von Tomasz Konicz
Kein Abgrund scheint größer als der zwischen den Steinzeitislamisten des Islamischen Staates (IS) und den liberalen Zentren des kapitalistischen Weltsystems, in denen keinen Göttern, sondern dem freien Mark gehuldigt wird. Und dennoch kommen etliche Beobachter im Westen nicht umhin, die evidenten Ähnlichkeiten bei Organisationsformen, Strukturen und Öffentlichkeitsarbeit zwischen der Terrortruppe und dem Rückgrat der westlichen „freien“ Marktwirtschaft, den transnationalen Großkonzernen, zu bemerken.
Der IS operiere wie ein „multinationales Unternehmen“, titelte etwa der britische The Telegraph (1), während die in Wirtschaftsfragen bewanderte Financial Times (2) zu der Schlussfolgerung gelangte, das Dschihadisten-Netzwerk strebe letztendlich danach, „Terror zu verkaufen“.
Der IS sei kein Konzern und habe keine Aktionäre, aber die militärischen Erfolge und die Brutalität der Dschihadisten im Irak seien „auf einem Niveau der Präzision festgehalten worden“, das zumeist der Buchführung von Konzernen vorbehalten sei, so die Financial Times. In regelrechten Jahresberichten lege der IS detailliert Rechenschaft ab über die Fortschritte seiner Terrorkampagne. Ein ehemaliger Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes MI6 kommentierte: „Sie produzieren sie nahezu wie ein Konzern, mit Details über Märtyrer-Operationen und Ziele. Du kannst hier eine klare umfassende Struktur, Planung und Strategie in der Organisation erkennen.“
Die Direktorin des US-Thinktanks Institute for the Study of War, Jessica Lewis, erläuterte gegenüber The Telegraph: „Sie haben einen Geschäftsplan und ihr primäres Geschäftsfeld besteht in Expansion durch Eroberung. Es ist eine sehr effektive Institution und das macht sie zu einem sehr effektiven militärisch-nationalen Konzern.“
Beide Zeitungen berufen sich auf eine Analyse des Institute for the Study of War, bei der die „al-Naba“ genannten Jahresberichte des IS eingehend untersucht wurden, die für die „Geschäftsjahre“ 2012 und 2013 erstellt und der interessierten Öffentlichkeit zur Einsicht vorgelegt wurden.
Wie es für ein Unternehmen üblich ist, stehen hierbei vor allem Zahlen im Mittelpunkt. In professionell erstellten und seriös anmutenden Infografiken werden die Fortschritte des IS bei seiner Terrorkampagne im Irak dokumentiert.
Der interessierte Leser kann so einer gediegenen Grafik entnehmen, die in ihrer Aufmachung den Public-Relations-Abteilungen westlicher Unternehmen entsprungen sein könnte, dass IS im vergangenen Geschäftsjahr 2013 (das von November 2012 bis November 2013 reichte) exakt 7681 militärische Operationen im Irak durchführte; hierunter fielen 1083 Mordanschläge, 607 Mörserattacken, 1015 Sprengstoffangriffe gegen Häuser und Gebetsräume von Ungläubigen, 537 Autobomben oder 238 Selbstmordanschläge (160 mit „Selbstmordwesten“, 78 mit Fahrzeugen durchgeführt). Etwas vage wurden lediglich die Anzahl „vertriebener Schiiten“ und „bekehrter Ungläubiger“, mit jeweils „mehr als 100“ angegeben.
Wer es genauer wissen will, dem bietet die Öffentlichkeitsabteilung des IS in den Jahresberichten auch eine detaillierte Darstellung der einzelnen Kategorien von Terrorakten dieses Terrorkonzerns. So können wir erfahren, dass der IS im Jahre 2013 beispielsweise über 887 Panzerfäuste, 359 Mörser oder 633 Handfeuerwaffen verfügte. Bei den genannten Zahlen soll es sich „nicht um reine Propaganda halten“, erklärte ein Analyst des Institute for the Study of War. Ein großer Teil des Zahlenmaterials konnte – durch Vergleich mit Zweitquellen – „bekräftigt“ werden. Der menschenverachtende Irrsinn, der in dieser rund 400 Seiten starken Terrorstatistik zusammengefasst ist, hat durchaus Methode. Der IS wolle durch diese Jahresberichte „neue Geldgeber gewinnen“ und seine zunehmende strukturelle Effizienz demonstrieren, urteilt das Institute for the Study of War. Letztendlich fungieren diese „Geldgeber“ also doch als eine Art von Anteilseignern, die mit einer möglichst guten Performance bei Laune gehalten werden müssen – ansonsten könnten womöglich die Kapitalzuflüsse verebben.
