Generation Sarrazin

Eine kurze Skizze der Genese der neuen deutschen Rechten

Es sind quälende 70 Minuten, die jeder Youtube-User über sich ergehen lassen kann, der „Pegida: Die Interviews in voller Länge“ in das Suchfeld dieser Videoplattform eintippt und sich das ungeschnittene Rohmaterial mit Interviews von Pegida-Anhängern anschaut, das ein Reporterteam des NDR-Politmagazins Panorama ins Netz stellte. Panorama entschloss sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt, nachdem ein als Provokateur agierender Undercover-Mann von RTL sich unter die Interviewpartner des Reporterteams mischte und Vorwürfe einer manipulativen Darstellung dieser Aussagen in einer Panorama-Reportage laut wurden. Bei Durchsicht des Materials wird aber offensichtlich, dass die Aussagen des RTL-Provokateurs zu den zurückhaltendsten und vorsichtigsten xenophoben Äußerungen gehören, während viele der „echten“ Pegida-Anhänger offensichtlich Mühe haben, ihren Hass und ihre Wut überhaupt noch im Zaum zu halten.
Von daher stellen die Interviews eine der wenigen Gelegenheiten dar, Einblicke in das Weltbild einer rechtsextremen Bewegung zu erhalten, deren Gefolgschaft sich für gewöhnlich jeglicher Analyse ihrer Wahnvorstellungen verweigert – frei nach dem Motto: „Mein Wahn gehört mir.“ Zwei ressentimentgeladene Argumentationsstränge fallen bei den Interviews sofort auf: einerseits die Klagen über zu niedrige Löhne und Renten, über die zunehmende Prekarisierung und soziale Zerfallstendenzen, für die ausnahmslos „die Ausländer“ verantwortlich gemacht werden, und anderseits die felsenfeste Überzeugung, Deutschland sei ein okkupiertes und ferngesteuertes Land.

Das reicht von der unwillig gemurmelten Bemerkung, dass „Deutschland kein souveränes Land“ wäre, bis zum offen antisemitischen – und mit frenetischem Applaus der umstehenden Kundgebungsteilnehmer bedachten – Elaborat, dem zufolge die Befehle für die Politelite der BRD „aus Washington und Tel Aviv“ kämen. Haarsträubend die Offenheit, mit der von Hungerrenten lebende Rentner sich über gut gelaunte „Ausländer“ empören, die sie auf Bahnfahrten zu ihren mies bezahlten Jobs, mit denen sie sich über Wasser halten müssen, anzutreffen glauben. Zivil und bürgerlich wirkende Frauen im mittleren Alter brüllen unter Beifall, die Grenzen müssten endlich „dichtgemacht“ werden, da einem sonst die Haare vom Kopf geklaut würden. Die Klagen über die sich verschlechternden sozioökonomischen Bedingungen gehen nahtlos in das xenophobe oder antisemitische Ressentiment über.
Alles Böse und Schlechte kommt von außen, während die Nation – oder, bei fortgeschrittener Wahnbildung, wieder die Volksgemeinschaft – als potenziell harmonisch und widerspruchsfrei imaginiert wird. Und wenn dieser neuen deutschen Rechten – die selbstverständlich ihre fixen Ideen und Obsessionen mit dem Interesse „Deutschlands“ gleichsetzt – die Regierungspolitik nicht passt, dann muss eben auch die Politelite von außen gelenkt sein.

Mobilisierung von Ressentiments

Woher kommt diese anscheinend so urplötzlich auftretende rechtsextreme Bewegung, die sich in rebellischer Pose über die „Lügenpresse“ empört und mit dem politischen Establishment der BRD abzurechnen gedenkt? Dem Großteil der Funktionseliten der BRD kommt diese Entwicklung – zumindest derzeit – offensichtlich ungelegen. Vom wenig erfolgreichen Ignorieren reichen deren uneinheitliche Reaktionen über Einbindungsversuche und Diskussionsangebote bis hin zu mehr oder minder eindeutigen Verurteilungen dieses neurechten Anlaufs, wieder die Straßen und die gesellschaftliche Hegemonie zu erobern.

