von Annette Schlemm
Spiele als Kultur
Die Welt der PC-Spiele ist mir fremd. Ich muss sie mir erschließen wie eine fremde Kultur, in der ich nie heimisch war. Aber um mich herum werden immer mehr Menschen erwachsen, die als Gamer groß geworden sind. Die Kultur ihrer Generation beginnt mich einzuhüllen und ich muss mich darauf einstellen, wie sie drauf sind und die Welt verändern. Ich sehe Verluste an Ernsthaftigkeit, an traditioneller buchbezogener Bildung, an Reflexionsfähigkeit und Kohärenz der Lebensgestaltung. Aber ich bin auch neugierig darauf, was sie mitbringen aus dieser Praxis.
Warum können mich Spiele überhaupt interessieren – was haben die mit dem wirklichen Leben zu tun? Sind sie nicht bestenfalls eine lernende Vorbereitung für das „wirkliche“ Leben oder im schlechtesten Fall eine Flucht davor? Johan Huizinga hat sich schon vor vielen Jahrzehnten mit der kulturstiftenden Rolle von Spielen beschäftigt. Seiner Meinung nach entstand die Kultur nicht aus dem Spiel, wobei das Spielerische als das schließlich Überwundene zurückbliebe, sondern als Spiel (Huizinga 1938/2009, 56). Erst seit dem 19. Jahrhundert wird das Spiel als etwas Untergeordnetes betrachtet; Arbeit und Produktion wurden zum Ideal und „Europa zieht das Arbeitskleid an“ (ebd., 208).
Auch bei der neuen Form des Spiels, dem „digitalen Spielen“, d.h. Video-, Konsolen- sowie Ein- oder Mehrspieler-PC-Spielen, liegt es nahe, diese nicht als Vorstufe zur Kultur, sondern selbst als Kultur zu bezeichnen. Als Kulturmoment haben die digitalen Spiele einen großen Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung der Menschen, die in einer Welt voller solcher Spiele aufwachsen. Seit längerem nimmt die Rolle der Schule oder des Elternhauses für die Entwicklung der jungen Menschen eher ab, und die der Gleichaltrigen aus dem Lebensumfeld nimmt zu. Dies ist begleitet und wird verstärkt durch die wachsende Bedeutung von sozialen Netzwerken und den digitalen Spielen.
Was wird gespielt?
Das Thema der allermeisten Spiele ist eher düster. „Während zum Beispiel in der Literaturbranche viel Wert gelegt wird auf Alltagsbeschreibungen und Liebesgeschichten, konzentriert sich die Computerspielszene eher auf Thematiken, die man im Alltag nicht unbedingt erleben möchte. Es gibt unzählige Kriegs-, Katastrophen- und Horrorspiele, aber keine wirklich ernstzunehmende Liebesromanze.“ (Mertens, Meißner 2002, 188)
Die Gewalt in den digitalen Spielen wird häufig kritisiert. Nach dem recht harmlosen Ping Pong, das ans Tennisspielen angelehnt ist, wurde das Setting für das weit verbreitete Videospiel Space Invaders auf Schusswechsel mit aggressiven Alienraumschiffen geändert. „Statt sich über die eigenen Fähigkeiten zu freuen und gelungene Ballbewegungen zu bestaunen, mußte man sich hier dem Grauen stellen.“ (Ebd., 59)
Auch die Autoren Beck und Wade sehen durchaus den offensichtlichen Zusammenhang von Spielwelt und Gewalt, aber sie betonen, dass es nicht erwiesen ist, dass die Gewalt in den Spielen sich auch im wirklichen Leben auswirkt. Es gibt Studien, die dafür – aber auch welche, die dagegen sprechen. Die Jugendgewaltstatistik zeigt in der Zeit der aufstrebenden digitalen Spiele jedenfalls ein deutliches Absinken (Beck, Wade 2006, 53).
Es gibt aber auch Ausnahmen zu diesen Kampf- und Abenteuerspielen. Sogenannte Indie Games und Art Games gestalten durchaus auch andere Inhalte und experimentieren mit neuartigen Interaktionen. Dabei verzichten sie dann häufig auch wieder auf imposanten optischen Realismus, sondern werden beinahe minimalistisch. Ein Beispiel ist das kleine Spiel Passage von Jason Rohrer (2007), das Clive Thompson (2008) als „Mittel zur Erforschung der Grundbedingungen des Menschseins“ ansieht.