Ein weiterer Beweggrund, mit konzernartigen „Jahresberichten“ für Finanzmittel zu werben, wird bei einem Blick auf das Zielpublikum dieser Machwerke ersichtlich. Es handelt sich überwiegend um reiche Geschäftsmänner aus den Golfdespotien der arabischen Halbinsel, denen so umfangreiches Informationsmaterial zu Hand gegeben wird, das sich in seiner Aufmachung nicht wesentlich von den Hochglanzbroschüren unterscheidet, die für gewöhnlich um Investitionen im Erdölsektor oder in der Energiewirtschaft werben.
Der Nahostexperte Michael Lüders spricht gegenüber der Deutschen Welle (DW) von einer „ambivalenten Haltung“ Saudi-Arabiens gegenüber dem IS (3). Die saudische Regierung selber unterstützt den IS nicht direkt. Aber insbesondere reiche saudische Geschäftsleute lassen ihnen Geld zukommen. Wie viel, ist unklar. Und soweit es zu ermitteln ist, machen es arabische Geschäftsleute aus anderen Golfstaaten ebenso. Jene, die den IS unterstützen, sehen ihn als ein Bollwerk gegen die Schiiten und die von Schiiten geführte Regierung des Iran.
Ein Teil der Einnahmen der Golfstaaten aus dem Erdöl, mit dem die Aufrechterhaltung des Autowahns in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems ermöglicht wird, fließt somit an die Terrormilizen in dessen peripheren Zusammenbruchsregionen. Die Deviseneinnahmen für das Erdöl, das in den Tanks sprithungriger SUVs verfeuert wird, wandeln sich so mittelbar in die „Produkte“ dieses Terrorkonzerns: In geköpfte „Ungläubige“, in Flüchtlingselend, abgehackte Hände, archaischen Tugendterror, gesprengte Moscheen und Kirchen, vergewaltigte Frauen und Kinder.
Diese Investitionen aus den despotischen Theokratien der Golfregion haben sich offensichtlich ausgezahlt. Mit der Einnahme von Mossul und der Expansion in weiten Teilen Iraks und Syriens ist der IS zur weltweit mit weiten Abstand vermögendsten Terrorgruppe aufgestiegen. Rund 425 Millionen US-Dollar sollen die Dschihadisten bei Plünderung der Zentralbank von Mosul eingenommen haben.
Da der Terrorkonzern bereits vor der Einnahme von Mossul über Vermögenswerte von rund 875 Millionen US-Dollar verfügte, sollen sich diese durch „Bankraub und erbeutete Militärvorräte“ im Zuge der erfolgreichen Offensive nun auf rund zwei Milliarden US-Dollar summieren.
Der IS betreibt somit eine erfolgreiche Plünderungsökonomie im vom Staatszerfall voll erfassten Zweistromland, bei der die „Kriegsbeute“ den Treibstoff weiterer militärischer Expansion liefert. Geplündert und verscherbelt wird von den Islamisten auch das historische Erbe des Zweistromlandes, das als eine der Wiegen der Zivilisation bezeichnet werden kann.
Archäologische Stätten und Museen werden von den Milizionären nach wertvollen Artefakten durchsucht, um diese anschließend auf dem Schwarzmarkt feilzubieten. Die Einnahmen aus diesem Geschäftsfeld beliefen sich auf Dutzende von Millionen US-Dollar. Allein die Plünderung einer einzigen Ausgrabungsstätte in Syrien soll 36 Millionen US-Dollar in die Kassen der Gotteskrieger gespült haben.
Daneben ist die Terrortruppe längst auch auf klassischen Geschäftsfeldern präsent, sodass sie der „Anschubfinanzierung“ durch reiche Gönner aus den Golfdespotien kaum noch bedarf. Der IS kontrolliert inzwischen viele Ölfelder in Syrien und dem Irak, die der Gruppe stattliche Einnahmen aus dem grassierenden Ölschmuggel in der Region verschaffen. Letzteres soll allerdings inzwischen durch die Bombardements der US-Luftwaffe bereits eingeschränkt worden sein.
Ein weiteres Feld für Kapitalakkumulation erschloss der Terrorkonzern IS in allen möglichen Formen der organisierten Kriminalität – Mafiosi sind ja nichts anderes als Unternehmer, deren Produkte und Dienstleistungen (Drogen, Waffen, Auftragsmorde, Entführungen, Menschenschmuggel etc.) illegal sind und die sich folglich auf gänzlich unregulierten Märken bewegen. Ist das nicht letztendlich der Wunschtraum eines jeden Neoliberalen? Die Grenzen zwischen mafiosen Strukturen und islamistischem Tugendterror sind im Nahen Osten folglich fließend. Der IS sei immer weniger auf die Zuwendungen reicher Spender angewiesen, da nun ein großer Teil der Einnahmen aus „kriminellen Aktivitäten“ generiert würde, erläuterte die Zeitschrift Foreign Policy (4). Hierzu zählen Schutzgelderpressung (als „Steuern“ bezeichnet), Schmuggel (Öl, Drogen), Entführungen, Banküberfälle oder Geldwäsche. Allein die „Barreserven“ des Terrorkonzerns, die aus diesen klassischen Mafia-Tätigkeiten resultieren, sollen sich auf „bis zu 500 Millionen US-Dollar“ belaufen.