Ein Blick in die Archive der als „Lügenpresse“ titulierten Mainstreammedien kann erste Anhaltspunkte zur Genese der neuen deutschen Rechten liefern. Die Berliner Republik erlebte nach der Wiedervereinigung vier große, durch die Massenmedien gezielt forcierte Mobilisierungen von Ressentiments, mit denen spezifische politische Ziele verfolgt wurden. Als ein informeller Gründungsakt der Berliner Republik kann die weitgehende Einschränkung des Asylrechts Anfang der 90er Jahre bezeichnet werden, die mit einer Pogromwelle, rassistisch motivierten Morden und einer durch Politik und Medien forcierten Hetzkampagne gegen „Asylmissbrauch“ einherging. Das war die hassgeschwängerte Zeit, in der Flüchtlingsunterkünfte und Migranten brannten, während Massenmedien – allen voran der Spiegel, dessen Ausgabe vom 9. September 1991 ein überfülltes, von einer Menschenflut bedrohtes, schwarz-rot-goldenes Boot illustrierte – und weite Teile der Politelite, hier vor allem die CDU, eine „Das Boot ist voll“-Rhetorik pflegten, um Widerstände bei der Erringung der für eine Grundgesetzänderung notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit zu brechen. Dass auch die deutsche „Linke“ Ressentiments mobilisieren kann, zeigte der von Rot-Grün geführte Kosovo-Krieg 1999, als eine wüste antiserbische Hetze – die mit Menschenrechtsrhetorik angereichert wurde – den ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begleitete.

Den entscheidenden Einschnitt, der die BRD in einen regelrechten Untertanenstaat verwandelte, markierte aber die Durchsetzung der Agenda 2010 und der Hartz-Arbeitsgesetze. Die drakonische Verschärfung der Arbeitsgesetze und die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die zu massiver Reallohnabsenkung, dem Aufbau des europaweit größten Niedriglohnsektors und einer allgemeinen Verschärfung der Arbeitsregimes führten, wurden mit einer beispiellosen Hetzkampagne gegen marginalisierte Bevölkerungsschichten erkauft: Die BILD-Kreation „Florida-Rolf“, die massenmediale Suche nach „Deutschlands frechsten Arbeitslosen“, des Kanzlers Ausspruch, es gebe „kein Recht auf Faulheit“, und Münteferings Todesdrohung „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ bilden den braunen Ausfluss dieser Kampagne.
Während der Eurokrise, als die BRD der restlichen Eurozone ihr verhängnisvolles Sparregime oktroyierte, musste dieser eingespielte ideologische Mechanismus – bei dem die Krisenverlierer zu Krisenverursachern gestempelt werden – nur noch nach „außen“, auf Südeuropa projiziert werden. Die ideologische Personifizierung der Krisenursachen erfolgte nun nicht mehr anhand schmarotzender Arbeitsloser, sondern durch das Konstrukt des faulen und verantwortungslosen Südeuropäers. Berüchtigt etwa das Titelbild des Focus vom 22. Februar 2010, auf dem eine griechische Statue dem deutschen Leser den Mittelfinger zeigt.

Bei all diesen Kampagnen wurden die zunehmenden krisenbedingten Verwerfungen – Flüchtlingselend, Kriege, Armut, Massenarbeitslosigkeit, soziale Desintegration, Wirtschaftskrisen – auf ein „Außen“ jenseits der als widerspruchsfrei imaginierten deutschen Arbeitsgesellschaft projiziert. Genau dieser kulturindustriell eingeübte Mechanismus des „Outsourcings“ der Krisenursachen und ihrer Personifizierung wird in den eingangs erwähnten Aussagen von Pegida-Demonstranten offensichtlich. Und selbstverständlich reproduziert auch der alltägliche Betrieb der Kulturindustrie zwecks Steigerung der Auflage diese Ressentiments. Der Spiegel etwa warnte noch im März 2007 in einer Titelstory vor der „stillen Islamisierung Deutschlands“. Hetze gegen Flüchtlinge und Asylbewerber ist in Deutschlands Massenblättern, etwa der BILD-Zeitung, alltäglich. Insofern gewinnt hier der Begriff des Extremismus der Mitte an Kontur: Die Demonstranten treiben nur die massenmedial zwecks Durchsetzung bestimmter politischer Ziele ausgeformte Ideologie ins Extrem, sie verlangen eine permanente Hetzkampagne von der „Lügenpresse“, wie es etwa das zentrale Transparent bei der Dresdner Demo nach den Pariser Attentaten offenkundig machte: „Wir trauern um die Opfer der Fairständnispresse!“

