von Andreas Exner und Isabelle Schützenberger*
* Die AutorInnen sind Teil des WWTF-Forschungsprojekts „Green Urban Commons“ (greenurbancommons.wordpress.com).
Die bisherigen Ausführungen sprechen nur einzelne Bereiche des Diskurses zu urbanen Gärten an, veranschaulichen aber bereits die hohen Erwartungen, die mit den Gärten in der Stadt verbunden werden. Inwieweit die Gärten diese jedoch tatsächlich erfüllen können, das reale Potential der Gärten also, ist bislang noch kaum kritisch analysiert worden. Es dominieren Hoffnungen, die sich nicht unbedingt auf empirische Befunde rückkoppeln, genauere Untersuchungen sind noch ausständig. Dennoch wollen wir uns im Folgenden in einem ersten Aufschlag der Frage widmen, welchen Beitrag urbanes Gärtnern nun auf den drei Ebenen der kapitalistischen Spaltung bieten könnte, wenn man von politisierenden Zuschreibungen absieht und vom gesicherten Wissen ausgeht.
Schließung von Stoffkreisläufen: Die urbane Gartenproduktion
McClintock hat schon am Beispiel der Gemeinschaftsgärten in den USA gezeigt, dass urbane Gärten grundsätzlich einen wichtigen Beitrag zu einer materiellen Veränderung des ökologischen Verhältnisses urbaner Räume leisten können – und damit des Verhältnisses zwischen Stadt und Land (McClintock 2010). Freilich setzt ein solcher materiell relevanter Beitrag entsprechende Stoffumsätze, das heißt Erntemengen voraus.
Die Erntemengen aus Gärten sind grundsätzlich schlecht dokumentiert. Auch für Wien gibt es keine derartigen Daten. Ein Blick auf die Flächengrößen vor allem neuer urbaner Gärten in Wien zeigt aber, dass diese in Hinblick auf Obst-und Gemüseproduktion bisher kaum ins Gewicht fallen: Mittels der 80.885 m² oder 0,019 % der Wiener Grünflächen (Referenzwert: Stadt Wien 2005) im Fall der Selbsterntefelder (Pöltner-Roth et Kromp 2013) und rund 35.400 m² oder 0,008 % der Grünflächen im Fall der Gemeinschaftsgärten kann bisher auch unter idealen Bedingungen nur ein sehr kleiner Bruchteil des Gemüsebedarfs der Wiener Bevölkerung gedeckt werden. Potential für eine Erweiterung der Flächen ist jedoch grundsätzlich vorhanden: Nach eigener Abschätzung kämen potentiell rund 8.360 ha der Wiener Grünflächen als Anbauflächen infrage (vgl. Hoffert et al. 2008), womit bei einer Flächenproduktivität von 31,28 t Gemüse pro Jahr und Hektar (Tomkins 2010: 66) unter Annahme eines Jahresbedarfs von 352.012 t theoretisch rund 74 % der Wiener Bevölkerung (1.750.000 Personen, 15 % Kinder) mit Gemüse versorgt werden könnten.
Diese Schätzung ist allerdings sehr grob, zum Beispiel sind Friedhofsflächen nicht exkludiert. Sie lässt auch Aspekte wie beispielsweise die Eignung der entsprechenden Flächen für Gemüseanbau (Lichtverhältnisse und Bodenbeschaffenheit) und Nutzungskonkurrenz außer Acht und ist daher nur ein maximales technisches Potenzial. Dennoch zeigt eine solche grobe Einschätzung, dass die physischen Grenzen des urbanen Gärtnerns in Wien noch lange nicht erreicht sind. Eine weitere Ausschöpfung dieser Möglichkeiten scheint angesichts der zunehmenden Verknappung fossiler Brennstoffe und deren weitreichenden Auswirkungen auf industrielle Formen der Landwirtschaft relevant (vgl. Exner et al. 2008, Hopkins 2008, Müller 2011, Held 2011), wie auch Martin Held betont: „Sie [urbane Gärten] sind Teil des Übergangs vom fossil getriebenen, nicht nachhaltigen Wirtschaften zu einer postfossilen Gesellschaft.“ (Held 2011: 297)
Produktionsverhältnisse und Lebensweisen mit mehr Selbstbestimmung
Die potenzielle Bedeutung der urbanen Gärten für selbstbestimmte Organisationsstrukturen und Kommunikationsprozesse, die als Beitrag zu Ernährungssouveränität relevant sind, wurde bislang nur auszugsweise auch in Fallstudien belegt.
