von Alfred Fresin
Die Demokratie ist eine Form bürgerlicher Herrschaft und bedeutet in die deutsche Sprache übertragen „Volksherrschaft“. Diese ist ein mit Macht und Gewalt ausgestattetes politisches System, gepaart mit einer Ökonomie namens Kapitalismus. Eine tragende Rolle in diesem System spielt das „Volk“, denn in der Verfassung demokratischer Staaten wird als konstituierend festgehalten:
„Die Gewalt geht vom Volke aus“
„Aber wo geht sie hin?“ fragt Brecht in seinem Gedicht zur Weimarer Verfassung und problematisiert die Niederschlagung von Volksaufständen durch die Staatsgewalt. Es mutet schon seltsam an, dass „das Volk“ die Gewalt an einzelne Repräsentanten delegiert, denen es dann obliegt, jene auch gegen das Volk einzusetzen – oder andersherum: das Volk gibt die Gewalt an die Regierung weiter, um sich dann deren Gewalt zu unterwerfen. Dieser Widerspruch ergibt sich aus der ideologischen Sichtweise der Rechtfertigung der Herrschaft. Die Herrschaft beruft sich bei der Ausübung ihrer Gewalt auf das Volk – wenn Recht gesprochen wird, dann im „Namen des Volkes“. In der Ideologie erscheint es so, als ob das Volk den Staat konstituieren würde und nicht umgekehrt, wie es tatsächlich der Fall ist, der Staat das Volk. Die Rechtsprechung selbst hält dies auch fest: „Die Formel Im Namen des Volkes ist Ausdruck dafür, dass die Rechtsprechung wie alle Staatsgewalt … vom Volk ausgeht (Volkssouveränität). Die Formel bedeutet nicht, dass der Inhalt der Urteile dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der Bevölkerung entsprechen müsste. Die Entscheidung der Richter ist vielmehr alleine an das Gesetz gebunden.“ (Wikipedia)
Wer bzw. was ist eigentlich „das Volk“? Bei dieser Mengenbezeichnung wird gänzlich von dem abgesehen, wovon die Menschen leben, ob sie Arbeiterinnen bzw. Arbeiter oder Unternehmerinnen bzw. Unternehmer, ob sie Hausbesitzer, Bauern, Polizisten, Politiker etc. sind. Es bleibt keine andere konstitutive Gemeinsamkeit übrig als die, Personalbestand eines Staates und als solcher dessen Gewalt unterworfen zu sein. Wie üblich wird dieses Verhältnis in der Ideologie andersherum gesehen. Da wird das Volk zu einer „Gemeinschaft“, die sich ihren Staat konstituiert und ihre Gewalt an diesen abgibt bzw. delegiert. Realiter ist es die Staatsgewalt, die bestimmt, wer zu dieser Gemeinschaft gehört und ob er als Bürger „erster Klasse“, „zweiter Klasse“ (z.B. mit anderer Nationalität) oder als „Abzuschiebender“ bzw. „Auszuweisender“ gilt.
Aus dem Begriff „Volk“ erwächst eine „Gewalt“. Es wird in der Verfassung gar nicht erklärt, weshalb es ihrer bedarf, sondern sie wird vorweg unterstellt. Der bürgerliche Staat hat ein Wirtschaftssystem eingerichtet, das aufgrund der in ihm bestehenden Gegensätze einiges an Gesetzen benötigt, damit es brauchbar ist, die staatliche Souveränität politisch und ökonomisch zu stärken. Da gibt es in Bezug auf Eigentum, Geld, Konkurrenz, Lohnarbeit, Familie etc. staatliche Satzungen, die ständig gemäß aktueller Gegebenheiten erweitert und erneuert werden – die Klassengesellschaft, die Marktwirtschaft und auch das Verhältnis zu anderen Staaten bieten dazu genügend Anlässe. Diese Gesetze werden vom Staat (und seinen Institutionen) kraft seiner Gewalt durchgesetzt. Die entwickelte Demokratie ist keine Willkürherrschaft, die Gewalt ist nicht von einer bestimmten Person abhängig, sondern verschafft einem Recht Geltung.
