Über die Schranken des kapitalistischen Weltsystems und den Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat
Sie verwenden in ihrem Buch für das gegenwärtige kapitalistische Weltsystem das Bild einer riesigen, weltumspannenden Maschine, der titelgebenden Megamaschine. Können Sie diesen Begriff etwas erläutern? Zielt er auf technische Aspekte ab, oder ist es ein Herrschaftsbegriff?
Fabian Scheidler: Megamaschine ist eine Metapher für ein ökonomisches, politisches, militärisches und ideologisches System, das vor etwa 500 Jahren in Europa entstanden ist und sich seither um den ganzen Globus verbreitet hat. Wir wachsen mit dem Mythos auf, dass Europa der Ausgangspunkt von allem Fortschritt ist, dass wir der Welt die Wissenschaft, die Freiheit, die Demokratie, den Wohlstand, die Zivilisation und so weiter gebracht hätten. In meinem Buch geht es ein Stück weit darum, diesen Mythos zu demontieren und zu zeigen, dass die Expansion der Megamaschine von Anfang an mit extremer Gewalt, Ungleichheit und Naturzerstörung verbunden war, und dass viele unserer heutigen globalen Krisen genau aus dieser Dynamik entspringen.
Dieses System ist unter verschiedenen Namen bekannt – kapitalistische Weltwirtschaft, modernes Weltsystem, die „Moderne“ usw. Ich benutze die Metapher einer Maschine, weil dieses System teilweise wie eine Maschine zu funktionieren scheint, wenn man sich etwa die internationale Arbeitsteilung anschaut, das Finanzsystem, die globale Energieversorgung, Medien- oder Militärapparate, die ja alle eng miteinander verflochten sind.
Der Kern dieses Systems, sein übergeordnetes Gesetz, ist die endlose Akkumulation von Kapital. Das ist sein Hauptzweck, dem alles andere untergeordnet wird. Mensch und Natur werden dafür benutzt, aus Geld mehr Geld zu machen, und deswegen werden wir tendenziell zu Maschinenrädchen in diesem Getriebe degradiert.
Natürlich darf man die Metapher nicht zu wörtlich nehmen, denn letztlich besteht das System aus Menschen, die sich zwar teilweise wie Maschinenteile verhalten, aber trotzdem nicht aufhören, menschliche Wesen zu sein. Die meisten Lebensbereiche sind zwar von der Macht der Maschine infiziert, aber wir haben auch Freiheiten, ein Leben jenseits der Maschine, und das gilt es zu verteidigen und zu erweitern.
Sind Sie da nicht etwas zu optimistisch? Mir scheint es eher, dass die letzten nichtkapitalistischen Nischen, die letzten Freiräume gerade in der Krise verschwinden. Alles scheint der Verwertungslogik unterworfen zu werden, selbst die Subkultur. Wo sehen sie noch ein „Leben jenseits der Maschine“?
Fabian Scheidler: Der Druck, die Kommerzialisierung, die Ausbeutung, all das nimmt tatsächlich zu. Aber das bleibt auf Dauer nicht ohne Reaktion. Die Geschichte verläuft nicht linear. Schauen Sie nach Südeuropa, da gibt es enormen Aufruhr, neue Subkulturen. Auch in den USA übrigens.
Der Widerstand, der Wille zur Freiheit beginnt ja im Kopf. Und wir können beobachten, wie der Glaube an das System langsam bröckelt, ja teilweise in sich zusammenbricht. Der Lack ist ab, die Leute sehen zunehmend die Gewalt und auch die Sinnlosigkeit dahinter. Damit schwindet ein Stück weit die ideologische Macht, die ja ein wichtiger Teil der Herrschaft ist. Wo das hingeht, ist vollkommen ungewiss, aber die Risse im System werden immer deutlicher.
Verzahnung von Militärstaat und Geldverwertungslogik
Ich fand den langfristigen Ansatz ihres Buches interessant. Sie versuchen, die Genese des gegenwärtigen Systems über einen langen historischen Zeitraum zurückzuverfolgen. Wie weit reichen Ihrer Ansicht nach die „Ursprünge“ der „Megamaschine“?