Dass es nur so wenige derartige Spiele gibt, liegt wohl nicht nur am Unvermögen und dem Desinteresse der Spieledesigner. Wahrscheinlich führt auch der Vorgang des Spielens überhaupt zu einer Bevorzugung bestimmter Handlungstypen. Es haben sich vorwiegend Spiele durchgesetzt, bei denen die Interaktivität schnelle und konsequente Aktionen in recht turbulenten Situationen erfordert: „Der nach wie vor größte Teil der Computerspiele ist nicht auf Kontemplation, sondern eher auf Reiz-Reaktions-Abfrage ausgerichtet, und eignet sich deshalb am besten zur Darstellung von Action.“ (Mertens, Meißner 2002, 188)
Wie wird gespielt?
Damit kommen wir zu dem, was ein Spiel ausmacht: der für das Spiel typischen Aktivität. Die Art und Weise des Tuns, das Interagieren ist für die Spielenden im Allgemeinen viel wichtiger als die damit verbundenen Inhalte. Es geht um „die Möglichkeit, Welten auf Bildschirme zu zaubern, auf die der Spieler in irgendeiner Form einwirken kann“ (Mertens, Meißner 2002, 73).
In der Interaktivität besteht auch der wichtigste Unterschied zu Büchern. Die Folgen des eigenen Handelns werden unmittelbar erlebt. Dabei wird die Selbstreflexion eher abgeschaltet: „Romane beschreiben, wie Menschen sich fühlen, wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückschauen und daraus für ihr weiteres Leben Konsequenzen ziehen wollen. Computerspiele beschreiben die Möglichkeiten, die sich jeden Moment ergeben und die man genau dann nutzen muß. Man kann nicht darüber nachdenken, sondern muß handeln. So oft und so viel es geht. Alles kann Möglichkeiten bieten, alles muß erforscht werden, es muß immer weiter gehen, es gibt keine Pause.“ (Mertens, Meißner 2002, 86)
Warum wird gespielt?
Worin liegt nun der Reiz dieser Tätigkeit? Es wird ja freiwillig von sehr vielen Menschen und sehr ausgiebig gespielt. Allein in China spielen sechs Millionen Menschen mehr als 22 Stunden pro Woche, was mehr als einer Teilzeitbeschäftigung entspricht. 30 Prozent aller Südkoreaner spielen Online-Spiele (BBC News, 10. Aug. 2005). Die Spielebranche will in Kürze mehr umsetzen als die Musik- und Filmindustrie zusammen. Warum trifft dieses profitgetriebene Angebot auf so bereitwillig-gierige Kundschaft?
Jane McGonigal (2012) beschreibt, dass Aufbau und Aktivität beim Spielen Flow-Erlebnisse ermöglichen. Digitale Spiele haben klare Ziele (das Erreichen des letzten Levels, eines Highscores …) und es gibt die Möglichkeit, das Spiel trotz oder gerade wegen des wachsenden Schwierigkeitsgrades immer besser beherrschen zu können. Genau das sind auch die Faktoren, die Flow-Erlebnisse auslösen können: „Glückselige Produktivität empfinden wir immer dann, wenn wir in eine Arbeit vertieft sind, die unmittelbare und offensichtliche Ergebnisse erzeugt.“ (Ebd., 74) Auch das Belohnungssystem des Gehirns wird ständig unmittelbar angesprochen.
Daraus ergibt sich auch die Gefahr der sog. „Spielsucht“. Jeder zehnte Computerspieler soll suchttypische Verhaltensmuster und Symptome aufweisen wie unstillbares Verlangen, Entzugssymptome, Vernachlässigung anderer Interessen, Kontrollverlust etc. (Frey 2008, 1219). Das „Immer-Spielen-Müssen“ bezeichnet T. O. Meißner (2001) in einem Buchtitel als „Neverwake“. Für Außenstehende sieht es so aus, als sitze der Gamer isoliert in seinem Zimmer. Tatsächlich jedoch ist die Tatsache, dass dieser sich seiner Gruppe, z.B. seiner Gilde in World of Warcraft, verpflichtet fühlt, einer der stärksten Gründe, sich den anderen Umwelten zu verweigern.