Die New York Times sieht in der zunehmenden „Kommerzialisierung“ islamistischer Terrornetzwerke gar einen globalen Trend (5), der von den Taliban mit ihrer Heroinindustrie begründet und vom IS auf die Spitze getrieben wurde. Al-Qaida im Maghreb, Boko Haram oder die somalischen Shabab-Milizen würden „lokale Gelegenheiten zum Geldverdienen“ immer besser nutzen. Hierzu zählten Entführungen, Schmuggel, Geldwäsche, Schutzgelder oder Überfälle und Plünderungen. Der IS sei inzwischen dazu übergegangen, eine regelrechte „Kriegsökonomie“ aufzubauen, bei der die Kontrolle über die Überreste der lokalen Ölindustrie und der „Ausverkauf des Eigentums und der Ausrüstung“ der kollabierten Regierungen Einnahmen generieren würden. Dieses „auf Profiterzielung ausgerichtete Militanzmodell“ habe der Milizbildung auf der ganzen Welt „neues Leben eingehaucht“.
Und tatsächlich verwandeln diese ungeheuren Finanzmittel den IS in ein organisatorisches Gravitationszentrum in der gesamten Region, das Islamisten, Milizionäre und perspektivlose Jugendliche gleichermaßen anzieht. Die Terrorgruppe kann sich bereits jetzt eine riesige Armee schlicht zusammenkaufen. In der Ukraine kostet ein Milizionär rund 1000 US-Dollar monatlich.
Im Nahen Osten sind die Preise aufgrund des weitaus größeren Elendsniveaus niedriger, wie ein Nahost-Analyst in der Washington Post vorrechnete (6): Zum Beispiel könnte der IS für 425 Millionen US-Dollar über ein ganzes Jahr hinweg 60.000 Kämpfern monatlich 600 US-Dollar zahlen. Eine Ausbildung der neu rekrutierten Kämpfer ist oftmals nicht nötig, da inzwischen ganze Verbände kampferfahrener rivalisierender Gruppierungen zu den in Bargeld schwimmenden Gotteskriegern des „Islamischen Staats“ übergelaufen sind.
Für viele marginalisierte Jugendliche in der ökonomisch danieder liegenden Region stellt eine „Karriere“ beim „Islamischen Staat“ die schlicht einzige nennenswerte Perspektive dar, um Elend und Hunger zu entgehen. Spiegel-Online (7) berichtete etwa von einem jugendlichen IS-Milizionär aus einem verarmten konservativen Stadtteil von Istanbul, der sich den Islamisten angeschlossen hat, nachdem man ihm „400 Dollar im Monat“ versprochen habe.
Ein für den IS kämpfender Milizionär aus Syrien nannte im Interview mit Welt-Online (8) ausdrücklich den gerüchteweise verbreiteten Reichtum der Gotteskrieger als einen wichtigen Grund für deren erfolgreiche Rekrutierungskampagne: „Angeblich bekamen die Kämpfer zur Hochzeit Zehntausende Dollar. Viele sollen einen BMW X5 fahren.“ Diese Aussage verdeutlich den postmoderne Gemütszustand vieler jugendlicher Dschihadisten, der kaum noch Ähnlichkeiten mit der klassischen islamischen Religion aufweist: Sie möchten in einem Luxusaschlitten zurück in die Steinzeit fahren.
Doch es sind ja auch westliche Länder, die als wichtige Rekrutierungsfelder für den IS fungieren. Rund 3000 Dschihadisten aus Westeuropa, den USA, Kanada und Australien sollen in den Reihen des Islamischen Staates kämpfen. Von den etwa 31 500 Kämpfern, die sich diesem Terrorgebilde angeschlossen haben sollen, ist somit rund ein Drittel im Ausland – zumeist vermittels einer ausgefeilten Anwerbungskampagne – rekrutiert worden (9).