Gerade die Ebene der Kommunikation in den urbanen Gartenprojekten steht mit einem zentralen Anspruch und einer Zuschreibung in enger Verbindung, die sogar einen eigenen Gartentyp charakterisieren soll, nämlich den in diesem Artikel im Zentrum stehenden Gemeinschaftsgarten. Dort soll es vor allem zu sozialer Integration und einer Stärkung von kultureller Vielfalt kommen, indem Kommunikation und gleichrangige soziale Beziehungen gefördert werden. Diese Aspekte sind für Ernährungssouveränität potenziell sehr wichtig, insbesondere wenn damit eine weitergehende Perspektive der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise verbunden ist.
Doch entsprechen urbane Gärten in Hinsicht auf eine Kollektivierung und selbstbestimmte Verwaltung von Produktionsmitteln im Regelfall nicht dem idealen Leitbild einer Solidarischen Ökonomie. Denn die kollektive Tätigkeit in den Gärten in Wien beschränkt sich meistens auf Plenarsitzungen, die Errichtung von Infrastruktur und die Bewirtschaftung eines zumeist kleinen Gemeinschaftsbeetes. Übrigens findet eine solche Form der Kollektivierung, die konstitutiv für herkömmliche solidarökonomische Projekte ist, in den Gärten möglicherweise auch wenig Anreiz in den Produktionserfordernissen selbst. Das gemeinschaftliche Bearbeiten eines Beets bietet keinen Produktivitätsvorteil und auch die kollektive Organisation des Gießens etwa bedeutet mit Ausnahme einer Reduktion von Fahrzeiten keine Arbeitsersparnis pro Ernteeinheit, sofern man konstante Pro-Kopf-Erträge voraussetzt. Dies könnte vielleicht neben anderen Faktoren erklären, warum kollektive Produktion in den Gärten kaum stattfindet, denn sie braucht vermutlich relativ viel genuin politische Motivation.
Die in urbanen Gärten erhoffte Autonomie und Selbstbestimmung bezieht sich daher – bislang jedenfalls – wesentlich auf diskursive Prozesse, die jedoch kaum auf produktionsrelevante Entscheidungen rückgebunden sind. Ob die in den Gärten stattfindenden kommunikativen Prozesse, also Plenarsitzungen und informelle Gespräche zwischen Beetnachbarinnen und -nachbarn, einen Beitrag zu der auch für Ernährungssouveränität entscheidenden sozialen Gleichheit leisten (siehe die Erklärung von Nyéléni 2007), ist eine weitere offene Frage. Die Praxis der Rotation der Gärtnernden in den Wiener Gemeinschaftsgärten steht jedenfalls einer alltagssprachlich verstandenen Gemeinschaftsbildung und darauf basierenden Prozessen von Selbstbestimmung entgegen.
Gleichermaßen wäre die angenommene Funktion einer Selbstbestimmung über öffentlichen Raum zu hinterfragen, die häufig mit urbanen Gärten verbunden wird. Tatsächlich haben urbane Gärten in anderen Städten, namentlich in New York (Smith et Kurtz 2003, Schmelzkopf 1996, Eizenberg 2012) schon als Kristallisationspunkte für politischen Widerstand und soziale Auseinandersetzungen um kollektiv genutztes Land gewirkt. In Wien sind solche Tendenzen bislang kaum sichtbar geworden, mit Ausnahme der Initiative Solidarisch Landwirtschaften (SoliLa: solila.blogsport.eu), die sich allerdings auch nicht als Gartenprojekt definiert, sondern den Begriff der urbanen Landwirtschaft stark macht. Diese in Wien geübte Abstinenz kann allerdings nicht verwundern, waren die New Yorker Gemeinschaftsgärten doch in weit stärkerem Ausmaß das Produkt einer selbstorganisierten Entwicklung, ohne Regulierung oder gar Initiierung durch den lokalen Staat und damit verbundene NGOs. Zudem wurde die emanzipatorische Potenz der Gemeinschaftsgärten in New York eben erst in Opposition zur Stadtregierung sichtbar.