Cam Adair, der selbst der Meinung ist, früher spielsüchtig gewesen zu sein, und viel Kraft brauchte, um sich dem wirklichen Leben zu stellen, berät heute Betroffene und gibt ihnen Tipps. (Adair 2011) Neben den eben erwähnten Momenten des Flow-Erlebnisses betont er auch die besondere Weise von Gemeinschaft und Sozialität, die die Spielewelt den Spielenden ermöglicht. Um der Spielsucht zu entkommen, muss man aus seiner Sicht etwas finden, was diese Komponenten ebenfalls enthält: Soziale Kontakte, die einen herausfordern und bei denen man sich ständig verbessern kann.
Wenn diese in der Lebensumwelt nicht ausreichend vorhanden sind oder hergestellt werden können, so ist der Weg in die Spielewelt, in der diese Bedürfnisse gestillt werden können, kurz. Es deutet darauf hin, „… dass Computer- und Videospiele in der heutigen Gesellschaft grundlegende menschliche Bedürfnisse erfüllen und dass die echte Welt diese Bedürfnisse derzeit nicht befriedigen kann“ (McGonigal 2012, 13).
Andererseits ist es bedenklich, dass diese Bedürfnisbefriedigung die Bedingungen, die zu der frustrierten Menschlichkeit überhaupt führen, reproduziert und bestärkt. Kampf und Krieg, „die Bedingung, unter der man das unerbittliche Leben überhaupt fristen darf, wird von ihr [der industrialisierten Kultur, A.S.] eingeübt“ (Horkheimer, Adorno 1989, 173).
Was macht das Spielen aus den Spielenden?
Man kann bei den Gamern sicher von einer „Sozialisation durch Computerspiele“ sprechen. Schließlich lernen wir viel mehr von dem, was wir selbst tun, als von dem, was wir nur lesen. Das bedeutet, dass Gamer anders aufwachsen, anders spielen, lernen, fühlen und denken (Beck, Wade 2006, 177).
Die beim Spielen entwickelten Fähigkeiten sind auch im realen Leben durchaus nützlich. Das betrifft nicht nur das erstaunliche Beispiel, bei dem ein 10-Jähriger die Erfahrungen aus World of Warcraft nutzen konnte, um seine Schwester vor einer Elchattacke zu schützen (van Mensvoort 2010). Gut nachzuvollziehen ist die Tatsache, dass Menschen, die als Jugendliche exzessiv Videospiele gespielt haben, bei Piloteneignungstests aufgrund ihrer Fähigkeiten, sich vollständig zu konzentrieren und blitzschnell reagieren zu können, erheblich besser abschnitten als andere (Mertens, Meißner 2002, 34f.).
Fähigkeiten, die durch das digitale Spielen besonders gefördert werden, sind vor allem folgende: Schnelle Informationsverarbeitung: Dazu gehört auch, schnell entscheiden zu können, welche der Informationen bedeutsam sind. Dabei werden Informationen meist nicht nach und nach aufgenommen und verarbeitet, sondern viele Inputs gleichzeitig aufgenommen und entsprechend ihrer Bedeutsamkeit verarbeitet. Multitasking: So wie routinierte Fahrer beim Fahren gleichzeitig auch noch sprechen können, so können Gamer manches „im Hintergrund“ laufen lassen und sich auf etwas anderes konzentrieren und schnell wechseln (Beck, Wade 2006, 88). „Man sieht alles gleichzeitig und dennoch nur das wenige Wichtige.“ (Mertens, Meißner 2002, 167) Frustrationstoleranz (ebd., 160); strategisch denken in einer komplexen, unsicheren Welt: „Auf sehr subtile Weise lernten wir eine besondere Art zu denken, die man vielleicht als Systemanalyse bezeichnen könnte.“ (David S. Bennahum, zit. in Mertens, Meißner 2002, 100). Trial and Error als Methode, verbunden mit dem Einnehmen einer Metaperspektive (Beck, Wade 2006, 155f.); Bevorzugung vernetzter Kontakte statt Problemlösungsversuche als Einzelne.