Ein in den kurdischen Autonomiegebieten Syriens gefangen genommener Selbstmordattentäter des IS berichtete gegenüber Medienvertretern von einem beständigen Zustrom von Dschihad-Touristen aus aller Welt, die sich den Kampfverbänden dieser Terrorarmee anschließen würden (10): „Dort sind Nationalitäten aus aller Welt vertreten. Es sind viele Briten darunter. Sie kommen aus asiatischen Ländern, aus Europa und Amerika. Sie kommen von überall her.“
Der IS stellt somit gewissermaßen ein barbarisches Nebenprodukt der krisenhaften kapitalistischen Globalisierung dar. Hierbei handelt es sich gerade nicht um eine autochthone, traditionalistische und aus den regionalen Sippenverbänden und „Stämmen“ hervorgegangene Aufstandsbewegung, sondern um eine im höchsten Maße globalisierte Besatzungsarmee, die sich in den sozioökonomischen und politischen Zusammenbruchsregionen des Zweistromlandes konstituierte. Deswegen massakriert der Islamische Staat nicht nur „Ungläubige“, sondern auch Sunniten, die sich dieser Fremdherrschaft zu widersetzen wagen. An die 700 Mitglieder eines sunnitischen Sippenverbandes in Ostsyrien wurden vom IS Mitte August 2014 buchstäblich abgeschlachtet, nachdem deren Stammesführer den Dschihadisten die Gefolgschaft verweigerten.
Worin aber besteht das Wesen dieser „Fremdherrschaft“, die eine – zumindest in ihrer Führungsriege – größtenteils zugereiste Dschihadistentruppe in dieser Zusammenbruchsregion zu errichten trachtet? Die eingangs erwähnten Parallelen zwischen dem IS und Konzernstrukturen liefern bei der Beantwortung dieser Frage entscheidende Hinweise. Das, was sich im Zweistromland in Gestalt des IS materialisiert, ist tatsächlich eine bitterböse Karikatur, ein Negativ der effizientesten Organisationsform, die der Spätkapitalismus hervorgebracht hat: der transnationalen Großkonzerne. Der Islamische Staat stellt eine hocheffiziente Geldmaschine dar, die durch Einnahmen aus Ölschmuggel und sonstigen Geschäftsfeldern der Organisierten Kriminalität einen permanenten Strom von Geldzuflüssen erzeugen kann.
Dieser Terrorkonzern, der die besagten „Geschäftsberichte“ publiziert, verfügt über eine hocheffiziente interne Befehlsstruktur und eine sehr effektive Militärmaschine, er unterhält eine professionelle Public-Relations-Abteilung, die sich sehr erfolgreich der Rekrutierung neuer Mitglieder widmet – und er übt sich im „Lean Management“ der eroberten Gebiete, deren Verwaltung lokalen Würdenträgern überlassen wird, sofern sie dem „Kalifat“ Treue schwören und Gefolgschaft leisten. Die internationalen Verflechtungen dieser dschihadistischen „Geldmaschine“ beschränken sich nicht nur auf dessen Mitgliederstruktur, auch die Anschubfinanzierung des IS erfolgte ja über die besagten internationalen Finanzzuwendungen reicher Sponsoren aus den Golfstaaten.
Der wichtigste Unterschied zwischen dem global agierenden Konzern und dem Islamischen Staat besteht aber darin, dass für die transnationalen Konzerne die Akkumulation von Kapital den Selbstzweck ihrer gesamten Tätigkeit bildet. Alle Verwüstungen und Zerstörungen, die der Spätkapitalismus den Menschen und der Umwelt antut, bilden nur Nebenprodukte des blinden und uferlosen Strebens nach Kapitalverwertung, worin der irrationale Kern der kapitalistischen Produktionsweise nun einmal besteht.
Für den Islamischen Staat stellt die Kapitalakkumulation hingegen nur ein Mittel zu einem anderen irrationalen Zweck dar, der in einem möglichst effizienten Vernichtungs- und Zerstörungswerk besteht. Nichts anderes stellen die besagten „Geschäftsberichte“ des IS dar, es sind Auflistungen der erfolgreichen Terroroperationen dieses „Unternehmens“. Die implizite Tendenz zur Selbstzerstörung, die dem Kapitalismus innewohnt, tritt beim IS somit offen zutage, sie wird explizit.
Der Islamische Staat nutzt die effektivsten Organisationsformen und rationellsten Methoden, die der krisengeplagte Spätkapitalismus hervorbrachte, um ein irres, ein wahnsinniges Ziel zu verfolgen: die buchstäbliche Auslöschung aller Ungläubigen. Spätestens hier wird eine Parallele zu dem bisher größten Zivilisationsbruch der Weltgeschichte, dem Vernichtungswerk des deutschen Nationalsozialismus, offensichtlich. Auch die Nazis bedienten sich der damals modernsten Organisationsformen und Methoden, um mit Auschwitz eine fordistische Todesfabrik zu erschaffen, deren fließbandartig hergestelltes „Produkt“ in dem aus den Krematorien aufsteigenden Rauch verbrannter Menschenleiber bestand.