Es ist also der Staat, der sein Volk bestimmt und über das er Gewalt ausübt – und nicht umgekehrt. Deshalb ist die Kritik Brechts, dass die Gewalt vom Volke ausgeht, aber dann beim Staat bleibt und gegen das Volk ausgeübt wird, nicht korrekt, denn die Gewalt war und ist nie beim Volk. Das Volk wird erst durch die vom Staat gesetzte Verfassung zum Souverän und zwar dadurch, dass es zu gewissen staatspolitischen Alternativen per Kreuzchen Stellung nehmen kann und soll.
Damit tritt das in den Fokus der Betrachtung, was als das Prunkstück bürgerlichen Demokratien gilt, nämlich
„Freie Wahlen“
Vorerst sei erwähnt, was in entwickelten Demokratien nicht zur Wahl steht:
Erstens das Rechtssystem, das Rechte und Pflichten der Bürger untereinander und gegenüber der Staatsgewalt festlegt. Dessen Pflege und Betreuung wird den entsprechenden Institutionen (Gewaltenteilung) des bürgerlichen Rechtsstaates überlassen. Dazu gehört auch die Bewaffnung einiger Staatsbürger, um den Staat nach innen und außen zu sichern und gegebenenfalls „vorwärts zu verteidigen“.
Zweitens das Produktionsverhältnis, das mit diesem Rechtssystem eingerichtet ist, also die Festlegung der Bürger auf ihr Eigentum als Quelle ihres Lebensunterhalts, was für den Großteil der Staatsbürger bedeutet, diesbezüglich auf ihre Arbeitskraft verwiesen zu sein. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die andere für die Mehrung ihres Eigentums arbeiten lassen. Schon gar nicht abwählbar ist das Geld mit dem dazugehörigen Bankwesen.
Was zur Wahl steht, sind Politikerinnen und Politiker verschiedener Parteien, die sich der „besonderen Herausforderung“ stellen wollen, ihr Staatsvolk gut zu regieren, was bedeutet, mit dem vorgegebenen Rechtssystem und Produktionsverhältnis bestmöglichen Staat zu machen. Der Hinweis, dabei im Sinne „der Menschen“ agieren zu wollen, ist schon ziemlich verräterisch, denn diese Betonung legt nahe, dass dies der vollzogenen Politik nicht immer entnommen werden kann. Mit dem Begriff „Menschen“ wird elegant von den Interessensgegensätzen abgesehen, die es notwendigerweise in dieser Gesellschaft gibt.
Einhelliger Tenor herrscht bei den Parteien darüber, dass es „der Wirtschaft“ gut gehen müsse, damit es den Menschen auch gut gehe – dass das nicht stimmt, wissen alle, die mitbekommen, dass trotz Wirtschaftswachstums die Arbeitslosigkeit, Reallohnverluste und Armut zunehmen. Politikern aller Couleurs ist klar, dass Wirtschaftswachstum mehr Geld in die Staatskasse spült, welches dann, und da ergeben sich die parteipolitischen Unterschiede, nach gewissen Gesichtspunkten ausgegeben werden soll. Gepaart mit einer ausgefeilten Steuerpolitik soll dann jeweils mehr für soziale Belange, den Umweltschutz, die Wirtschaftsförderung, die Ausbildung, die Kinder, die Alten, die Kranken etc. „getan werden“ – oder eben daran gespart werden. Auch unterschiedlichste ideologische Standpunkte werden von den Parteien bedient und stehen zur Wahl, solange sie sich mit ihren Anliegen nicht außerhalb des Rechtssystems bewegen.
