TTIP und die Folgen: Was treibt die Eliten auf beiden Seiten des Atlantik zum Abschluss neuer Freihandelsabkommen?
von Tomasz Konicz
Es hat sich inzwischen bis zur »New York Times« (»NYT«) herumgesprochen, dass irgendetwas mit den von Washington forcierten Freihandelsabkommen nicht stimmt. Er sei im Allgemeinen ein Anhänger des Freihandels, beichtete der bekannte US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman Ende Januar in einem Blogbeitrag für die »NYT«, doch mache ihn die gegenwärtige Rhetorik der Befürworter einer Handelsliberalisierung argwöhnisch; sie sorge dafür, dass sich ihm mitunter »die Nackenhaare sträuben«. Die US Chamber of Commerce – der weltgrößte Unternehmenszusammenschluss – habe den Abschluss der transatlantischen und pazifischen Handelsabkommen zu ihrer obersten Priorität erklärt; mit ihrer Umsetzung solle das Wirtschaftswachstum in den betroffenen Wirtschaftsräumen maßgeblich und nachhaltig angekurbelt werden.
Das sei »absurd und verstörend«, so Krugman, da sich hierdurch nichts an der insgesamt schwachen globalen Nachfrage und dem drohenden Absturz in die Deflation ändern würde. Den durch Freihandel wachsenden Exporten würden steigende Importe gegenüberstehen, so dass sich höchstens die »Zusammensetzung des weltweiten Verbrauchs« ändern würde. Es gebe keinen Grund anzunehmen, dass die Freihandelsabkommen »die globalen Ausgaben erhöhen« würden – zumal die noch bestehenden Zölle bereits sehr niedrig seien und nur um einige wenige Prozentpunkte abgesenkt werden könnten. Die offensichtlich falsche und »bizarre« Begründung dieser Feihandelsdeals lasse hingegen den Verdacht aufkommen, dass gerade diejenigen rechtlichen Aspekte entscheidend seien, die nicht auf die Freihandelsliberalisierung abzielen, sondern der Wirtschaft »eine Menge an Monopolrenten« verschaffen sollen. Wenn die US Chamber of Commerce unter Verwendung einer irreführenden Begründung komplizierte internationale Deals zur Priorität erkläre, »dann sollte man mit Sicherheit davon ausgehen, dass sich im Kleingedruckten übles Zeug finden lässt«, schlussfolgerte Krugman.
Tatsächlich finden sich in dem an die Öffentlichkeit durchgesickerten »Kleingedruckten«des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership), das naturgemäß in Geheimverhandlungen ausgearbeitet wird, eine Unmenge von Regelungen, die dem feuchten Wunschtraum eines jeden Kapitalisten entsprungen sein könnten. Letztendlich ist TTIP die konsequente Fortsetzung, ja Vervollkommnung der bereits dekadenlangen Tendenz zur Deregulierung, zur Privatisierung essentieller gesellschaftlicher Infrastruktur und zur Beschneidung der ohnehin geringen Spielräume bürgerlicher Realpolitik, der nun nicht nur durch die »Sachzwänge« der kriselnden Kapitalverwertung, sondern durch konkrete suprastaatliche Rechtsregelungen immer engere Fesseln angelegt werden sollen. Mit der Realisierung von TTIP würde ein Prozess der Institutionalisierung postdemokratischer Prozesse eingeleitet: Die ohnehin kaum noch gegebenen parlamentarischen Gestaltungsspielräume würden formalrechtlich eingedampft.
Das gilt vor allem für die angestrebte Privatisierung der Rechtsprechung, die im Rahmen von TTIP etabliert werden soll. Private Schiedsgerichte, die sich am Vorbild des ICSID der Weltbank orientieren sollen (International Centre for Settlement of Investment Disputes), würden mit dem »Investorenschutz« in der angestrebten größten Freihandelszone der Welt betraut werden. Sobald ein Konzern in einem der Vertragsstaaten durch eine neue Regelung oder ein neues Gesetzesvorhaben sein Menschenrecht auf Profit gefährdet sähe, könnte er die entsprechende politische Institution oder Körperschaft auf Schadensersatz verklagen – selbst wenn deren Beschlüsse, wie etwa im Fall höherer Umweltauflagen, demokratisch legitimiert wären (etwa durch Referenden/Volksabstimmungen/Wahlen). Der einzige Beurteilungsmaßstab bei diesen Verfahren wäre die potentielle Gewinneinbuße des Konzerns, die aus etwaigen staatlichen Regelungen erwachsen könnte. In der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems sind solche Konzernklagen vor dem ICSID durchaus üblich; sie wurden im Rahmen von Investitionsschutzabkommen ermöglicht: Von den 514 Klagen des Jahres 2012, die nur Konzerne gegen Staaten anstrengen können (letztere haben kein Recht darauf), hat die Kapitalseite rund 70 Prozent gewonnen. Dies dürfte auch an der Zusammensetzung der Schiedsgerichte liegen, die für gewöhnlich mit hochbezahlten Anwälten bestückt sind, deren international tätige Kanzleien in der Regel Kapitalinteressen vertreten – bei Stundensätzen von 500 bis tausend Euro.