Verselbstständigung der Ressentiments

Und dennoch wäre es verfehlt, die Anhängerschaft der neuen deutschen Rechten als bloß „verführte“ Mitläufer zu betrachten, die sich bei ihrer konformistischen Rebellion von „Rattenfängern“ instrumentalisieren ließen. Die dem Kapitalismus eigene fetischistische Form der Vergesellschaftung befördert gerade in der breiten Masse die Ausbildung einer Charakterstruktur, die für rechte Ideologien empfänglich ist. Die Krise lässt diese latent vorhandene Nachfrage manifest werden – und deswegen bedienen die Massenmedien diese Nachfrage. Die Sarrazin-Debatte, in der das bei der Durchsetzung der Agenda 2010 etablierte Bild des Sozialschmarotzers mit rassistischen und sozialdarwinistischen Ressentiments angereichert wurde, deutete bereits eine solche „Verselbstständigung“ der Ressentiments an, die gerade nicht mehr zur Erringung spezifischer politischer Ziele instrumentalisiert wurden. Sarrazins millionenfach abgesetzter Bestseller „Deutschland schafft sich ab“, in dem der seit der Einführung der Hartz-Gesetze rasant anwachsenden Unterschicht sowie arabischen Migranten genetische Mängel unterstellt wurden, bediente gerade dieses insbesondere in der Mittelschicht anwachsende Bedürfnis nach einer Legitimierung von Exklusion und Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten. In dieser Debatte, die gerade nicht zur Durchsetzung eines spezifischen Ziels initiiert wurde, sondern von dem krisenbedingt zunehmenden ideologischen Druck in den Mittelschichten und Teilen der Funktionseliten getragen war, gelang es der neuen Rechten erstmals, die Enttabuisierung öffentlich geäußerter Ressentiments durchzusetzen. Dieser Sieg Sarrazins, mit dem sich etliche Promis aus Politik und Kultur solidarisierten, ermöglichte erst die gegenwärtige Pegida-Bewegung, die letztendlich den damals etablierten Diskurs nur weitertreibt und zuspitzt.

Wir haben es mit einer Generation Sarrazin zu tun, die sich umgehend als eine kleine verfolgte Minderheit artikuliert, sobald Widerspruch gegen ihre Ressentiments erhoben wird. Damit übernehmen die Rechten selbstverständlich nur die Haltung der von ihnen verhassten politischen Korrektheit – sie glauben fest daran, unter einem „antirassistischen Rassismus“ zu leiden, wie es ein französischer Karrikaturist treffend beschrieb. Zudem ist es gerade die nahezu abgeschlossene Durchdringung der Gesellschaft mit den neuen Kommunikationsformen und -möglichkeiten des Internets, die diese Verselbstständigung der Ressentiments ermöglicht. Diese können nicht mehr massenmedial kontrolliert und nach Bedarf vom Mainstream ein- oder ausgeschaltet werden, sie entwickeln im Netz ein Eigenleben, sie wandeln sich, zerrieseln in den unzähligen internetbasierten Informationskanälen, Diskussionsgruppen und Foren in eine unübersichtliche Fülle von Variationen des Wahns. Es findet eine Individualisierung des Ressentiments statt, die charakteristisch ist für die gegenwärtige „Doppelherrschaft“ im Hirn des spätkapitalistischen Metropolenmenschen, die die an Deutungshoheit verlierenden Massenmedien und die freie Informationsbeschaffung sowie Kommunikation im Netz konstituieren: Übernommene, „traditionelle“ Ressentiments werden nun in Eigenregie weitergeführt und modifiziert.