Gamer werden deshalb als hoch kompetente Problemlöser und passionierte Teamplayer gesehen (McGonigal 2012). All dies sind Fähigkeiten, nach denen die Wirtschaftswelt laut ruft. Dies gilt für alle Arbeitenden in der immer vernetzteren und komplexeren Produktionswelt (vgl. Butollo, Engel 2015), aber insbesondere auch für Unternehmer. Dies betonen Beck und Wade (2006), die genau wegen dieser Passfähigkeit der eventuell besorgten älteren Generation zurufen „The kids are alright“. Gamer passen durchaus gut in die heutige Wirtschaftswelt, auch wenn sie das nicht direkt anstrebten und nicht bewusst dazu erzogen wurden.
Gerade im Zeitalter der Instabilität erweisen sich die Vorteile der Game-Sozialisierung. Gamer meiden Risiken nicht nur nicht, sondern sie fühlen sich darin wohl. Beck und Wade beraten heutige Chefs, die nicht selbst aus der Gamer-Generation kommen, darin, wie sie aus dem Gamer das Beste herausholen können: „Finde Aufgaben, die wirklich erledigt werden müssen, gestalte sie als gefährlich (oder wenigstens schwer) und wichtig, was sie wahrscheinlich sind, und gib die Möglichkeit, sich öffentlich mit dem Ergebnis zu präsentieren.“ (Ebd., 104) Das geht so weit, dass wöchentliche Mitarbeiterversammlungen als Kriegsspiel zelebriert werden (ebd., 171). Bei IBM wird bei der Koordinierung globaler Arbeitsteilung an die Erfahrungen von Open-Source-Projekten angeknüpft, wobei die „digitale Reputation“ über Verrechnungen der Arbeitsergebnisse in Form von „Blue Cards“ ermittelt und veröffentlicht wird (Howard et al. 2010).
Letztlich ist die Gamer-Generation wohl die erste Generation, die eher nicht durch Familie, Offline-Peers und Arbeitswelt sozial und kulturell geprägt wurde, sondern durch ihr Freizeitverhalten. In die jetzige Arbeitswelt passt sie nichtsdestotrotz erstaunlich gut. Ob als Akteure, die das eingeübte Verhalten im brutalen Konkurrenzkampf aktiv einsetzen können, oder als Ausgestoßene, die wenigstens ihren Frust spielerisch ablassen können.
Ob genau die hier kultivierten Fähigkeiten aber die Fähigkeiten sind, die die Welt angesichts der Turbulenzen einer instabileren ökologischen Umwelt und der sich verschärfenden globalen und wirtschaftlichen Widersprüche braucht, ist eine andere Frage. In Spielen entwickeln sich die Fähigkeiten durch Trial and Error und ständige Neustarts. Im real existierenden Wirtschaftsleben mag das noch angehen. Das planetare atmosphärische und ökologische System hat aber keinen Neustart-Button …
Selbst- und Weltbild
Die digitalen Spiele sind für viele junge Leute über große Zeiten hinweg das Umfeld ihrer Lebenspraxis, die sie stark beeinflussen. Ihr Welt- und Selbstbild entwickelt sich gerade in dieser Zeit. Nach Beck und Wade (2006) lassen sich einige typische Erfahrungen der Gamer zusammenfassen: In den digitalen Spielen ist die Welt für die Spieler ein Ort, in der alles bedeutsam sein kann, in der es logisch zugeht, in der es immer irgendwie weitergeht, in der mit einer Anzahl begrenzter Ressourcen und Werkzeuge mit der richtigen Kombination immer ein Gewinn möglich ist. In der Gesellschaft der Spielewelten geht es immer um Wettbewerb, und soziale Beziehungen sind so strukturiert, dass es immer nur Konkurrenten oder Verbündete bzw. Chefs oder Untergeordnete gibt. Jeder ist letztlich allein und Menschen sind einfach strukturiert und vorhersehbar. Sich selbst erleben die Spielenden als jene, die die Kontrolle haben, gleichzeitig aber auch die Verantwortung. Sie erleben, dass Versuch und Irrtum die beste Methode ist und dass letztlich jeder gewinnen kann. Jeder Einzelne erlebt sich dabei als Experte und zäher Typ. Dies erzeugt ein hohes Selbstbewusstsein.
Spiele wirken also durchaus als „Fitneßstudio fürs Selbstwertgefühl“ (Mertens, Meißner 2002, 166), denn Computerspiele sind „ein ideales Feld, um sich selbst zu behaupten, sich zu erleben, sich zu definieren“ (ebd., 140).