In den entwickelten bürgerlichen Demokratien ist mit den Ideologien nach der Übernahme der Macht dann sowieso Schluss. Dann heißt es Sachnotwendigkeiten anzuerkennen und das Staatsinteresse durchzusetzen. Da ist dann schwer auszumachen, ob staatspolitisch wichtige Entscheidungen, wie z.B. Soldaten in einen Krieg zu schicken, einer linken, rechten, liberalen oder grünen Gesinnung entsprungen sind.
In der Regel wird bei den Wahlen auch ein Personenwahlkampf geführt. Selten sind es Fachleute, die ihr Wissen anbieten, denn auf Wissen kommt es dabei nicht so sehr an. Vielmehr gefragt sind Charisma, Glaubwürdigkeit, Durchsetzungsvermögen, kurz alles, was einen Erfolgsmenschen in dieser Gesellschaft so ausmacht. Der Wahlkampf wird auf eine „Persönlichkeit“ zugeschnitten – auf Plakaten erscheint dann oft nur mehr ein lächelndes Konterfei.
Die personelle Besetzung eines oder mehrerer Regierungsämter wird alle paar Jahre zur Disposition gestellt. In entwickelten Demokratien sind das Amt und seine Aufgaben nicht an eine bestimmten Person gebunden, sondern umgekehrt, der Gewählte hat sich voll und ganz dem Staatsinteresse zu widmen und dies nicht mit seiner privaten Macht- und Vermögensvermehrung zu verquicken. Dass es dabei immer wieder zu Korruptionsfällen kommt, wird eher als Ausnahme von der Regel gesehen. (In „weniger entwickelten Demokratien“, mit geringer oder kaum vorhandener kapitalistischer Reichtumsvermehrung wird das politische Amt als Bereicherungsmöglichkeit angestrebt und Wahlen von blutigen Clan- und Stammeskriegen begleitet oder als Deklamation für einen Machtinhaber veranstaltet. In diesen Fällen wird dann herablassend davon gesprochen, dass die Menschen dort nicht „reif genug“ für die Demokratie seien.)
Im Wahlkampf wird jedenfalls alles versucht, nahe beim „Volk“ zu sein – nicht ohne ab und zu, kräftig unterstützt von der Journaille, darauf hinzuweisen, dass die Wählerinnen und Wähler nicht einem plumpen „Populismus“ auf den Leim gehen sollten.
Alle paar Jahre stehen sie im Mittelpunkt des Politikerinteresses und werden von ihnen umworben:
Wählerinnen und Wähler
Sie haben am Wahltag die Möglichkeit, mit ihrer Stimme in Form eines Kreuzchens zur Politik des Landes Stellung zu nehmen. Das Gewicht einer einzelnen Stimme ist nicht bedeutend, es werden ja keine inhaltlichen Stellungnahmen zur Politik abgegeben an denen sich dann die Politik auszurichten hätte. Nur die Quantität der Kreuzchen ist ausschlaggebend – dies trifft auch bei Volksabstimmungen und Volksbefragungen zu, bei denen sich die Regierung die Entscheidung darüber vorbehält, wie mit dem Ergebnis zu verfahren ist.
Die meisten Wahlberechtigten machen sich hinsichtlich der Bedeutung ihres Kreuzchens keine Illusionen. Sie wissen, dass „die da oben dann sowieso machen, was sie wollen“ und einige verzichten von vornherein auf die Abgabe ihrer Stimme. Wenn die Wahlbeteiligung nach dem Geschmack der Politiker zu gering ausfällt, dann finden sie das bedenklich. Sie wollen ja eine deutliche Ermächtigung von ihrem Staatsvolk und sie nehmen sich vor, die „Nichtwähler“ das nächste Mal zurückzugewinnen. Auch die Öffentlichkeit ist verstört und warnt vor „Politikverdrossenheit“. Hat die Opposition allzu große Zugewinne, dann spricht man von einer „Denkzettelwahl“ – was soviel heißt, dass die oppositionelle Partei nicht wegen ihrem Wahlprogramm gewählt wurde, sondern nur, um die derzeit Mächtigen vor den Kopf zu stoßen.