Fabian Scheidler: Die Ursprünge der kapitalistischen Weltwirtschaft reichen bis ins Spätmittelalter zurück. Eine der Keimzellen waren die hoch militarisierten Stadtstaaten Genua und Venedig, die sich damals zu Handelsimperien entwickelten, die von Spanien bis zur Krim reichten. Einen erheblichen Teil ihres Reichtums ging auf Raubzüge zurück. Genua und Venedig etwa finanzierten viele der Kreuzzüge, einschließlich ihrer Massaker, und bekamen dafür als Rendite einen Teil der Beute, Monopole und Militärstützpunkte. Die Handelshäuser gründeten dann Banken, die etwas von diesem erbeuteten Reichtum verliehen, nicht nur an andere Händler sondern auch an Staaten.
Es gibt ja den hartnäckigen Mythos, dass Staat und Markt Gegenspieler seien, dass sich der Kapitalismus aus dem Pioniergeist freier und friedlicher Händler entwickelt hätte, jenseits staatlicher Despotie. Aber Kapital und moderner Staat waren von Anfang an eng verflochten, sie haben sich gemeinsam, ko-evolutionär entwickelt und konnten niemals ohne einander auskommen. Die Kapitalbesitzer brauchten die physische Macht des Staates für ihre gewaltsame Expansion und auch für das Niederschlagen von Widerstand in der Bevölkerung gegen die zunehmende Ausbeutung, der von Anfang an massiv war. Und die Staaten brauchten das Handels- und Finanzkapital, um ihre Söldnerarmeen zu finanzieren.
Der moderne Staat war ja vor allem ein Militär- und Repressionsapparat, und es brauchte enorm viel Geld, um die neuen Armeen mit Hunderttausenden von Soldaten und großen Kanonen aufzubauen, mit denen man die Welt erobern konnte. Diese Verzahnung von Militärstaat und Geldverwertungslogik hat dann die ungeheure Aggressivität des Systems hervorgebracht, die sich durch die gesamte Geschichte der letzten 500 Jahre zieht.
Die Conquista, die gewaltsame Eroberung Mittel- und Südamerikas, etwa wurde von den Banken in Genua, Augsburg und Antwerpen finanziert. Ihr „return on investment“ waren die ungeheuren Gold- und Silbermengen, die dort erbeutet wurden und wiederum die europäische Geldökonomie antrieben. Für die Indigenen Amerikas war das Ergebnis der größte Völkermord, den die menschliche Geschichte bis dahin erlebt hatte. Oft waren staatliche und ökonomische Gewalt in denselben Händen konzentriert, zum Beispiel in den frühen Aktiengesellschaften, die über eigene Armeen, ja eine Art eigenen Staatsapparat verfügten und auf den Trümmern der von ihnen eroberten Regionen die modernen Kolonialreiche aufbauten.
Sie gehen ja mitunter noch weiter zurück, bis in das frühe Altertum, um die Entstehung von Macht und Herrschaft darzustellen. Worin besteht den Ihrer Ansicht nach der fundamentale, qualitative Bruch zwischen dem Kapitalismus und den vorherigen Gesellschaftsformationen, dem Altertum oder dem Mittelalter?
Fabian Scheidler: Es gab in der Antike auch schon Marksysteme, die eng mit dem militarisierten Staat zusammenhingen. Eine wichtige Rolle hat dabei die Erfindung des Münzgeldes gespielt, das erstmals dauerhafte, große Söldnerheere ermöglichte und zu einer enormen Kommerzialisierung des Mittelmeerraums geführt hat. Ohne diese Erfindung wäre zum Beispiel das Römische Reich mit seinen riesigen Armeen nicht denkbar gewesen.
Trotzdem unterscheidet sich das moderne Weltsystem in einigen wesentlichen Punkten davon. In der Megamaschine hat sich die Kapitalakkumulation verselbständigt, automatisiert, sie ist zur Institution mit einer Eigenlogik geworden. In Rom gab es zwar auch eine enorme Anhäufung von Reichtum in den Händen Weniger, aber es gab so etwas wie einen stabilen Endpunkt, eine maximale Ausdehnung sowohl des Reichs als auch des Reichtums. Die Stabilität dieses Zustands war oberste politische Priorität. Die Megamaschine aber verlangt nach endloser Expansion, endlosem Wachstum.