Natur- und Umweltbezug: die Rolle von Wissen und Kommunikation in urbanen Gärten
Für manche der Garteninitiativen bildet die Vermittlung von Anbau- und Saatgutwissen ein zentrales Thema. Ein bekanntes Beispiel ist der Prinzessinnengarten in Berlin (Nomadisch Grün 2012). In den pädagogisch orientierten urbanen Gartenprojekten kann dieser Aspekt sogar die zentrale Rolle spielen. Auch für die individuellen Motivationen der Gärtnernden kann Wissensvermittlung wichtig sein. So kommt in Interviews in Wien immer wieder zur Sprache, dass die Gartenaktiven ihren Kindern Wissen über Gemüse vermitteln möchten (vgl. Schützenberger 2014). Aus ähnlicher Quelle speist sich auch ein Interesse von Schulen für urbanes Gärtnern, das in Wien allerdings bisher noch eine untergeordnete Rolle spielt, im Unterschied zu vielen Städten in den USA beispielsweise (Draper et Freedman 2010).
Neben der Vermittlung von Wissen erfüllen urbane Gartenprojekte noch eine allgemeinere kommunikative Aufgabe. Die sozialen Kontakte im Rahmen der Gärten führen zu einem Austausch nicht nur von Wissen über Gemüsesorten, Anbaumethoden oder Saatgutvermehrung. Sie können auch einen Raum für weiterführende Diskussionen darüber öffnen, wie das Lebensmittelsystem umgestaltet werden sollte. Inwieweit dies in den Gärten tatsächlich geschieht und ob dies auch materielle Auswirkungen hat, etwa in Form einer Verhaltensänderung der Beteiligten oder eines wachsenden politischen Engagements, sind offene Fragen. Manche Projekte in Wien, namentlich Grünstern-LoBauerInnen, haben sich von vornherein stark an ihrem Beitrag für Ernährungssouveränität ausgerichtet (Schützenberger 2014).
Unsere Diskussion hat bis hierher vor allem nach der materiellen Relevanz des urbanen Gärtnerns für Selbstbestimmung und Ernährungssouveränität gefragt, deren Kriterien sich etwa in den sechs Prinzipien des Nyéléni Forum 2007 ausdrücken. Doch hat der Begriff der Ernährungssouveränität, wie gezeigt, noch einen strategisch-dynamischen und einen überschießend-inspirierenden Gehalt.
In strategischer Hinsicht muss man das urbane Gärtnern in Wien in Beziehung mit einer Reihe von AkteurInnen setzen, die teilweise selbst Verbindungen zu Ernährungssouveränität ziehen. An erster Stelle zu nennen ist hierbei der Gartenpolylog, dessen Jahrestagung 2013 unter dem Motto der Ernährungssouveränität stattgefunden hat. Allerdings zeigte sich dort auch, dass die KoordinatorInnen oder LeiterInnen und aktivistischen Kerngruppen der Gartenprojekte, die vornehmlich das Publikum stellten, ihre Auseinandersetzung mit Ernährungssouveränität erst begonnen haben. An zweiter Stelle bildet die in Wien seit einigen Jahren zunehmend lebendigere Szene des Lebensmittelaktivismus insgesamt eine wichtige Verbindung zu Ernährungssouveränität.
Die Gruppe SoliLa hat 2012 und 2013 die ersten Landbesetzungen in Wien seit der Zwischenkriegszeit mit Blick auf die Nahrungsmittelproduktion durchgeführt. Zudem hat sich das Gartenprojekt Grünstern-LoBauerInnen, unter anderem ausgehend von Erfahrungen in Foodcoops, implizit der Problemstellungen der Ernährungssouveränität angenommen (Schützenberger 2014). Und auch die sich in jüngster Zeit in Wien etablierenden CSAs können als RahmenakteurInnen der urbanen Gärten gelten. Zu nennen wäre schließlich auch das globalisierungskritische Netzwerk Attac, das sich insbesondere in seiner Inhaltsgruppe AgrarAttac der Ernährungssouveränität widmet, mit Berührungspunkten zu den urbanen Gärten. Die genannten AkteurInnen des Lebensmittelaktivismus im Allgemeinen behandeln urbanes Gärtnern jedoch nur am Rande, während die Garteninitiativen sich umgekehrt bisher kaum mit Ernährungssouveränität befassen. Wie deutlich wurde, ist bislang auch der tatsächliche oder mögliche Beitrag der urbanen Gärten zu Ernährungssouveränität nicht ganz klar.