So wie die Nazis im rassistischen Wahn eine effiziente negative Fabrik der Menschenvernichtung errichteten, um die Welt von Juden, Roma, slawischen Untermenschen oder Bolschewisten zu „säubern“, so konstituiert sich der IS in der Organisationsform eines negativen Konzerns, um sein irres Ziel eines religiös reinen Weltkalifats zu verfolgen. Die instrumentelle Rationalität und ökonomistische Vernunft des westlichen Kapitalismus, die zwecks effizientester Kapitalakkumulation immer weiter vervollkommnet wird, schlägt so in den Händen des IS in nackte Barbarei um.
Im Terrorkonzern, den der Islamische Staat errichtet, widerspiegelt sich die krisenhafte Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung. Inzwischen scheinen sich erste Franchisenehmer auf dem globalisierten Terrormarkt einzufinden, die das massenmörderische Erfolgsrezept des IS zu kopieren versuchen. Eine zweite Welle der Globalisierung der dschihadistischen Barbarei setzt ein. Die „wachsende Popularität“ des IS in Südostasien könnte langfristige Sicherheitsbedrohungen nach sich ziehen, warnte etwa Aljazeera Mitte Juli 2014 (11).
Tatsächlich hat sich auf den Philippinen kürzlich die Terrorgruppe Abu Sayyaf dem Islamischen Staat angeschlossen. Die westafrikanischen Dschihadisten der Boko Haram, die laut Neewsweek ein „Territorium von der Größe Irlands“ kontrollieren, bemühen sich ebenfalls, mit der Ausrufung ihres afrikanischen „Kalifats“ das Vorgehen des IS zu imitieren (12).
Um was konkurrieren die Terrorgruppen auf dem globalen Terrormarkt? Neben den Finanzzuwendungen vermögender Sponsoren aus den Despotien der arabischen Halbinsel ist es vor allem die Ware, die der Spätkapitalismus im Überfluss ausscheidet: Menschen. Viele der spektakulären Angriffe und Aktionen des IS – wie etwa die kurzfristige Okkupierung der Talsperre bei Mossul – zielen gerade auf einen propagandistischen Effekt ab, mit dem die Rekrutierung neuen Menschenmaterials beschleunigt werden soll. Mit Erfolg, wie eine US-Studie belegt. Demnach haben insbesondere die afghanischen Taliban, die unter enormen militärischen Druck geraten sind, einen herben Exodus ausländischer Kämpfer verzeichnen müssen, die nun gen Syrien und Irak aufbrechen, um sich den dortigen Dschihadisten anzuschließen (13): „Kämpfer aus Usbekistan, China und Tschetschenien haben kaum Chancen, in ihre Heimatländer zurückzukehren, aber sie wissen, dass sie in Syrien und dem Irak willkommen sind, wo Jabhat al-Nusra und der Islamische Staat gegen den syrischen Präsidenten Assad, gegeneinander, und im Falle des Islamisches Staates, gegen Kurden, Irakis und sogar den Iran kämpfen.“
Es ist ein Eingeständnis des völligen Scheiterns des brutalen westlichen „Krieges gegen den Terror“, der letztendlich unter Anwendung terroristischer Methoden geführt wurde. Nach rund 13 Jahren hat sich eine global agierende Schicht von Zehntausenden heimatlosen Gotteskämpfern herausgebildet, deren Heimat der „Heilige Krieg“ ist. Im Gegensatz zum global agierenden Al-Kaida-Netzwerk ist diese neue Generation von Dschihadisten aber bemüht, in den Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes Territorien zu erobern und zu halten, um ihr Wahngebilde eines weltumspannenden Kalifats zu verwirklichen.
Zurückgreifen kann der in Geld schwimmende Islamische Staat dabei, wie dargelegt, auf die Heerscharen ökonomisch „überflüssiger“ junger Männer, die in der Peripherie – und zunehmend auch in den Zentren – des kapitalistischen Weltsystems ein marginalisiertes und elendes Dasein fristen.
Eine Studie des Verfassungsschutzes, in der die Lebensläufe der knapp 400 aus Deutschland in den „Heiligen Krieg“ gezogenen Islamisten beleuchtet wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass sich größtenteils marginalisierte Muslime den Dschihadisten angeschlossen haben (14). Einer geregelten Beschäftigung waren nur 12 Prozent dieser Gotteskrieger nachgegangen, die überwältigende Mehrheit hiervon war im Niedriglohnsektor beschäftigt. Nur sechs Prozent hatten eine Ausbildung absolviert, zwei Prozent ein Studium. Rund ein Drittel dieser Islamisten war schon zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten, größtenteils im Zusammenhang mit ghettoüblicher Kleinkriminalität. Bei der Mehrheit der Ausgereisten handelte es sich somit um Angehörige der Unterschicht, die unter prekären Lebensbedingungen in den informellen Ausländerghettos der Bundesrepublik ein marginalisiertes Leben am Rande der Legalität fristen – bis sie schließlich in die Fänge der Salafistenszene geraten.