Einen ersten Eindruck von einem privatisierten Rechtssystem, in dem die Renditeerwartungen von »Investoren« in den Rang eines Menschenrechts erhoben würden, hat etwa die Hansestadt Hamburg 2008 erhalten, als der Energieriese Vattenfall mit einer Klage auf 1,2 Milliarden Euro Schadensersatz drohte, nachdem die rotgrüne Regierungskoalition eine striktere Umweltauflage vorbereitet hatte. Das Vorhaben wurde dann schleunigst zu den Akten gelegt. Für gewöhnlich sind es aber Staaten der Peripherie, die über die ICSID-Schiedsgerichte zur Kasse gebeten werden: Die Regierung von Ecuador wurde beispielsweise 2012 zur Zahlung von 1,75 Milliarden US-Dollar an den US-Ölmulti Occidental verurteilt, weil sie eine zunächst genehmigte Probebohrung nach Protesten der Bevölkerung schließlich doch untersagt hatte. Selbst bei einem Sieg vor den Schiedsgerichten bleiben die Schwellen- oder Entwicklungsländer auf ihren Prozesskosten sitzen. Als der deutsche Flughafenbetreiber Fraport die Philippinen wegen eines gescheiterten Projekts in Manila auf 350 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagt hatte, bekam die philippinische Regierung zwar recht – sie musste aber die Prozesskosten in Höhe von 58 Millionen US-Dollar aus dem Staatshaushalt bestreiten.
Inzwischen ist der Abschluss solcher Investorenschutzverträge, die »Privatklagen« von Konzernen vor dem ICSID regeln, für viele Entwicklungsländer unumgänglich, da sie als wichtige Voraussetzung für ausländische Investitionen gelten. Das Kapital geht vorzugsweise nur noch dorthin, wo es Investorenschutzabkommen gibt. Die BRD etwa hat mit 131 Ländern sogenannte Investitionsförderungs- und Schutzverträge unterzeichnet, bis 1989 waren es nur 35 Länder. Das ICSID wurde 2008 von 150 Staaten als Schiedsgericht anerkannt, erst in den letzten Jahren sind die linken lateinamerikanischen Regierungen Boliviens, Ecuadors und Venezuelas aus diesem Abkommen ausgestiegen.
Neben dem Investitionsschutz soll TTIP wie eine Art neoliberale Einbahnstraße fungieren, für die die Privatisierungspolitik der letzten Dekaden vertraglich fixiert würde. Sogenannte Standstill- und Ratchet-Klauseln sollen dazu dienen, jegliche bereits durchgeführte Privatisierung der gesellschaftlichen Infrastruktur als dauerhaft und irreversibel festzuschreiben. Alle künftigen Liberalisierungen würden nach Abschluss des TTIP automatisch zu Vertragsverpflichtungen werden. Das Freihandelsabkommen soll nämlich als living agreement fungieren, also auch nach Vertragsabschluss weiter modifiziert und ergänzt werden. All die Schweinereien, die – auch aufgrund der kleinbürgerlichen Empörung über amerikanische »Chlorhühnchen« hierzulande – bei Vertragsabschluss noch nicht verwirklicht werden könnten, würden dann einfach später in aller Stille nachgereicht. Ein »Regulierungsrat«, den Behörden und Wirtschaftsvertreter besetzen sollen, würde bei künftigen Regelungen auf die Suche nach Handelshemmnissen gehen, noch bevor die entsprechenden Gesetzesvorhaben überhaupt den Parlamenten zur Diskussion vorgelegt worden wären. In Brüssel, Berlin und selbst auf Bundesländerebene müssten alle wichtigen Gesetzesvorhaben zuvor mit diesem Gremium abgestimmt werden, um keine neuen »Handelshemmnisse« – etwa in Gestalt besserer Sozialstandards – entstehen zu lassen.