Was den sozusagen überschießenden, inspirierenden Gehalt der Ernährungssouveränität angeht, so gibt es keine eindeutigen Hinweise, dass die Gärtnernden – jedenfalls die in Wien – eine weitergehende gesellschafts- und ernährungspolitische Perspektive mit ihren Projekten verbinden, oder gar eine antikapitalistische Umwälzung, worauf Ernährungssouveränität in einem weiten Begriffsverständnis ja verweisen soll. Die lokalstaatlichen AkteurInnen setzen solche Bezüge in keiner Weise, auch beim Gartenpolylog drängt sich eine solche Annahme nicht unbedingt auf. Eine Ausnahme sind Attac und Foodcoops.
Diese bewusst vorsichtigen Feststellungen führen uns zur allgemeinen Frage der möglichen Bedeutung der Gartenpraxis selbst für eine Konzeption von Ernährungssouveränität, die sich auf den urbanen Raum hin orientiert. Kann das Gärtnern als solches schon als Schritt zu Ernährungssouveränität gelten, auch wenn es bisher kaum relevante materielle Erträge vorweisen kann und auch das dabei vermittelte Wissen, solche Erträge zu generieren, sich erst zu beweisen hätte? Oder muss zu dieser Praxis noch wesentlich das Element der Ernährungssouveränität als politischer Konzeption hinzutreten, also jene „andere Art des Denkens“ über Ernährungsfragen, von der im ersten Teil des Artikels mit Verweis auf Akram-Lodi (2013) die Rede war?
Anders gefragt: Kann eine Gartenpraxis, wo sie weder ertragsmäßig oder beim Wissensaufbau ins Gewicht fällt noch mit Ernährungssouveränität diskursiv verbunden wird, dennoch einen Schritt in diese Richtung darstellen? Die Hoffnung, dass dem so sei, wird im Diskurs des urbanen Gärtnerns häufig mit dem Verweis auf eine dadurch verstärkte Eigenmacht der Gärtnernden begründet (siehe Heistinger 2011: 309).
Grundsätzlich äußert sich in den urbanen Gärten sicherlich das Motto „Do it yourself“, das schon in den Bewegungen nach 1968 eine wichtige Rolle spielte und in letzter Zeit einen Aufschwung zu erfahren scheint. Kann das Moment der Eigentätigkeit in den Gärten indes schon als Schritt hin zu Ernährungssouveränität gelten?
Mit einem „Do it yourself“ allein ist wohl noch nicht viel gewonnen, wenn es nicht bestimmte Umschlagspunkte überschreitet, also die Autonomie der Lohnabhängigen materiell erhöht. Würde schon die Gartenpraxis selbst ein Beitrag zu Ernährungssouveränität sein, so hätten die vor der industriellen Landwirtschaft verbreiteten Erfahrungen eigentätigen Gemüsebaus wesentlich als Widerstandspunkte gegen diese Produktionsweise fungiert, doch war das historisch kaum zu beobachten. Auch für heutige Verhältnisse gilt das nicht notwendigerweise. In Russland etwa, wo rund die Hälfte des Agraroutputs in Datschen-Gärten und anderen kleinteiligen Formen erzeugt werden, wird der Gartenbau von den Gärtnernden nur als Notbehelf verstanden, nicht als Perspektive (Spoor et al. 2013: 16).
Fassen wir zusammen: In urbanen Gärtnen drücken sich auch für Ernährungssouveränität relevante Motive aus, nämlich ein neues ökologisches Verhältnis herzustellen, Produktionsverhältnisse und Lebensweisen selbst zu bestimmen und einen neuen Naturbezug zu entwickeln. Doch werden diese Motive von den AkteurInnen bisher nur in geringem Maße im Rahmen einer Perspektive der Ernährungssouveränität diskutiert und koordiniert oder strategisch entwickelt.
Vom Gemeinschaftsgarten…
Wenn wir Ernährungssouveränität als eine Perspektive für die Lebensmittelproduktion im Rahmen einer Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise verstehen, dann umfasst sie, wie erläutert, verschiedene Aspekte:
+ erstens Alternativen zu den Produktionsmethoden des Agrokapitals;
+ zweitens sozial kontrollierte Lebensmittel- und Inputmärkte oder überhaupt nicht-marktförmige Verteilung;
+ drittens selbstbestimmte Agrar- und Lebensmittelpolitiken.