Einer der Gründe dafür ist, dass das Verhältnis von Staat und privatem Kapital anders ist. Vereinfacht ausgedrückt konnte der Staat in Rom die Ökonomie autoritär kontrollieren, während in der Moderne die international organisierten Kapitalbesitzer von Anfang an die einzelnen Nationalstaaten vor sich her getrieben haben, in eine irrsinnige Standortkonkurrenz und auch militärische Konkurrenz, was wiederum die Akkumulation enorm angeheizt hat.
Eine Besonderheit der Megamaschine ist auch, dass sie irgendwann begonnen hat, ganz neue Energiequellen zu erschließen, nämlich Kohle und später Öl. Das hat ihr überhaupt die technischen Mittel gegeben, den ganzen Planeten zu beherrschen – und uns das Klimadesaster zu bescheren.
Warum aber ausgerechnet in England ab dem 18. Jahrhundert plötzlich Steinkohle verbrannt wurde, die ja seit der Antike bekannt war, kann man nur aus der Eigendynamik des Systems verstehen. Die Produktion, insbesondere die Metall- und Rüstungsproduktion, stieß damals an energetische Grenzen, die Holzkohle wurde knapp und teuer, und deshalb wurde fieberhaft nach neuen Energiequellen gesucht, um weiter akkumulieren und neue Kanonen bauen zu können. Die Kohle war dafür die Lösung.
Die Eigenlogik der Institutionen ist mächtiger als ihre vermeintlichen Steuermänner
Wer „steuert“ diese monströse Maschinerie? Ist es einfach die herrschende Klasse, oder sehen sie hier eine systemische Eigendynamik walten?
Fabian Scheidler: Die Megamaschine ist aus Kräften entstanden, die nach neuen Methoden gesucht haben, um ihren Reichtum und ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Das ist ihnen auf spektakuläre Weise gelungen, auf Kosten der Mehrheit der Weltbevölkerung. Dafür gab es aber keinen Masterplan.
Das moderne Weltsystem ist nicht aus einer Verschwörung hervorgegangen, sondern aus einem jahrhundertelangen Ringen verschiedener Kräfte miteinander und teilweise gegeneinander: Kaufleute, Bankiers, Landesherren, Fabrikanten, Grundbesitzer, Kirchen, Warlords. Es hat von Anfang an auch massiven Widerstand gegen die kapitalistische Produktionsweise gegeben, gegen Vertreibungen, Einhegungen, Lohnsklaverei, und dieser Kampf hat das System geprägt und immer wieder tiefgreifend verändert, von den Bauernkriegen über die Französische Revolution, die Arbeiter- und Frauenbewegungen, die antikolonialen Befreiungsbewegungen bis 1968. Was dabei herauskam, ist so komplex und auch in sich widersprüchlich, dass es sich einer planbaren, vorhersagbaren Steuerung entzieht, auch wenn natürlich Eliten ständig versuchen, es zu steuern.
Herrschaft in diesem System bedeutet daher nicht, dass man seine Dynamik wirklich kontrollieren kann, sondern dass man – zumindest vorübergehend – eine gewisse Hegemonie hat, und zwar in drei zentralen Bereichen: der physischen Macht des Staates, der strukturellen Gewalt der Ökonomie – also Eigentum, Geld, Schulden – und der ideologischen Macht, wie sie etwa durch das Bildungssystem, die Medien, politische Parteien und so weiter ausgeübt wird.
Aber auch Leute, die all diese Machtfaktoren hinter sich haben, sind oft selbst Getriebene des Systems und beherrschen es nicht. Der CEO einer großen Aktiengesellschaft zum Beispiel ist Teil eines großen Räderwerks, und wenn er die Renditeziele verfehlt, spuckt die Company ihn einfach aus. Er ist letztlich auch nur ein austauschbares Zahnrad, wenn auch ein gut bezahltes. Die Eigenlogik der Institutionen ist mächtiger als ihre vermeintlichen Steuermänner. Deswegen hilft es auch nicht weiter, über die Gier einzelner Banker zu klagen. Wir müssen die institutionellen Logiken ändern, den genetischen Code des Systems.