Letztlich geht es den Architekten des TTIP beiderseits des Atlantik darum, möglichst viele institutionelle, politische und soziale Sicherungen zu entfernen, um die stotternde Verwertungsmaschinerie wieder auf Touren zu bringen: mühsam erkämpfte Rechte und Regelungen wie Kündigungsschutz, Tarifverträge, Mindestlöhne, Arbeitszeitbestimmungen, Mitbestimmungsrechte werden als Handelshemmnisse angesehen und dürften tendenziell bis auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner geschliffen werden – zur Not nach Abschluss eines living agreement. Der Race to the Bottom bei der Marktderegulierung würde so zu einer Dauereinrichtung.
Deregulierung, Privatisierung und Beschränkung politischer Interventionsmöglichkeiten – diese Tendenzen des Neoliberalismus möchte TTIP auf die Spitze, ins Extrem treiben. Diese totale »Entsicherung« des Spätkapitalismus droht vor allem in der Finanzsphäre. Insbesondere die Europäer drängten darauf, die transatlantischen Finanzmärkte wieder für all die tollen »Finanzprodukte « – in denen faule Hypotheken »verbrieft « wurden – zu öffnen, deren Handel nach dem Zusammenbruch der Immobilienblasen in den USA verboten worden waren, wie »Spiegel Online« am 27. Januar berichtete. Hierzu solle nach dem Willen der EU-Kommission die Finanzmarktregulierung nicht mehr von Parlamenten ausgehandelt werden: »Die Parteien richten ein gemeinsames Forum zur finanziellen Regulierung ein. Dieses Forum ist verantwortlich für die Kooperation bei der Regulierung im Finanzmarktbereich«, meldete der »Spiegel«. Das käme einer Aushebelung der parlamentarischen Kontrolle gleich, erklärte der österreichische grünen Europaparlamentarier Michel Reimon: »Wir Abgeordnete dürften dann Gesetze nur noch so erlassen, dass sie mit den Beschlüssen dieses Forums übereinstimmen.«
Die intendierte Aufhebung der Finanzmarktregulierung, die als Akt nackten Wahnsinns erscheint, ist innerhalb der Logik, die der Einrichtung der geplanten Freihandelszone zugrunde liegt, folgerichtig. Letztendlich beabsichtigt TTIP ja, in größerem Maßstab eine ähnliche Defizitkonjunktur zu stiften, wie sie die Euro-Zone in der ersten knappen Dekade ihres Bestehens in Gang gebracht hat. Zur Erinnerung: Nach der Einführung des Euro sind die Kreditkosten in der Peripherie Europas massiv gesunken. Länder wie Spanien, Italien, Irland und Griechenland schienen auf einmal die Bonität der BRD zu haben, was die schuldenfinanzierten und mit allerlei Blasenbildungen einhergehenden »Wirtschaftswunder« in diesen Ländern erst ermöglichte – und der deutschen Exportwirtschaft bis zum Zusammenbruch dieser Defizitkonjunkturen Absatzmärkte sicherte. Eine ähnliche Defizitkonjunktur soll nun auf transatlantischer Ebene initiiert werden, um die Euro-Zone trotz des deutschen Spardiktats aus ihrer Deflation zu führen. Zu diesem Zweck müssen die lästigen Regulierungen geschleift werden, die nach dem Platzen der letzten Immobilien- und sonstigen Blasen erlassen wurden.
Es ist eine Flucht nach vorn: Die verheerenden ökonomischen und sozialen Folgen der letzten geplatzten Finanzblase in Europa sollen mittels einer neuen transatlantischen Finanzblasenbildung zumindest vorübergehend überwunden werden. Auf erweiterter transatlantischer Ebene soll ein ähnlicher Prozess angestoßen werden, wie er im Rahmen der Gründung und Expansion der Europäischen Union abgelaufen ist – und Europa bis zum Krisenausbruch ein knappes Jahrzehnt kreditfinanzierten Wachstums beschert hat. Dieses Löschen mit Benzin ist, wie unbeabsichtigt immer, ein Grundelement neoliberaler Politik angesichts sich krisenbedingt zuspitzender ökonomischer Verwerfungen und Widersprüche. Seit der neoliberalen Wende Anfang der achtziger Jahre reagieren die Funktionseliten auf jeden Krisenschub mit einer Flucht nach vorn, die den Kapitalismus buchstäblich ins Extrem treibt und ihn langfristig immer gründlicher destabilisiert.