Diese Aspekte entsprechen einer vielfältigen Bewegung zur Überwindung der drei charakteristischen Spaltungen des Kapitalismus erstens auf der Ebene des ökologischen Verhältnisses (Schließung von Stoffkreisläufen), zweitens auf der Ebene der Produktionsverhältnisse (selbstbestimmtere Arbeits- und Verteilungsstrukturen) und drittens auf der Ebene des kognitiven und psychischen Natur- und Umweltbezugs (mehr Kontakt mit der Natur und mehr Umwelt- und Produktionswissen).
Die dritte hier relevante Ebene hat für die Bäuerinnen und Bauern als wichtige, global gesehen auch zentrale AkteurInnen von Ernährungssouveränität weniger Bedeutung als für Städterinnen und Städter, auf die sich unser Artikel konzentriert. Der kognitiv-psychische Naturbezug und der damit einhergehende Bezug zu den Bäuerinnen und Bauern könnte eine potenziell wichtige Komponente für das politische Engagement von urbanen Schichten für Ernährungssouveränität sein. Diese Komponente hat sozusagen eine politische Umwegrentabilität, abgesehen von ihrer Bedeutung für das Wohlbefinden der in der Stadt lebenden Menschen selbst. Deshalb könnte man urbanes Gärtnern perspektivisch auch als pädagogisches Mittel für eine veränderte Agrarpolitik begreifen.
Konkret müssten diesem Verständnis von Ernährungssouveränität folgend Alternativen zum Einsatz von erdölbasierten Pestiziden, zur Abhängigkeit von fossilen Ressourcen allgemein, zu großflächigen Monokulturen und einer wenig pfleglichen bis sorglosen Bodenbehandlung gefunden werden. Es müsste zweitens eine nicht-profitorientierte oder gar nicht-kommerzielle und dann potenziell von Produzent- und KonsumentInnen getragene und ausgehandelte Landwirtschaft entwickelt werden, wofür zum Beispiel bestimmte Formen von CSAs einen Ansatzpunkt bieten (Exner 2013).
Ergänzend dazu könnten planwirtschaftliche Elemente fungieren, die Anleihen beispielsweise an der österreichischen Milchwirtschaft der 1950er Jahre nehmen könnten, freilich mit selbstbestimmten Entscheidungsstrukturen. Damals erfolgte eine fixe Abnahmegarantie auf Basis einer regionalen Bedarfsplanung (Kröger 2006), die für Grundnahrungsmittel und viele andere Lebensmittel vergleichsweise einfach machbar wäre. Da eine diesbezügliche Perspektivenentwicklung in den hiesigen auf Ernährungssouveränität bezogenen Debatten fehlt, wollen wir es hierzu bei einer kursorischen Erwähnung solcher Ansätze belassen.
Ein „Basic Food Income“, wie es nicht zuletzt juristisch aus dem UN-Sozialpakt abzuleiten ist (FIAN 2005), würde das Recht auf Nahrung umsetzen und damit einen zentralen Anspruch von Ernährungssouveränität einlösen. Auch diese mögliche politische Ausrichtung wird gemeinhin nicht mit Ernährungssouveränität verbunden, könnte aber naheliegen, wenn man bedenkt, dass in den kapitalistischen Zentren nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist und die politische Förderung der Kleinbäuerlichkeit unter diesen Voraussetzungen einen anderen Stellenwert hat als an den Peripherien. All diese Aspekte müssten Teil einer umfassenden Stärkung von Selbstbestimmung bilden.
Das urbane Gärtnern, wie es sich in Wien darstellt, könnte grundsätzlich in all diesen Bereichen wichtige Beiträge leisten. Allerdings steht dabei momentan das Ziel sozialer Kohäsion klar im Vordergrund, nicht die Lebensmittelproduktion. Entsprechend ist ein aktiver Bezug auf Ernährungssouveränität nur vereinzelt zu beobachten. Des Weiteren könnten urbane Gärten helfen Fähigkeiten auszubilden, die für ein alternatives Lebensmittelwesen wichtig sind. Dies nicht zuletzt, weil das urbane Gärtnern ein bemerkenswertes Ertragspotenzial hat, das historisch in Krisenzeiten relevant geworden ist.
…zum (peri-)urbanen Gemeinschaftsacker?