Legitimierung von Exklusion und Krisenkonkurrenz

Dabei weisen diese wirren und vielfältigen Hirngespinste der neuen Rechten, die kaum noch zu einer konsistenten Ideologie zusammenfließen, durchaus eine gemeinsame binnenkapitalistische Logik auf. Sie dienen der Legitimierung des Krisenverlaufs. Die objektiv durch den Krisenprozess beförderte Exklusion immer größerer „überflüssiger“ Teile der Menschheit aus der Arbeitsgesellschaft findet ihre ideologische Legitimierung in den entsprechenden extremistischen Diskursen, die den Arbeitslosen, Südeuropäern und „Arabern“ eine rassistisch oder kulturalistisch grundierte Minderwertigkeit andichten. Die Krise ist für die neue Rechte kein gesellschaftlicher Prozess zunehmender Widerspruchsentfaltung, sondern die Folge des unabänderlichen, rassisch oder kulturalistisch begriffenen Wesens der betroffenen Individuen oder „Völker“. Mit dem Abschirmen der eigenen Volksgemeinschaft, mit der Schließung der Grenzen gegenüber Flüchtlingen, will die neue Rechte auch die Krise ausschließen.

Zugleich legitimiert die neue Rechte die zunehmende Krisenkonkurrenz: Denn selbstverständlich haben Rechtspopulismus wie Rechtsextremismus in all ihren Spielarten das Konkurrenzprinzip schon immer begeistert aufgenommen und auf vielfältige Art und Weise modifiziert und zugespitzt. Diesem Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise verleihen rechte Ideologien einen „höheren“, zeitlosen Sinn, indem sie die Konkurrenz als ein ewiges Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens imaginieren: Die ideologische Spannbreite reicht hier von sozialdarwinistischen Vorstellungen eines Sarrazin bis zum manichäischen Wahnsystem des deutschen Nationalsozialismus, der einen ewigen Konkurrenz- und Überlebenskampf zwischen unterschiedlichen „Rassen“, insbesondere den Ariern und Juden halluziniert.

Letztendlich weisen alle rechtspopulistischen und rechtsextremen Ideologien der menschlichen Ungleichwertigkeit einen tatsächlich gegebenen materialen Kern auf. Sie folgen – auch in ihren „nationalsozialistischen“ Varianten – einem Kosten-Nutzen-Kalkül, das auf der Verinnerlichung kapitalistischer Rentabilitätskriterien und Vergesellschaftungsformen beruht und insbesondere in Krisenzeiten an Anziehungskraft gewinnt. Die Marginalisierung, die Vertreibung oder gar Ermordung von Bevölkerungsgruppen („Ausländer“, Roma, Juden, Muslime, Schwule etc.), die von der Rechten unterschiedlichster Couleur propagiert werden, sollen mit handfesten materiellen Vorteilen für die Mehrheitsbevölkerung einhergehen. Mit der Versagung von sozialen Leistungen für die zu Feindbildern aufgebauten Minderheiten, mittels ihrer offenen Diskriminierung auf dem „Arbeitsmarkt“ oder durch ihre Vertreibung und Enteignung soll die soziale und materielle Stellung der Mehrheitsbevölkerung verbessert werden. Die Krisenfolgen sollen nun vermittels konkreter rassistischer Politik auf stigmatisierte Minderheiten abgewälzt werden, was abermals nur einer Zuspitzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik entspricht – und somit von dem Begriff Extremismus der Mitte gut erfasst wird.

Hegemonie der Unterwürfigkeit

Einen weiteren wichtigen Faktor und Brutstätte rechter Ideologien stellen die zunehmenden Verzichtsforderungen und die damit verbundene Triebversagung dar, die zu einer – mit zunehmendem Aggressionspotenzial einhergehenden – autoritären Identifikation mit dem System führt. Mit den eskalierenden Widersprüchen steigt auch der ökonomistische Druck auf alle Gesellschaftsbereiche und Gesellschaftsschichten; sei es in Form gesteigerter Arbeitsintensität, gekürzter Sozialleistungen oder wegbrechender Lebenschancen. Die der kriselnden Kapitalverwertung geschuldeten zunehmenden Belastungen lassen den meisten Lohnabhängigen eigentlich nur zwei Optionen: Rebellion gegen den Krisenwahnsinn oder gesteigerte irrationale Identifikation und Unterwerfung. Spätestens mit der Durchsetzung der Hartz-Arbeitsgesetze ist im „Untertanenstaat“ BRD die Haltung der Unterwerfung unter die ins Absurde gesteigerten „Sachzwänge“ der kollabierenden spätkapitalistischen Verwertungsmaschinerie hegemonial geworden.