Konfrontiert mit der manifesten inneren Schranke der Kapitalverwertung, dem Abschmelzen der wertbildenden Lohnarbeit innerhalb der Warenproduktion, verfolgt die Politik bereits seit einiger Zeit jene Strategien, die in TTIP nur ihre extremistische Vollendung finden: Lohnkahlschlag, Privatisierungen, Deregulierung insbesondere der Finanzsphäre. All diese Optionen zur Sanierung der Verwertungsbedingungen führen zur Destabilisierung des Gesamtsystems. Die Absenkung des Preises der Ware Arbeitskraft (seit den Achtzigern stagnieren die realen Löhne in den USA) hat die Massennachfrage einbrechen lassen; nur durch Privatisierungsprozesse auf den Finanzmärkten konnte sie um den Preis immer größerer Verschuldung reanimiert werden. Das eröffnet zwar dem Kapital neue Verwertungsfelder, doch bringt es mittelfristig den Verfall der spekulativ heimgesuchten Infrastruktur mit sich. Als Paradebeispiel können hier die marode Wasserversorgung Londons und das britische Schienennetz gelten, das zur Fortbewegung zu benutzen einem Abenteuer gleichkommt.
TTIP ist nicht nur ein Versuch, die Systemkrise des Kapitalismus auf beiden Seiten des Atlantik durch einen weiteren Liberalisierungsschub zumindest zu bremsen, das Abkommen, Grundlage einer Art Handels-Nato, ist auch eine kaum verhohlene Kriegserklärung an die Schwellenländer. Denn es geht bei ihm nicht mehr um die Eroberung neuer Märkte, wie noch in der historischen Phase der Kapitalexpansion, sondern um den Ausschluss etwaiger Konkurrenten. Das gilt sowohl für das transatlantische Freihandelsabkommen als auch für das zur gleichen Zeit von Washington forcierte pazifische Handelsabkommen. Die »Neue Zürcher Zeitung« hat die geopolitische Dimension dieser »diskriminierenden Präferenzabkommen« beschrieben: TTIP beabsichtige selbstverständlich auch die Ausgrenzung Russlands, die möglichst weitgehende Zurückdrängung russischen Einflusses in Europa. Ein ähnlich strukturiertes »Freihandelsabkommen« plant Washington auch für den pazifischen Raum – dort mit dem Ziel, die Wirtschaftstätigkeit Chinas drastisch zu beschneiden: »Am Transpazifischen Partnerschaftsabkommen (TPP) nehmen zwölf Länder, einschließlich des wirtschaftlichen Schwergewichts Japan, teil. China ist nicht eingeladen, diesem Abkommen beizutreten.« Sollte es den USA gelingen, »sowohl das transatlantische als auch das transpazifische Abkommen zum Abschluss zu bringen«, würde handelspolitisch eine neue, eine »bipolare Ordnung« entstehen.
Eine solchermaßen global ausgedehnte atlantisch-pazifische Freihandelszone würde die meisten Schwellenländer und wichtigsten globalen Herausforderer der westlichen Hegemonie, die mittelfristig die Dominanz des US-Dollar als Weltleitwährung in Frage stellen könnten, »draußen« halten: China und Russland. Die Wochenzeitung »Zeit« hat auf ihrer Onlineseite TTIP als einen »Schutzwall vor den Schwellenländern« bezeichnet, als eine »Revanche des Nordens«, die »die Dominanz der beiden größten Wirtschaftsblöcke der Welt festigen« solle. Allein auf die transatlantische Freihandelszone würden rund 50 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und ein Drittel des weltweiten Handels entfallen.
Die »Deutsche Welle« hat in einem Kommentar deutlich gemacht, welche ökonomischen Folgen die Ausschlussmechanismen der Freihandelszonen auf all jene Volkswirtschaften haben würden, die ihnen nicht angeschlossen sind: »Wo es viele Gewinner gibt, muss es auch ein paar Verlierer geben«, da die Volumina des Welthandels durch TTIP nicht etwa rasch wachsen, sondern lediglich umgeleitet würden. Während die großen Handelsblöcke den Warenaustausch untereinander erweitern dürften, würden die Importe aus Lateinamerika, Asien und Afrika in diese »Super-Freihandelszonen« zurückgehen.
aus: Konkret 03/15