Allerdings wäre in vielen Städten wohl die Frage naheliegender, wie man die bestehende Landwirtschaft im peri-urbanen Raum in die eigenen Hände bekommt, als sich (allein) auf innerstädtische Gemeinschaftsgärten zu konzentrieren. So hält Frank Lohrberg fest, dass durchschnittlich ein Viertel der Stadtfläche deutscher Großstädte als Agrarland ausgewiesen ist (Lohrberg 2011: 140). Auch das Stadtgebiet von Wien verfügt über große landwirtschaftliche Flächen, von dem 2012 laut Realnutzung gesamten Grünland, das sich auf 20.816 ha beläuft, stellen diese 5.927 ha (Wien/LKW 2013). Insgesamt gelten etwa 17 % der Fläche des Stadtgebiets als landwirtschaftlich genutzt. Der allergrößte Teil davon ist Ackerland (vgl. Lebensministerium 2012). Der (theoretische) Eigenversorgungsgrad der Stadt mit Gemüse ist entsprechend hoch: „Insgesamt produzieren die Wiener Stadt-Landwirte jährlich rund 110.000 t hervorragende Lebensmittel. 61.000 t davon sind allein Gemüse, was rund 36,4 % Eigenversorgung und 10 % der österreichweiten Produktionsmenge entspricht.“ Knapp 7 % des Getreideverbrauchs und mehr als 4 % des Weinkonsums werden durch die Landwirtschaft in Wien gedeckt.
Die landwirtschaftliche Fläche blieb in den letzten Jahren praktisch konstant, der Verlust betrug zwischen 2007 und 2012 nur 0,7 % (Wien/LKW 2013). Dennoch kann diesbezüglich keinesfalls Entwarnung gegeben werden. Im Agrarstrukturellen Entwicklungsplan etwa werden nur 69 % davon als Vorrangflächen definiert. Ein Drittel ist also nicht vor Versiegelung geschützt und dient offenbar als Flächenvorrat. Die Versiegelung wird auch in Wien im Sinn der von der Stadtregierung forcierten Strategie der Nachverdichtung weiter voranschreiten, wenn Gegenbewegungen ausbleiben.
Damit zeigt sich ein zentrales Konfliktfeld für Ernährungssouveränität gerade in einem Bereich, der weder von der Szene der urbanen Gärten in Wien thematisiert noch von anderen lokalen AkteurInnen im Ernährungs- und Agrarbereich fokussiert wird, mit Ausnahme der Initiative SoliLa. Paradoxerweise wird gerade der so genannte urbane Raum zur Kernzone der ruralen Konflikte um landwirtschaftlich genutztes Land, wie man es gemeinhin mit ländlichen Gebieten weitab der Stadt verbindet. Doch die fruchtbarsten Ackerstandorte mit der kürzesten Distanz zur größten Gruppe der Konsumierenden befinden sich in (peri-)urbanen Lagen. Und genau diese sind von Versiegelung überproportional betroffen, denn sie gelten wenig nach ihrem landwirtschaftlichen Gebrauchswert, dafür sehr viel unter dem Aspekt des monetären Werts am Immobilienmarkt, dem beispielsweise die Wiener Stadtpolitik weitgehend zu Diensten zu sein scheint. Der zentrale Landkonflikt in Österreich und anderen Ländern Europas spielt sich daher im Nahbereich der großen Städte ab. Ernährungssouveränität müsste sich, strategisch gedacht, vor allem darauf konzentrieren.
Die Voraussetzungen dafür wären insofern gerade in Wien günstig, stehen doch über 2.000 ha landwirtschaftliche Flächen im Eigentum der Gemeinde, davon das allermeiste Ackerland, nur 48 ha sind Rebfläche. Diese Flächen befinden sich zum Teil innerhalb der Stadtgrenzen, zum Teil in angrenzenden Lagen und werden von der Magistratsabteilung 49 bewirtschaftet. An die 1.000 ha nutzt alleine der Biobetrieb in der Lobau (Wien). Weitere 400 ha sind verpachtet (Möhrs et al. 2013). Diese besondere Situation würde grundsätzlich die Verwirklichung einer selbstbestimmten, bedürfnisorientierten und ökologischen, krisensicheren Nahversorgung von Wien sehr erleichtern. Ergänzend zu einer Perspektive des „public produce“ (Nordahl 2009) und der „edible city“, die gratis zugängliches Gemüse auf öffentlichen innerstädtischen Flächen bezeichnet, das entweder von der Stadtverwaltung oder von BürgerInnen angebaut wird, wäre hier angebracht, von der Möglichkeit eines öffentlichen Gemüsebaus zu sprechen; in Analogie zum öffentlichen Wohnungsbau.