Die kapitalistische Verwertungsmaschine, diese Megamaschine, stößt immer stärker an ihre Entwicklungsgrenzen. Sie sprechen von ökologischen und sozialen, inneren Schranken. Können Sie das erläutern?
Fabian Scheidler: Die systemimmanenten Schranken sind ökonomischer, sozialer und politischer Art. Nach dem Nachkriegsboom ist die Weltwirtschaft Mitte der 70er Jahre in eine tiefe Krise gerutscht, die Akkumulationsmaschine stotterte, die Renditen brachen ein. Die Antwort darauf war das, was wir heute als „Neoliberalismus“ kennen: Löhne drücken, Gewerkschaften kaputt machen, Privatisierungen, Flucht in Billiglohnländer und Steueroasen, Finanzspekulationen usw.
Das hat die Profite der großen Unternehmen und die Klassenmacht des oberen ein Prozent wiederhergestellt; aber es hat dazu geführt, dass die Leute tendenziell nicht mehr das Geld haben, die ganzen Waren und Dienstleistungen zu kaufen, zumindest nicht zu profitablen Preisen. Um das System in Gang zu halten, mussten daher überall Schulden angehäuft werden: Konsumenten mussten sich verschulden, um trotz geringerer Löhne weiter zu konsumieren; Staaten mussten sich verschulden, um fehlende Steuereinnahmen auszugleichen; Banken haben riesige Schulden-Dominosysteme kreiert. Solche Schuldenblasen platzen natürlich irgendwann, etwa in der Finanzkrise 2007-2009, und es sind dann in der Regel die Staaten, die diese Schulden übernehmen und auf die Bevölkerung abwälzen.
Die Finanzkrisen werden zu Staatskrisen und zu politischen Krisen, etwa in der Eurokrise. Der Clou dabei ist: Je mehr die Kapitalbesitzer ihre kurzfristigen Interessen durchsetzen können, desto mehr destabilisieren sie das System, von dem sie sich langfristig ernähren. Hinzu kommt ein anderer Prozess: Menschliche Arbeit wird zunehmend durch Technik ersetzt, und durch die Computerisierung betrifft das nicht nur die Landwirtschaft und Industrie, sondern auch die Dienstleistungsberufe der Mittelschicht. Die Folge von beiden Prozessen ist eine strukturelle globale Massenarbeitslosigkeit, die sich immer weiter ausbreitet. In Südeuropa etwa liegt die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen bei über 50 Prozent. Das System ist nicht mehr in der Lage, den Menschen eine Perspektive zu geben, und sei es nur die, sich ausbeuten zu lassen. Das führt natürlich zu sozialem Aufruhr, politischen Krisen, Umstürzen, Chaos.
Die äußere Schranke des Systems ist ökologischer Art. Die kapitalistische Weltwirtschaft ist, wie jedes andere soziale System, ein Subsystem der Biosphäre. Alles, was wir tun, hängt in jedem Moment davon ab, dass die lebenserhaltenden Systeme der Erde funktionieren: Wasser, Atemluft, ein erträgliches Klima, Nahrungsmittelzufuhr, Energie etc.
Nun zwingt die Logik der endlosen Akkumulation zu einer ständigen Wirtschaftsexpansion, und diese Expansion zerstört die lebenserhaltenden Systeme inzwischen global in atemberaubendem Tempo. Das betrifft nicht nur das Klima, sondern auch die Süßwasserversorgung, die Böden, Wälder, Ozeane und die Artenvielfalt. Neuste Studien zeigen, dass wir bereits das schnellste Artensterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde in Gang gesetzt haben. Wir verlieren jedes Jahr ein Prozent unserer fruchtbaren Böden durch die industrielle Landwirtschaft. Der Westen der USA und Nordchina bewegen sich in eine gigantische Süßwasserkrise hinein – und das sind nur einige wenige Beispiele. Der Klimawandel macht all das noch viel schlimmer.