Isolation und Individualismus vs. Teamfähigkeit
Vor allem Nichtspieler nehmen an, dass das Vertiefen ins Spiel die Gamer der Wirklichkeit entfremdet, dass sie sich isolieren und soziale Fähigkeiten blockiert werden. Es scheint jedoch so, als sei das Gegenteil richtig. In der Auswertung der Umfrage von Beck und Wade (2006) zeigte sich, dass die jungen Leute umso sozialer eingestellt sind, je mehr Zeit sie mit Videospielen zugebracht hatten. Gamer zeigten ein höheres Bedürfnis nach menschlichen Beziehungen (ebd., 183). Das kann nun einerseits bedeuten, dass die Gemeinschaft nur als Mittel des Bestehens im Wettbewerb gesehen wird, also rein instrumentell. Auf diese Weise wirken ja auch die Teams, Gruppen und Firmenbelegschaften innerhalb des wirtschaftlichen kapitalistischen Wettbewerbs. Wenn Menschen dort intrinsisch das Bedürfnis hätten zusammenzuarbeiten, bräuchte man sicher viel weniger „Projektmanagement“.
Zum Aufwachsen der jungen Generation gehören letztlich der Gameboy, die Playstation und das Austauschen über die neuesten Computerspiele dazu. Hier sind eher jene isoliert, die da nicht mitreden können. (Vgl. Beck, Wade 2006, 57)
Spiele für die Subalternen
Eins der ersten Videospiele, Spacewar!, wurde von Hackern am MIT entwickelt. Es tauchte dann als Bezahlspiel in Uni-Cafeterien auf und verbreitete sich auf institutionellen Rechnern schnell. Viele Nutzer erweiterten dabei die Funktionen. Steward Brand (1972) erhoffte sich, dass mit sinkenden Preisen für die Hardware die „Hacker übernehmen“ würden. Da gab es noch kein Microsoft, kein Google und kein Facebook. Ähnliche Spiele, insbesondere die Ego-Shooter von Atari, wurden bald zum Training von Soldaten genutzt: „Aus einer Hippie-Version und real existierenden Alternativfirma war ein straff geführtes Unternehmen mit reservierten Parkplätzen für die BMWs der Marketingabteilung geworden, das keine Skrupel hatte, dem militärisch-industriellen Komplex beizutreten.“ (Mertens, Meißner 2002, 72f.) Wie in allen Kultursphären findet auch in der „elektronische Revolution in der massenkulturellen Konsumtion“ eine „kapitalistische Kulturrevolution von oben“ (Haug 2011, 279) statt. Sogar oder gerade wenn die Impulse für neue Kulturen „von unten“ kamen, werden sie vom herrschenden System schnell übernommen: „Die kulturellen Blumen werden ständig von den ideologischen Mächten gepflückt und als ‚unverwelkbare‘ Kunstblumen von oben nach unten zurückgereicht …“ (ebd., 52).
Auch im zivilen Bereich übernahmen nicht etwa die Hacker, sondern der Commerz: „Von Spielern für Spieler hieß es mal, heute werden die Kühe gemolken. Wenig Content für maximalen Profit. Fürstliche Gewinne …“ (Mailmanhro 2015). Die Indie Games und Art Games können demgegenüber nur wenig ausrichten.
Mehrheitlich verstärken die Spielewelten und -aktivitäten eine Weltanschauung und ein Verhalten, wie sie zum heutigen Kapitalismus perfekt passen. Begrenzungen, z.B. in den vorgegebenen Regeln, werden nicht kritisch hinterfragt, sondern als gegeben hingenommen. Trotzdem wird der Eindruck erzeugt und verbreitet, alles sei möglich und der Einzelne könne letztlich immer gewinnen. Die Dominanz des Wettbewerbs als natürliche Gegebenheit wird akzeptiert, verstärkt und sogar als Quelle des Spielgenusses ausgelebt. Dass es immer nur um ein begrenztes und unpersönliches Ziel geht, wird von Beck und Wade (2006) auch als richtig empfunden, denn „so is business“. „Man spiele, was die Gesellschaft sowieso von den Bürgern möchte: Aufbau, Leistung, Konkurrenz, Weiterkommen. Nur mache es in diesem Fall Spaß.“ (P. M. Ong, zitiert in Gamelab.ch).