Die Stadt müsste einen solchen Betrieb nicht auf herkömmliche Weise und allein führen. Zu überlegen wäre vielmehr, ob nicht das spürbare Gartenbedürfnis der Städterinnen und Städter hier weit mehr Entfaltungsmöglichkeiten finden könnte als auf den grundsätzlich von vielfältigen Nutzungskonflikten durchzogenen und geringerflächigen Standorten in den dicht verbauten Gebieten. Die Erreichbarkeit wäre öffentlich schon teilweise gegeben und könnte mit vergleichsweise geringen Mitteln in Form von Busverbindungen und Shuttlediensten hergestellt werden. Die Ökoparzellen der Stadt Wien sind ein erster Ansatz dazu. Wesentlich wäre jedoch, den öffentlichen Charakter der Produktion zu garantieren, der an die erste Stelle das Recht auf Nahrung setzen müsste. Eine solche Perspektive öffentlichen, klein- bis großkollektiv organisierten Gemüsebaus entlang von Modellen der CSA und nicht-kommerzieller Landwirtschaft aber findet, wie zu sehen war, im urbanen Gärtnern bisher nur vereinzelte Anknüpfungspunkte und wäre erst zu entwickeln. Nicht zuletzt ist damit die Frage sozialer Auseinandersetzungen um den Zugang zu Land verbunden, die von den Gärten bislang nicht gestellt wird.
Eine Ausweitung des urbanen Gärtnerns in Richtung einer „edible city“ könnte eine teils vorbereitende, teils begleitende Strategie darstellen. Auch hier wäre der Aspekt des „public produce“ anzusprechen, den die Gemeinschaftsgärten nicht thematisieren. Die Konzepte der essbaren Stadt und des „public produce“ könnten die Nahrungsmittelproduktion als alltägliche Thematik in der Stadt sichtbar verankern. Sie könnten steuerfinanzierte Leistungen der öffentlichen Hand mit individuell kostenlosem Zugang zu öffentlich beerntbaren Flächen verbinden. Eine Situation, die freilich auch in traditionellen Bereichen wie dem öffentlichen Verkehr, der großteils steuerfinanziert ist, noch kein Pendant hat. Auch hier wäre darauf zu achten, Menschen, die von sich aus im Gemüse- und Obstbau aktiv werden wollen, wie etwa die Initiative Stadtfrucht (stadtfruchtwien.wordpress.com) hervorhebt, Freiräume zu gewähren.
Das Ziel eines erhöhten Bewusstseins für die Produktion von Lebensmitteln durch eine Re-Ruralisierung der städtischen Ästhetik – neben einer signifikanten Ausweitung der Eigenversorgung der Stadt mit Gemüse und Obst – könnte mit den Mitteln der lokalstaatlichen Gartengestaltung relativ einfach erreicht werden, sofern sich nicht genügend selbstorganisierte Garteninitiativen finden. Der private Aspekt der gegenwärtigen Gemeinschaftsgärten, die ihre Produkte selbst konsumieren, würde damit zugunsten einer öffentlichen, frei zugänglichen Produktion aufgehoben. Dies würde einen wichtigen Schritt hin zu einer Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins in Richtung von Kollektivität, Dekommodifizierung und Ernährungssouveränität markieren.
Zusammengefasst ist zu schließen: Ernährungssouveränität kann in den Zentren nicht allein mit einer Förderung von Kleinbäuerlichkeit wie an der Peripherie verbunden werden. Der Vergesellschaftungsgrad der Produktion und die zentrale Rolle der urbanen Bevölkerung setzen grundlegend andere Bedingungen für eine solche Perspektive. Sie müsste auf die Überwindung der Dichotomisierung von Stadt und Land und davon ausgehend auf Ernährungssouveränität auch im urbanen Raum und in sozialer Praxis, also nicht nur auf der Ebene von Gesetzesinitiativen fokussieren. Urbanes Gärtnern gilt vielen als dahingehend relevant. Wie zu zeigen war, kann man zwar durchaus einige für Ernährungssouveränität wichtige Momente daran aufweisen. Doch sollte der Blick sich verstärkt auch auf Richtung eines öffentlichen Gemüsebaus und einer materiell weiterreichenden Gestaltung der urbanen Ökologie hin orientieren, als es mit punktuellen und nischenhaft konzipierten Projekten urbaner Gemeinschaftsgärten bisher möglich scheint.
Teil I erschien in Streifzüge 61
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