Der durch eine autoritäre Charakterstruktur gekennzeichnete Träger rechtsextremer Ideologie verinnerlicht die sich verschärfenden Anforderungen und Vorgaben der Kapitalverwertung. Er geht in dem Gefühl der Heteronomie, das einer fetischistischen Gesellschaftsformation wie der kapitalistischen eigen ist, voll auf. Mit zunehmender Krisenintensität verschärft sich somit auch die Identifizierung des autoritären Charakters mit dem bestehenden System, wie Erich Fromm im berühmten Sammelband „Autorität und Familie“ schon 1936 feststellte: „Je mehr … die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten, desto stärker und allgemeiner wird die sadomasochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird die Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und Lust.“

Dieser Sadomasochismus resultiert aus den genannten ungeheuren Versagungen, die den sich fügenden, autoritären Charakteren seitens der Krisendynamik auferlegt werden. Auch hier stauen sich immer größere Aggressionen an, die nach einem Ventil suchen. Je größer die Triebversagung, desto größer das Bedürfnis nach Triebabfuhr; der Masochismus verlangt nach sadistischer Satisfaktion. In ekelerregender Vollkommenheit ist diese Fixierung in der deutschen Krisenpolitik zu besichtigen, die ja explizit die Grausamkeiten, die nun der südeuropäischen Peripherie von Berlin angetan werden, damit begründet, dass man hierzulande im Verlauf der Agenda 2010 eben Ähnliches erduldet und überstanden habe. Das unterwürfige Ertragen von Versagungen und Schmerzen berechtigt dazu, nun selber Schmerzen zuzufügen – dies ist eigentlich der sadomasochistische, pathologische Kern aller sozialdarwinistischen rechten Parolen von „Stärke“, „Durchsetzungsvermögen“ und „Härte“.

Adorno hat diesen psychischen Mechanismus, der zur „Entladung“ der angestauten psychischen Spannung in Gewaltakten drängt, schon in seiner Schrift „Erziehung nach Auschwitz“ in allgemeiner Form dargelegt, als er feststellte, dass die „Wut gegen die Zivilisation“ sich nach einem Schema entlädt, wonach diese „Wut gegen die Schwächsten sich richtet, vor allem gegen die, welche man als gesellschaftlich schwach und zugleich – mit Recht oder Unrecht – als glücklich empfindet.“ Deswegen empören sich unglückliche deutsche Rentner, die im Alter noch arbeiten müssen, gegen Migranten, die sie als glücklich imaginieren. Nichts ist dem unglücklichen autoritären Charakter verhasster als das Glück von Menschen, die in der kapitalistischen Hackordnung unter ihm zu stehen haben.
Ähnlich argumentierte Adorno in „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“. Der Nationalsozialismus habe den „kollektiven Narzissmus“ und somit die „nationale Eitelkeit ins Unermessliche“ gesteigert, um angesichts der zunehmenden Versagungen des Alltags Ersatzbefriedigung zu verschaffen: „Die narzisstischen Triebregungen des Einzelnen, denen die verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht und die doch ungemindert fortbestehen, solange die Zivilisation ihnen sonst so viel versagt, finden Ersatzbefriedigung in der Identifikation mit dem Ganzen.“ Problematisch sind diese durchaus zutreffenden Diagnosen Adornos nur deswegen, weil er die fetischistischen Zwänge und Absurditäten kapitalistischer Vergesellschaftung – hier durchaus analog zu Freud und seinem berühmten „Unbehagen in der Kultur“ – zu einer allgemeinen Tendenz des Zivilisationsprozesses erklärt.
Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diesen buchstäblich irrsinnigen „autoritären Kreislauf“ hingegen spezifisch in Bezug gesetzt zu der totalitären Ökonomisierung der krisengeschüttelten spätkapitalistischen Gesellschaften: „Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele – präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen – verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.“ Die neoliberale Verzichtspolitik aus der „Mitte“, die nun europaweit umgesetzt wird, fördert somit die extremistische autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen. Je strikter das Spardiktat, je heftiger die hierdurch hervorgerufenen sozioökonomischen Verwerfungen, desto größer der Hass auf die Opfer dieser Krisenpolitik, der unter all den Gesellschaftsmitgliedern wütet, die die entsprechenden autoritären Dispositionen aufweisen.