Die meisten Wähler wissen auch, dass zwischen ihrem abgegebenen Kreuzchen und ihrem Wohlergehen kein direkter Zusammenhang besteht. Sie wissen, dass ihr Interesse sich an den staatspolitischen Kriterien, wie dem Staatshaushalt, der Wirtschaftslage, der inneren und äußeren Sicherheit zu relativieren hat. Sie sind, bis auf ein paar Ausnahmen, der Meinung, dass es auf die von der Politik vorgegebenen Kriterien, nämlich auf Wirtschaftswachstum, auf Schaffung von Arbeitsplätzen, auf eine mehr oder weniger kontrollierte Marktwirtschaft, auf Sicherheit, Ordnung und Umwelt, auf ein in der Konkurrenz der Staaten erfolgreiches Staatswesen anzukommen hat. Dafür geben sie denjenigen ihre Stimme, von denen sie am ehesten annehmen, „gut“ zu regieren. Wenn dann wieder eine Wahl ansteht und sie feststellen, dass sich ihre materielle Lebenssituation nicht verbessert bzw. sogar verschlechtert hat, so führen sie das entweder auf ihr eigenes Versagen oder auf das der herrschenden Politiker zurück – ganz wenige lasten es dem politökonomischen System an. So gehen sie also wieder zur Wahl, geben „neuen Gesichtern“ eine Chance oder werfen einen „Denkzettel“ in die Wahlurne. Als gut erzogene Staatsbürger nehmen sie ihr Recht wahr, das ihnen von der Herrschaft zugestanden wird.
In den erfolgreichen kapitalistischen Staaten wird die
Demokratie als sozialer Wert
angesehen, als die beste Form des gesellschaftlichen Miteinanders. Diese Herrschaftsform wird nicht als Herrschaft des zugrundeliegenden ökonomischen System wahrgenommen, sondern als ein davon losgelöster eigenständiger Inhalt.
Mit der Abgrenzung zum „Realen Sozialismus“ (meist mit dem Stalinismus gleichgesetzt) und Faschismus erfuhr die bürgerliche Herrschaftsform nach dem 2. Weltkrieg die ideologische Aufbereitung als „einzig richtige Staatsform“ (Wikipedia) und als Wert schlechthin. Kriege, die von den westlichen imperialistischen Mächten aus wirtschaftlichen und militärstrategischen Gründen geführt werden, bekommen ihre höheren Weihen als Verteidigung von „freedom and democracy“. Die Demokratie gilt als prinzipiell „gut“ – als „böse“ und „gefährlich“ gelten hingegen Menschen und Nationen, die sich nicht umstandslos zu dieser „Wertegemeinschaft“ bekennen.
Auch Kritiker dieses politökonomischen Systems neigen dazu, die Demokratie als ideales Mitbestimmungsmodell zu erachten, so als ob staatliche Gewalt und Kapitalismus nichts damit zu tun hätten. Sie warnen vor Angriffen auf die Demokratie oder klagen, dass es in der Gesellschaft viel zu wenig „demokratisch“ zugehe. Sie sehen die Demokratie als politisches Verfahren an, Interessensausgleiche herbeizuführen und verlieren den Grund für Interessensgegensätze dabei nur allzu oft aus den Augen.
Auch abseits der großen Politik hat es bei allen Entscheidungen, auch wenn diese nur ein paar Leute betreffen, jedenfalls „demokratisch“ zuzugehen. Bezeichnet werden damit meist Mitbestimmung und Abstimmungen. Auch wenn dabei nicht alle Interessen zum Zuge kommen und sich nicht immer die besten Argumente durchsetzen, adelt das „demokratische“ Verfahren jedenfalls das Ergebnis.
Da die Demokratie bei ihren Untertanen nicht als eine auf Gewalt beruhende Herrschaft, sondern als zu verteidigender Wert angesehen wird, kann man durchaus von einer gelungenen Form bürgerlicher Herrschaft sprechen.