Bezeichnend ist, dass nur in 23 Prozent der Fälle die Eltern dieser Gotteskrieger einen fundamentalistischen Islam praktizierten. Ein Paradebeispiel für eine solche Karriere vom kleinkriminellen Ghettokid zum Gotteskrieger stellt der Rapper Denis Cuspert dar, der inzwischen in den engeren Führungszirkel des IS aufgestiegen sein soll.
Es sind gerade keine traditionsbehafteten Muslime, die da in den Terrorkrieg ziehen, wie auch Tarfa Baghajati, Obmann der Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen, in einem Interview mit Radio Free Europe erläuterte. Es gebe eine Reihe von Faktoren, auf die die Rekrutierungserfolge des IS in Europa zurückzuführen seien, so Baghajati: „Am beachtenswertesten ist erstens, dass die jungen Leute, die sich diesen Gruppen anschließen, zuvor keine starken Bindungen an den Islam und andere Muslime hatten. Sie haben nie Moscheen besucht und einige von ihnen wussten zuvor gar nicht, wie man betet. Deswegen ist ihre religiöse Erfahrung sehr stark emotionsgeladen. (…) Der zweite Faktor besteht darin, dass diese jungen Menschen sich nicht als Teil der westlichen Gesellschaft sehen. Sie haben es nicht vermocht, sich positiv einzubringen. Zudem gibt es auch Diskriminierung und indirekte Verfolgung gegen den Islam und Muslime, die unter dem Begriff Islamophobie zusammengefasst wird.“
Die vom IS rekrutieren Muslime aus den Westen sehen sich nicht als Teil dieser Gesellschaften, weil sie es nicht sind, weil sie durch ökonomische Marginalisierung und zunehmenden Rassismus von der kriselnden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen sind. Der europaweit krisenbedingt zunehmende Rassismus und Rechtsextremismus, der sich in den Wahlerfolgen der AfD, der britischen UKIP oder des französischen Front National manifestiert, zielt ja letztendlich auf den ökonomischen Ausschluss derjenigen Gruppen, die nicht als Teil der „Volksgemeinschaft“ verstanden werden („Arbeitsplätze zuerst für Deutsche“). Der Rechtsextremismus, der den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen propagiert, stellt somit eine ideologische Waffe im krisenbedingt zunehmenden Konkurrenzkampf dar. Es verwundert somit nicht, dass der IS das europaweit größte Kontingent an Kämpfern in Frankreich, im krisengeplagten Land der Banlieues und des Front National, rekrutieren konnte (15).
Die Hinwendung zum extremistischen Islam unter europäischen Muslimen stellt eine Parallelentwicklung zu dem krisenbedingt zunehmenden Rechtsextremismus in Europa dar. Der militante und terroristische Dschihadismus stellt letztendlich eine religiös verbrämte Modifikation des Rechtsextremismus, eine Art postmodernen und globalisierten Klerikalfaschismus dar. Während im Westen die nationale Identität als ein Nährboden dient, aus dem rechtsextreme und faschistische Ideologien erwachsen, fungiert im arabischen Kulturkreis die Religion als eben dieser Nährboden, der Vernichtungsfantasien hervorbringt.
Die Kategorie der Rasse, die in Europa die faschistische Vernichtungswut befeuerte, wurde im klerikalfaschistischen Dschihadismus durch die Kategorie des „Ungläubigen“ ersetzt. Sowohl der Islamismus wie der europäische Rechtsextremismus stellen zudem einen Extremismus der Mitte dar, der die in der Gesellschaft dominierenden ideologischen Vorstellungen und Anschauungen ins geschlossene weltanschauliche Extrem treibt. Im Fall des Islamismus ist es die Religion, die in der „Mitte“ der arabischen Gesellschaften eine hegemoniale Stellung einnimmt, beim Rechtsextremismus ist es die längst zu einem ökonomistischen Standortdenken mutierte nationale Identität, die ins Extrem getrieben wird. Beide Ideologien können zudem als postmodern bezeichnet werden, da sie einen ideellen Ausfluss der Krise und des Scheiterns der kapitalistischen Moderne darstellen.
