) Wissen mehr, sondern bloß noch eine (womöglich vieldeutige) Information. Buchstäblich wird die Jeans zum Kunststoff.
Und die, von denen zu erwarten wäre, dass sie eigentlich Jeans tragen sollten, tragen schon keine mehr – oder zerstören sie, statt sie mit Stolz zu zeigen: Die Punks haben zerschlissene Jacketts an, dazu eingerissene Jeanshosen, die manche an einigen Stellen oder ganz mit ätzenden Reinigungsmitteln entfärbt haben. Ohnehin dient kaum noch die Jeans der symbolischen Distinktion; die Jeans kann jetzt von allen getragen werden, bedient jetzt alle möglichen Teil- und Subkulturen, gleich ob Punk oder Disco, Heavy Metall oder New Wave: Jeans ist die Mode der Jugend und Jugendlichkeit schlechthin. Auch die Ewings in der TV-Serie „Dallas“ tragen Jeans, ebenso die ersten Hardcore-Bands. Die Jeans verändert ihre Form – von der Schlaghose zur Karotte. In einer Vielzahl von Schnitten präsentiert sich die Jeans als Frauenhose; in neuer Farbe kann sie zum Symbol des Feminismus werden. Die Jeans ist mehr als Hose, allgemeiner Stoff der Mode – und schon werden die ersten Jeans-Kollektionen unmodern; darüber hinaus sind nun zahllose Dinge zu haben, die wie Jeans aussehen, aber nicht aus Jeans sind (Verpackungen, Tüten, Plastiktaschen werden in Jeans-Optik bedruckt etc.).
Die Jeans gehört als Mode zu einem Sozialcharakter, der sich in den siebziger und achtziger Jahren unter dem Vorzeichen einer umfassenden Individualisierung konstituiert: nicht als Individuum im Sinne der klassischen Formen bürgerlicher Subjektivität, sondern als Konsument. Politisch ist dieser Sozialcharakter durch die Idee bestimmt, die kritisch unter dem Stichwort der Autonomie (Selbstverwirklichung, Selbstbehauptung, Selbstbestimmung) formuliert wird, sich allerdings allgemein in der konservativen Variante unter Reagan, Thatcher und Kohl durchsetzt – im Appell an jeden Einzelnen, für sich selbst verantwortlich zu sein und sich selbst zu regieren. Die Postmoderne formiert sich als Ideologie des Neoliberalismus.
Bruce Springsteen singt 1984 „Born in the U.S.A.“. Ein Song über das trostlose Leben eines Vietnam-Veteranen. Es ist ein weißer Song, der sich bei den Schemen „schwarzer Musik“ bedient; Rhythm-&-Blues wird hier auf ein fast schon grotesk überzogenes Stampfen reduziert, ein Beat, der den Refrain nachgerade ins Ohr einhämmert: ein patriotischer Appell, eine nationale Parole (und das erste Mal wird in der Popmusikgeschichte ein Song in seiner Botschaft derart missverständlich und uneindeutig: weil er nationalistisch ist, ohne nationalistisch sein zu wollen; obwohl man nicht müde wird zu betonen, dass Springsteen – „The Boss“ – die Stimme der amerikanischen Arbeiterklasse ist, verhandelt er soziale Verhältnisse eben in „Born in the U.S.A.“ nicht als Klassenverhältnisse, sondern im diskursiven Referenzfeld des Patriotismus). – Als demokratischer Popstar ist Springsteen kein Demokrat. Es kommt nicht von ungefähr, dass Ronald Reagan den Song als Hymne für seinen Wahlkampf haben wollte.
Springsteens „Born in the U.S.A.“ ist der Titelsong seines gleichnamigen Albums. Im Musikvideo – Regie John Sayles, der im selben Jahr auch „The Brother from another Planet“ drehte – sieht man abwechselnd Springsteen im Konzert und zusammen mit Vietnam-Veteranen; am Ende steht er vor der Flagge der USA. Dasselbe Motiv verwendet Annie Leibovitz für das Cover des „Born in the U.S.A.“-Albums und das Cover der dazugehörigen Single. Die Bilder gehören zu einer Serie von Fotografien, für die Leibovitz damals als Fotografin berühmt war: sie verbrachte einige Tage mit den Leuten, um eine persönliche Nähe herzustellen, die auch in den Bildern sich widerspiegeln sollte; die Aufnahmen wirkten so „locker“, „gelassen“, „echt“, nicht künstlich. Bruce Springsteen spielt die Gitarre, springt in die Luft – der authentische Rockstar. So posiert er vor der US-Flagge auf dem Cover der Single. Das Album-Cover zeigt seinen Torso von hinten, in der rechten Hosentasche eine rote Baseball-Kappe. Er trägt ein weißes T-Shirt – und Blue Jeans. Leibovitz’ Fotografie von Spingsteens Jeans-Hintern vor der US-Flagge gilt als „pop icon“.
„Blue jeans and a T-shirt have been described as the ‚casual uniform‘“, heißt es auf der englischen Wikipedia-Seite zum Schlagwort „Casual“. Die Jeans wird zum Element kollektiver nationaler Identität. Stars and Stripes sind das Hintergrundbild der demokratischen Ästhetisierung der Politik.