In der Welt der Spiele, die die Weltsicht der Gamer prägt, sind andere Menschen entweder meine Gegner oder meine Verbündeten im Kampf gegen Anderes oder Andere. Ich brauche diese Verbündeten nur als Mittel meines/unseres Sieges, uns verbinden keine anderen menschlichen Gemeinsamkeiten. Die Freundschaften, die sich zwischen Spielern aufgrund der gemeinsamen Spielerfahrungen entwickeln, auch wenn sie innerhalb des Spiels Gegner sind, wirken eher wie Kriegskameradschaften als menschliche Beziehungen, in denen sie sich gegenseitig in ihrer Menschlichkeit bestätigen könnten. Diese bestimmte Art von Sozialität passt auch zu jener Art Teamgeist, wie sie in Unternehmen als Kampfgemeinschaft gegen die Konkurrenz gebraucht wird. Auch Mertens und Meißner (2002) haben die Erfahrung gemacht, dass sich ihre Spieleerfahrungen und -fähigkeiten gut vermarkten können: „Irgendwann würde diese Welt auch uns rufen, zu was auch immer. Dass es Webdesign, Datenbankverwaltung, Online-Redaktion sein würde, konnten wir noch nicht wissen.“ (Mertens, Meißner 2002, 141) Die Umfrage von Beck und Wade (2006) ist so angelegt und wird auch so ausgewertet, dass genau diese Passfähigkeit zu den kapitalistischen Verhältnissen abgefragt wird. Unternehmerisch entsprechen die geschilderten Weltbilder und Fähigkeiten wie schnelle Informationsverarbeitung, Multitasking, Frustrationstoleranz, strategisches Denken und die Bevorzugung vernetzter Kontakte genau dem Anforderungsprofil von Unternehmern und Arbeitern im High-Tech-Kapitalismus. Der Titel ihres Buches „the kids are alright“ kann deshalb nur dann beruhigen, wenn man diese Passfähigkeit gut findet. In der Bundesrepublik wurde 2014 ein Nachwuchswissenschaftler*innen-Projekt prämiert, das unter dem Titel „Wer nicht zockt, bleibt dumm!?“ digitale Spiele in der Öffentlichkeit thematisiert. Haben die Non-Gamer auch in der jungen Generation eher das Nachsehen, weil sie bestimmte geforderte Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale eher nicht haben? Beck und Wade sehen ihr Ziel vor allem darin, Unternehmer der nicht so spieleaffinen Generation zu ermuntern, die besonderen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Gamer in ihren Unternehmen nutzbar zu machen.
So sieht es also aus, wenn nicht mehr nur das sowieso schon Schwere im Leben dem Kommerz unterworfen ist, sondern auch noch das, was letztlich Quelle von Freude und Spaß ist. „Subaltern“ bleibt es dann, wenn es zum „soziale[n] Dasein unter der ökonomischen und kulturellen Hegemonie einer privilegierten Klasse“ gehört (Haug 2011, 139).
Die Folgen der Unterordnung werden im Spiel auch direkt erlebt. Der „Kern-Spielmechanismus“ liegt zugegebenermaßen in der „stetigen Bedrohung“ (Bauer o. J.). Im wirklichen Leben macht das eher weniger Spaß. Genau hier verläuft wohl die Trennlinie zwischen wirklichem Leben und Spaß. Solange das eigene Agieren in der Wirtschaftswelt tatsächlich als derartiges Spiel verstanden werden kann mit Anstrengungen, Verbesserungen, Belohnungen und Siegen, verwischt diese Linie. Für jene, die übrig bleiben, weil nicht alle und nicht immer siegen können, also die vielen Untergebenen, die es als heldenhafte Spielrolle ja gar nicht gibt, und die Ältergewordenen und die Prekären und Überflüssigen dieser wirklichen Welt, ist die Welt der Spiele mit ihren nur gespielten, d.h. eingebildeten Siegen dann wenigstens ein Ersatz. Sie brauchen besonders viel Frustrationstoleranz und den Glauben daran, dass ständige Trial-and-Error-Schleifen letztlich so etwas wie Erfolg bringen können.