Der islamistische „Extremismus der Mitte“ kann letztendlich auch als eine Abart des Klerikalfaschismus begriffen werden. Faschismus – ob nun der deutsche Nationalsozialismus, Francos katholischer Faschismus in Spanien, oder die faschistische Diktatur Pinochets in Chile – stellt eine offen terroristische Krisenform kapitalistischer Herrschaft dar. Rechtsextreme und faschistische Tendenzen gewinnen immer dann an Dynamik, wenn die bürgerlich-liberale kapitalistische Gesellschaft in eine ökonomische oder politische Krise gerät, die das Fortbestehen des Gesamtsystems gefährdet oder auch nur zu gefährden scheint (Weltwirtschaftskrise 1929, Sieg der Volksfront 1936 in Spanien oder Allendes Wahlerfolg 1970 in Chile).
Ob nun in Europas Metropolen, oder in den Zusammenbruchsregionen des Zweistromlandes – der Konstitutionsprozess des rassistischen wie des klerikalen Rechtsextremismus verläuft in sehr ähnlichen Bahnen. In Reaktion auf Krisenerschütterungen, auf das Auseinanderbrechen der bestehenden Gesellschaftsordnung setzt oftmals eine verstärkte Identitätsproduktion in den betroffenen Gesellschaften ein. Wenn alles in Fluss, in Unordnung gerät, suchen die autoritär disponierten Individuen Halt – und den finden sie nur noch in der Identität, in dem, was sie scheinbar sind: Deutscher, Franzose, Sunnit, Schiit. Die Angst vor der Zukunft und den unverstandenen Umbrüchen führt zu einer Sehnsucht nach früheren, als idyllisch imaginierten Gesellschaftszuständen; sei es der rassereine Nationalstaat oder das frühmittelalterliche Kalifat.
Der große Selbstbetrug bei dieser Hinwendung zur Identitätspolitik besteht selbstverständlich darin, dass diese Identitäten sich ja nur in Wechselwirkung mit der kriselnden kapitalistischen Gesellschaft konstituieren und somit nur identitärer Ausdruck des spätkapitalistischen Krisenprozesses sind. Das, was unter „deutscher Identität“ in der gegenwärtigen Deutschland AG landläufig verstanden wird, hat recht wenig zu tun mit den Deutschlandvorstellungen des frühen Kaiserreichs oder gar mit denen der Paulskirchenversammlung.
Dasselbe gilt für den Islam, der gerade im frühen Mittelalter oftmals viel toleranter war, als es die gegenwärtigen Gotteskrieger und postmodernen Kalifatsbauer je wahrhaben wollten. Es reicht hier, etwa daran zu erinnern, dass die Juden Spaniens in der Frühphase der maurischen Herrschaft (von 711 bis zum Zusammenbruch des Kalifats von Córdoba 1031) weitgehende Religionsfreiheit und Rechtssicherheit genossen; vertrieben wurden sie erst durch die „Katholischen Könige“ nach der endgültigen Reconquista 1492.
Die autoritären Dispositionen, die den Rechtsextremismus arabischer wie europäischer Prägung gleichermaßen antreiben, werden schon im Kleinkindalter in der patriarchalen oder kleinbürgerlichen Familie erworben, die der Psychoanalytiker Wilhelm Reich in seiner 1933 erschienenen Studie „Massenpsychologie des Faschismus“ als die „Keimzelle des autoritären Staates“ bezeichnete.
Der Staat und die Kirche setzten die in der autoritär-patriarchalen Familie eingeleitete autoritäre Strukturierung des Individuums fort. Zentral sei hierbei die Sexualunterdrückung, so Reich: „Die autoritäre Strukturierung des Menschen erfolgt (…) zentral durch Verankerung sexueller Hemmung und Angst am lebendigen Material sexueller Antriebe. (…) Ist nämlich die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus.“
Diese in Hinblick auf den deutschen Nationalsozialismus gemachten Beobachtungen treffen aber offenbar auch die Lebensrealität vieler Menschen in den krisengeplagten arabischen Ländern. Es ist nicht nur die bestialische Behandlung „erbeuteter“ Frauen durch Kämpfer des Islamischen Staates, in der sich der durch Sexualverdrängung konstituierte „brutale Sadismus“ äußert, auch die brutalen Übergriffe auf Frauen während des Aufstandes in Ägypten wurden durch diese sexuelle Frustration befeuert.
Der Islam verbietet strikt vorehelichen Sex, doch zugleich bringt die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft eine Heerschaar ökonomisch überflüssiger junger Menschen im arabischen Raum hervor, die sich die Gründung einer Familie schlicht nicht leisten können. Die ideologisch durch den Islamismus aufgenötigte Sexualverdrängung führt somit angesichts der sich zuspitzenden Krise zu dem überschäumenden Hass auf Frauen, deren Anblick der Islamist nur unter Vollverschleierung ertragen kann, ohne von seinem zum bloßen Sadismus degenerierten Sexualtrieb übermannt zu werden.