Letztendlich, und hierauf verweist Adorno in der besagten „Erziehung nach Auschwitz“, bildet das durch die lückenlose kapitalistische Vergesellschaftung konstituierte „verdinglichte Bewusstsein“ den innersten Kern rechtsextremer, potenziell eliminatorischer Ideologiebildung. Das verdinglichte Bewusstsein sei „vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt.“ Träger des verdinglichten Bewusstseins halten ihre Identität, ihr „So-Sein – dass man so ist und nicht anders – fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes“, anstatt es als ein durch Sozialisation „Gewordenes“ zu begreifen. Die oben dargelegten ideologischen Mechanismen der Personifizierung von Krisenursachen – wie der diesem ideologischen Prozess korrespondierenden Naturalisierung des Kapitalismus – entsprießen gerade dieser pathogenen psychischen Konstitution. Hieraus entspringt eben jene Unfähigkeit zur Selbstreflexion, die für nahezu alle Pegida-Anhänger charakteristisch ist, ihre Weigerung, mit Medienvertretern zu sprechen oder selbst anonym an Erhebungen und Studien teilzunehmen. „Mein Wahn gehört mir“ – eben weil ich so und nicht anders bin und schon immer war.

Das automatische Subjekt und die schale Imitation von Subjektivität

Vollauf verständlich wird die Genese des verdinglichten Bewusstseins aber nur bei gleichzeitiger Reflexion des fetischistischen Charakters kapitalistischer Vergesellschaftung und der gesamtgesellschaftlichen Funktion des Kapitals als automatisches Subjekt, das zwar von den konkurrierenden Marktsubjekten alltäglich buchstäblich erarbeitet wird, aber marktvermittelt „hinter dem Rücken der Produzenten“ (Marx) eine Eigendynamik entwickelt und diesen als eine äußerliche und fremde Macht in der Form krisenbedingt zunehmender Sachzwänge, Marktvorgaben, Verwerfungen und Widersprüche entgegentritt. Diesem allgegenwärtigen Gefühl der Heteronomie, der „Fremdbestimmung“, entspringen gerade die ganzen gegenwärtig blühenden Verschwörungsideologien, die im Antisemitismus kulminieren. Adorno deutet dies zumindest an, indem er bemerkt, dass der Typus des verdinglichten Bewusstseins „sich selber gewissermaßen den Dingen gleichmacht“, um hiernach nach Möglichkeit „die Anderen“ den Dingen gleichzumachen.

Was hier aufscheint, ist die absurde Stellung des Marktsubjekts innerhalb des Automatismus der Kapitalverwertung. Das automatische Subjekt macht die Menschen einerseits zu Objekten seiner Verwertungsbewegung, zu Dingen, zu Waren, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt werden – und die sich dieser vermittelten Form der subjektlosen Herrschaft wie einem menschengemachten Naturgesetz mit einem unterschwelligen Gefühl von Ohnmacht anzupassen haben. Zugleich besteht die einzige Chance, noch eine schale Imitation von Subjektivität auszuleben, darin, dass man als ökonomische Charaktermaske (Marx) daran mitwirkt, diesen Automatismus uferloser Kapitalverwertung „subjektiv“ zu perfektionieren, – und hierbei wiederum „die Anderen“ zu Objekten degradiert und „den Dingen gleichmacht“. Innerhalb des nur zu realen Fetischismus, den das automatische Subjekt perpetuiert, sind die Insassen der kapitalistischen Tretmühle immer beides zugleich: Subjekt der Akkumulation und deren ohnmächtiges Objekt. Alle Insassen der globalen kapitalistischen Tretmühle fungieren als Subjekt-Objekte der verselbstständigten Verwertungsbewegung, die sie selber perpetuieren, wobei das konkrete Verhältnis zwischen diesen beiden Polen von der konkreten hierarchischen Stellung im Reproduktionsprozess des Kapitals abhängt. Erst die Überwindung dieses Fetischismus würde dem Rechtsextremismus den Nährboden entziehen.

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