Letztlich sind die Computerspielewelten auch realistischer als in vielen anderen kulturellen Praxen: „Von Star Trek abgesehen herrscht Einigkeit. Unsere Zukunft wird düster. Wahrscheinlich hat es überhaupt noch nie in der Geschichte der Menschheit ein Erzählmedium gegeben, dessen Zukunftsprognosen einheitlich apokalyptisch ausfielen wie die der Computerspiele. An eine auch morgen noch funktionierende Ökosphäre glaubt in den Programmierstudios schon lange keiner mehr, dafür jedoch an die politische Dominanz von wirtschaftlich orientierten Konglomeraten und daran, dass die Menschheit zwar ihre Waffentechnologie weiterentwickeln wird, nicht aber gleichzeitig ihren ethischen Horizont.“ (Mertens, Meißner 2002, 185)
(Nicht nur) neue Computerspiele braucht die Welt …
In einer Erzählung lässt Tobias O. Meißner wenigstens eine Protagonistin (Centipede) daran zweifeln, ob die Computerspielwelten immer so düster sein müssten. Sie maulte, wie so oft, „dass es eigentlich schade sei, dass alle guten Computerspiele vom Schießen und Verprügeln handelten, während sie sich doch eigentlich danach sehnte, ‚etwas Schönes zu suchen und zu finden‘. Wie immer widersprachen Suicider und Smugglerboy mit dem Argument, dass es nichts Schöneres zu finden gäbe als einen guten virtuellen Krieg, und da Centipede diesem Argument mangels Alternativen wohl zustimmen musste, war damit das Thema wie immer vom Tisch.“ (Meißner 2001, 111)
Ist es tatsächlich für immer vom Tisch? Kulturpraxen haben immer auch ein kritisches Moment. In ihnen finden Kämpfe um die kulturelle Hegemonie statt. Es macht sich auch nicht immer nur an dem Ort und der Art der Herstellung fest, ob ein digitales Spiel im konkreten Fall als Affirmation herrschender Verhältnisse wirkt oder auch als „Form des Aufrichtens aus dem Subalternen“ (Antonio Gramsci nach Haug 2011, 137). Die Anerkennung der Düsternis der Spielewelten kann auch Verweigerung der Schönmalerei der wirklichen Welt bedeuten. Dieser Realismus kann ins Zynische umschlagen, aber die Gamer sind es gewohnt, sich nicht vor Herausforderungen zu verstecken. Sobald sie sehen, dass in der wirklichen Welt tatsächlich etwas getan werden kann, könnten sie ihre Fähigkeiten auch hier einbringen. Gerade die Imagination des Spielers als aktiv und (wenigstens beschränkt) ergebnis- und zielorientiert kann diese Bedürfnisse und Fähigkeiten auch im Leben jener aufrechterhalten und stärken, die ausgestoßen sind aus den produktiven gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Kulturelles Tun weist immer auch über nur fremde und bloß individualistische Zwecksetzungen hinaus. Wenn man Kultur versteht als „ein[en] Aspekt in der Gesamtheit der Beziehungen, und zwar de[n] Aspekt, insofern Menschen sich ihre Aktivitäten als sinnvoll und sinnlich genießbar einrichten“ (Haug 2011, 265), so lässt sich die Erfahrung des Sinns nicht in der Spielewelt einsperren. Kultur ist das, „was nicht in fremdem Interesse oder für einen außer diesem gegenwärtigen Leben liegenden Zweck geschieht“ (ebd., 94). Digitale Spiele werden zwar im Profitinteresse der Spieleindustrie und damit für einen äußeren Zweck hergestellt, aber aus Nutzersicht steht das im Mittelpunkt, was es als seine Lebensäußerung bestimmt. Die Bedeutung des Spielens wird auf jeden Fall vom Aktiven selbst bestimmt, das Individuum steht auch hier in einer Möglichkeits- und nicht einer ihn vollständig determinierenden Notwendigkeitsbestimmung. Die Entscheidung zwischen den Möglichkeiten kann „im Einzelfall ins Privat-Hedonistische oder auch Regressive gehen“ (Haug 2011, 50). Sie ist widersprüchlich, weil das Regressive im Emanzipativen verborgen bleibt und weil in allem Regressiven auch Emanzipatives sein kann. Denn: „Als Universalie menschlichen Daseins vermag sie alle Formen anzunehmen, doch immer entspringt ihr Ja der Selbstbejahung der Subjekte.“ (Ebd., 50) Es mag zwar scheinen, dass sich die Gamer voll dem Spiel und dem Gruppendruck ihrer „Gilde“ unterwerfen, aber sie tun dies aus eigener Entscheidung. Sie treffen die Entscheidung, lieber mit der Gilde zu kämpfen, statt mit der Familie Abendbrot zu essen, selbst, sie setzen den Zweck ihrer Existenz – auch wenn dieser aus der Außensicht und manch zeitlich späterer Selbsteinschätzung in die Sackgasse der Mediensucht münden kann. Nur an dieser Selbstbestimmung kann angesetzt werden, wenn das Potential der Gamer in der Welt außerhalb der Spieler zu Wirksamkeit kommen soll. Fremdbestimmung oder Zwang wäre das genaue Gegenteil davon.