Diese ökologischen Krisen wiederum treten mit den ökonomischen, politischen, sozialen Krisen in Wechselwirkung. Der Bürgerkrieg in Syrien zum Beispiel wurde nicht zuletzt durch eine klimabedingte Dürre entfacht, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Das Ergebnis ist noch mehr Chaos, und dieses Chaos untergräbt das weltumspannende, extrem komplexe, verwundbare System, das von einer ununterbrochenen Versorgung mit Energie, Material und Geld abhängig ist und auch ein Minimum an politischer Stabilität braucht. Wenn diese Zuflüsse unterbrochen werden, etwa durch Finanzkrisen, Energiekrisen, Revolten, entstehen Systemausfälle, die wiederum unbeherrschbare Kettenreaktionen auslösen können – und davon werden wir zweifellos immer mehr erleben in den kommenden Jahrzehnten.
Das Verrückte ist, dass man diese Maschinerie nicht stoppen oder drosseln kann
Sehen Sie auch eine Wechselwirkung zwischen diesen inneren und äußeren Schranken des Kapitals? Verhält es sich nicht gerade so, dass die steigende Produktivität der „Megamaschine“ die Ressourcenverschwendung befeuert, da ja die Verwertung des Werts den irrationalen Selbstzweck dieser amoklaufenden Monstermaschine bildet?
Fabian Scheidler: Ja, die endlose Produktivitätssteigerung als Selbstzweck, um aus Geld mehr Geld zu machen, treibt uns an die ökologischen und stofflichen Grenzen und untergräbt zugleich die ökonomische Basis, weil sie Menschen überflüssig macht. Das Verrückte ist ja, dass man diese Maschinerie nicht stoppen oder drosseln kann. Wer die Produktivität drosselt, der wird von den Märkten bestraft und fällt zurück. In diesem Hamsterrad sind alle gefangen, und deswegen treiben alle das Rad weiter an, obwohl es uns gegen die Wand fährt.
Sie haben den Ausstieg aus der Megamaschine ein ganzes Kapitel ihres Buches gewidmet. Wie könnte so ein transformatorischer Prozess sich abspielen?
Fabian Scheidler: Die Transformation wird auf jeden Fall geschehen, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur, wie sie aussieht und wohin sie führt. Es ist durchaus möglich, dass das, was kommt, noch schlimmer ist, als das, was wir jetzt haben.
In der EU zeichnet sich etwa eine neue Form von autoritärem Regime ab, eine Diktatur der Gläubiger in Verbindung mit einer Plünderungsökonomie. Zugleich sehen wir von Zentralafrika bis zum Mittleren Osten einen Korridor von gescheiterten Staaten: vom Kongo über Somalia, Libyen, Syrien und den Irak bis nach Afghanistan. Dort regieren die Warlords und Mafias. Das gilt auch für die Ukraine. Oder für Mexiko, das nach den neoliberalen Rosskuren längst Beute rivalisierender Gangsterbanden ist.
Wohin die Reise geht, hängt ganz wesentlich von uns allen ab, davon, ob wir in der Lage sind, neue Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens aufzubauen und zugleich erfolgreich Widerstand gegen Repression, Enteignung und Ausbeutung zu leisten. In meinem Buch zeige ich eine Reihe von vielversprechende Ansätzen, kleinen wie großen, zum Beispiel den Aufbau von großen Netzwerken solidarischer Ökonomie, wie man sie etwa in Brasilien sehen kann; oder die bemerkenswerte Welle von Genossenschaftsgründungen im Energiesektor. Entscheidend ist es dabei, die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern wie Wohnen, Essen, Gesundheit, Wasser, Bildung, Energie, Kommunikation, Kultur langfristig aus der Profitlogik und dem Markt herauszulösen und neu zu organisieren.