Somit wird klar: Der barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung kommt im extremistischen Islamismus wie im Rechtsextremismus zum Vorschein. Auf die Gräuel des Islamischen Staates blickend, schaut die westliche Wertegemeinschaft in ihren Spiegel. Nichts wäre verkehrter, als den von beiden extremistischen Seiten proklamierten „Kampf der Kulturen“ für bare Münze zu nehmen. Die westliche Kultur stellt keinen positiven Gegenpol zum dschihadistischen Wahnsinn dar. Die liberalen westlichen Zentren des kapitalistischen Weltsystems schwitzen in der gegenwärtigen Systemkrise sowohl den Rechtsextremismus wie den Islamismus aus.
Offensichtlich ist dies auf der geopolitischen Ebene, wo die politische, finanzielle oder militärische Unterstützung des Dschihadismus seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts – als islamistische Fundamentalisten mit Unterstützung des Westens in den Heiligen Krieg gegen den gottlosen Kommunismus in Afghanistan zogen – zum Fundus westlicher Geopolitik gehört. Ein gewisser Osama Bin Laden hat seine ersten militärischen Erfahrungen unter den Fittichen der CIA in Afghanistan machen können.
Saudi-Arabien, das wohl brutalste fundamentalistische Regime der Welt, ist ein enger Verbündeter des Westens, der mit milliardenschweren Waffenlieferungen hochgerüstet wird. Der Westen gleicht in seinem Windmühlenkampf gegen den islamischen Fundamentalismus nun dem berüchtigten Zauberlehrling, der die Geister, die er zwecks geopolitischer Instrumentalisierung in der vom Staatszerfall ergriffen Region herbeirief, nun nicht mehr loswird.
Doch es ist vor allem die von den Zentren ausgehende und die Peripherie verwüstende ökonomische Krise, die erst die Heerscharen ökonomisch überflüssiger junger Männer hervorbringt, die mangels Perspektiven bereit sind, sich dem Todeskult der Dischihadisten anzuschließen. Das mühselige Überleben in der Hölle der Zusammenbruchsökonomien Iraks, Syriens oder Afghanistans ist für immer mehr Menschen dermaßen unerträglich, dass sie bereit sind, dieses gegen die illusorische Aussicht auf ein jenseitiges Paradies zu tauschen.
Schließlich sind die ideologischen und identitären Reflexe auf diesen Krisenprozess im Abend- wie im Morgenland sehr ähnlich gelagert. Es findet eine autoritäre Rückbesinnung auf die religiöse oder nationale Identität statt, die vorhandene nationale oder religiöse Anschauungen ins ideologische Extrem treibt und zu einer militanten Mobilisierung gegen äußere Feindbilder oder innere Abweichler führt. Der Islamismus ist – genauso wie der Rechtsextremismus – ein Produkt der Weltkrise des Kapitals.
Anmerkungen:
(1) Isis operating like a multinational company, The Telegraph, 19.06.2014
(2) Selling terror: how Isis details its brutality, Finantial Times 17.06.2014
(3) Saudi stance toward ISIS is divided, dw.de, 04.07.2014
(4) ISIS Uses Mafia Tactics to Fund Its Own Operations Without Help From Persian Gulf Donors, foreignpolicy.com, 17.06.2014
(5) In Iraq and Syria, ISIS Militants Are Flush With Funds, New York Times, 28.06.2014
(6) ISIS just stole $425 million and became the ‚world‘s richest terrorist group, Washington Post, 12.06.2014
(7) Dschihadisten aus der Türkei: Verführung zum „Heiligen Krieg“, SPON, 10.07.2014
(8) Gespräch mit einem Isis-Massenmörder, welt.de, 10.07.2014
(9) „Islamischer Staat“: CIA berichtet von mehr als 30.000 IS-Kämpfern, SPON, 12.9.2014
(10) Captured IS Suicide Bomber Reveals Threat, sky.com, 1.9.2014
(11) Islamic State‘s support spreads into Asia, aljazeera.com, 19.7.2014
(12) Boko Haram Seek to Imitate ‚Inspirational‘ Islamic State and Establish African Caliphate, neewsweek.com, 9.11.2014
(13) Taliban losing to ISIS in battle to recruit foreign fighters, foxnews.com, 3.9.2014
(14) Deutsche IS-Kämpfer – ungebildet, jung, vorbestraft, welt.de, 11.09.2014 (15) Hollande says 700 from France fighting in Syria, alarabiya.net, 14.1.2014
Aus: BIG Business Crime Nr. 1/2015