Es gibt keine einfache Schwarz-Weiß-Entgegensetzung von Affirmativem und Emanzipativem. Stattdessen gibt es Widerspruch: Jede der Seiten enthält die andere. Was in antagonistischen Verhältnissen befreit erscheint, trägt die vereinzelnde Gesellschaftsstruktur noch in sich – aber auch das, was herrschaftlich geprägt ist, ist nicht nur herrschaftsbildend. „Da überall die kulturelle Unterscheidung am Werke war, ist auch die resultierende, herrschaftlich wie kommerziell überdeterminierte K[ultur] mit Utopie geladen.“ (Haug 2012, 315) Wenn Kultur sowieso immer, also auch bei den Coach-Potatoes, etwas mit Eigentätigkeit zu tun hat, so ist diese Eigentätigkeit bei digitalen Spielen zum Prinzip geworden. Es sollten hier umso mehr „Keimformen der Eigentätigkeit im Zustand der Fremdbestimmtheit“ (Haug 2011, 175) gefunden werden können. Wo gibt es in der digitalen Spielewelt „Ansätze einer Insubordinationskultur“ (ebd., 185)? Welche Kulturpraxis könnte die sinnlichen Genussmomente der digitalen Spielewelt weitertreiben, so dass mit ihr eine gemeinschaftliche Selbst-Zwecksetzung erprobt und ausgeweitet werden kann?
Wie schon bei der utopischen Literatur scheint es ohne die antagonistische Konfliktstruktur aus den Klassengesellschaften schwer zu sein, Spannung und Lese- bzw. Spielspaß zu erzeugen. Kann auch das Handeln in kooperativen und nichtantagonistischen Konflikten wirklich Spaß machen? Nur allzuoft endet der Versuch, die Form der Spiele für pädagogisch-agitatorische Zwecke zu nutzen, in purer Langeweile. Der anscheinend gute Zweck führt dazu, dass die Selbstzwecksetzung der Nutzer unterlaufen wird, die nach Haug wesentlich das Kulturelle bestimmt.
Welche Art kultureller spielerischer Praxis auf digitaler Basis könnte es geben, bei der die Aktiven ihre Zwecke selbst setzen und dabei zu Flow-Erlebnissen kommen? Es ist zu erwarten, dass nicht nur der Inhalt der Spiele verändert werden muss. Auch der Effekt, den Erfolg an Siegen über andere zu messen, ist alles andere als emanzipativ.
Zu erinnern ist an viele sehr schöne Erlebnisse in alternativ-solidarischen Kultur- und Wirtschaftsprojekten. Aber es wird nicht ausreichen, und es wäre sinnlos und bedauerlich, die Digital-Gamer mit Erlebnispädagogik zurückholen zu wollen. Es wäre schade, auf viele Bedürfnisse und Fähigkeiten, die sich in digitalen Spielen entfalten und ausdrücken, zu verzichten in einer lebenswerten herrschafts- und kapitalfreien Zukunft und auf dem Weg dahin.
Wahrscheinlich werden die Erfahrungen und Fähigkeiten zur komplexen Systemanalyse durchaus nicht nur zur profitablen Verwertung gebraucht, sondern auch für die Meisterung der bedrohlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Zukunftsoptionen – auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft. Computerspiele fördern Weitblick, ökosystemisches Denken und Pilotprojektmanagement. Abgesehen vom fehlenden Neustart-Button haben Gamer durchaus Erfahrungen mit so etwas wie der „Kunst der Planetenführung“ (McGonigal 2012, 388), die angesichts der Gefahren für das Menschenzeitalter auf der Erde (Schlemm 2015) notwendig wird.
Literatur
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