Damit solche Formen der Selbstorganisation tatsächlich in der Breite Fuß fassen können und nicht vom Strudel der Krisenereignisse weggespült werden, braucht es auch neue Formen der politischen Organisation, um dort, wo Risse im System auftauchen, politische Räume besetzen zu können und Rahmenbedingungen für eine andere Wirtschaft zu schaffen. Davon sind wir aber noch ziemlich weit entfernt. Das Weltsozialforum etwa ist so ein Versuch, aber es hat in den letzten Jahren etwas an Dynamik verloren.
Ich denke aber, dass es neue Versuche geben wird, die verschiedenen Bewegungen für einen Ausstieg aus der Megamaschine enger miteinander zu verknüpfen. Die große Transformation hat ja gerade erst angefangen, und zu ihren Eigenheiten gehört es, dass man nichts vorhersagen kann.
Der Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat
Dieser „Transformationskampf“ hat ja offensichtlich in der kollabierenden Peripherie des kapitalistischen Weltsystems schon mit unglaublicher Brutalität eingesetzt. Glauben Sie, dass man in den Zentren und in der Peripherie diesen Absturz in Barbarei wird verhindern können? Können wir einen demokratischen und zivilisierten Transformationsprozess organisieren? Oder, anders gefragt: Der real existierende Sozialismus ist ja relativ friedlich implodiert, ohne die Welt in ein Flammenmeer zu tauchen – kann dies der real existierende Kapitalismus ebenfalls leisten?
Fabian Scheidler: Man kann den Untergang des Realsozialismus nicht mit dem Niedergang des kapitalistischen Weltsystems vergleichen. Denn der Ostblock war ja – zumindest in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz – in mancher Hinsicht Teil dieses Systems, auch wenn viele das bis heute nicht wahrhaben wollen. Und er ist einigermaßen kontrolliert abgewickelt worden, mithilfe der Leute auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, die auf diese Gelegenheit nur gewartet haben. Es gab ja ein funktionierendes größeres System, das den Osten einfach schlucken konnte.
Was wir jetzt vor uns haben, ist von ganz anderen Dimensionen, es ist der Niedergang des mächtigsten und auch gefährlichsten Systems, das die Weltgeschichte je erlebt hat. Es ist weltumspannend. Und es gibt kein Ersatzsystem. Ich glaube nicht, dass ein gelenkter, geplanter, kontrollierter Übergang zu etwas anderem möglich ist. Wer sollte das steuern? Und wohin? Ohne größere Brüche und ohne chaotische Phasen wird es nicht gehen.
Die Frage ist, wer in diesem Chaos die Oberhand gewinnt. Die jetzigen Eliten werden mit allen Mitteln dafür kämpfen, ihre Privilegien und ihre Macht zu erhalten. Sie werden langfristig auch nicht davor zurückschrecken, mit ultrarechten Kräften zusammenzuarbeiten, das tun sie ja teilweise schon heute. Wenn wir passiv bleiben und einfach abwarten, was kommt, werden sie leichtes Spiel haben. Aber wenn eine kritische Menge von Menschen beginnt, sich einzumischen und sich für eine gerechtere, menschenwürdigere Welt zu organisieren, dann haben wir eine Chance.
Das Problem ist, dass wir die Selbstorganisation großenteils verlernt haben. Wir erwarten, dass der Strom aus der Steckdose kommt, dass uns irgendjemand einen Job gibt, dass Politiker unsere Interessen vertreten, wenn wir alle vier Jahre ein Kreuzchen machen – eigentlich eine sehr merkwürdige Vorstellung. Aber damit werden wir auf Dauer nicht weiter kommen. Wir müssen unser Leben wieder selbst in die Hand nehmen, und das kann eben auch anstrengend sein.
Fabian Scheidler, geboren 1968, studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/M. Seit 2001 arbeitet er als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen, Theater und Oper. 2009 gründete er mit David Goeßmann das unabhängige Fernsehmagazin Kontext TV, das regelmäßig Sendungen zu Fragen globaler Gerechtigkeit produziert. 2009 Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. Programmkoordinator für das Attac-Bankentribunal in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (2010). 2015 erschien sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, das die Wurzeln der Zerstörungskräfte freilegen will, die heute die menschliche Zukunft bedrohen.
zuerst erschienen: Telepolis 18.8.2015