KOLUMNE Immaterial World
von Stefan Meretz
Geschieht etwas, so wurde das Geschehene durch etwas bewirkt, angestoßen, ausgelöst. Der Aufstieg des Kapitalismus und mit ihm der von Natur- und Ingenieurwissenschaften hat den göttlichen Beweger entmachtet und Wirkungen fortan auf Ursachen zurückgeführt. Auf Ursachen, die fortan gezielt herbeigeführt – verursacht – wurden, um beabsichtigte Wirkungen zu erzielen, die wiederum als neue Ursachen weitere Wirkungen zeigen: Wasser erhitzen – Dampf erzeugen – Volumenexpansion in Schubbewegung umsetzen – Schubbewegung in Drehbewegung verwandeln usw. usf. Der Ursache-Wirkungszusammenhang ist seither eine der zentralen Denkfiguren der Moderne.
Verstehen bedeutet nun umgekehrt, beobachtete Wirkungen auf Ursachen zurückzuführen, möglichst zergliedert in kleinste Einzelursachen. Das erkenntnistheoretische Gegenstück zu dieser Herangehensweise ist die formale Logik. Hier erzielen logische Ursachen zwangsläufige Wirkungen, und logische Wirkungen lassen sich in basale Elemente und Operationen auflösen. Inhalte und Formen sind hierbei streng getrennt. Nur so können formal logische Operationen auf beliebige Inhalte angewendet werden.
Es verwundert nicht, dass das Ursache-Wirkungs-Denken schließlich auch auf den Menschen ausgeweitet wurde. Allein die Metaphern wandelten sich historisch, das Ursache-Wirkungs-Schema blieb. War es anfangs das Räderwerk der mechanischen Uhr, so später der Computer und heute die genetisch-kognitive Biomaschine. Wer sich im Ursache-Wirkungs-Diskurs bewegt und forscht, kann schließlich nur entdecken, dass es einen freien Willen nicht geben kann. Freiheit lässt sich nicht formal-logisch operationalisieren.
In der bürgerlichen Psychologie heißen Ursache und Wirkung Reiz und Reaktion oder Input und Output oder allgemeiner: Bedingung und Verhalten. Die Kritische Psychologie nennt diese Denk- und Redeform den Bedingtheitsdiskurs. Von außen wird hier gefragt, welche Bedingungen welches Verhalten erzeugen, und es liegt auf der Hand, dass ihre kontrollwissenschaftliche Funktion darin besteht, jene Bedingungen zu benennen, die herrschaftskonformes Verhalten „erzeugen“. Der Mensch soll schließlich funktionieren – es ist nur zu seinem Besten.
Kritisch hält jene sich so nennende marxistisch fundierte Psychologie dagegen, dass der genuine Freiheitsaspekt, die Möglichkeitsbeziehung zur Wirklichkeit, die Möglichkeit, angesichts von Bedingungen so oder auch anders zu handeln, verfehlt, ja ignoriert werde. Statt vom Außenstandpunkt könne Handeln nur vom Standpunkt des Individuums verstanden werden, denn schließlich reagiert das Individuum nicht mechanisch auf Bedingungen, sondern verhält sich zu diesen, und für dieses Verhalten hat es Gründe. Gründe sind immer erster Person, sie lassen sich nicht deduktiv auf Bedingungen zurückführen, denn zwischen Bedingungen und Gründen gibt es keinen determinierenden Zusammenhang.
Statt im Modus von Bedingungen ist ein Zugang nur im Modus der Gründe vom jeweiligen Individualstandpunkt möglich. Dieser Begründungsdiskurs kann intersubjektiv als soziale Selbstverständigung organisiert werden. Damit ist gleichwohl das übliche Arrangement von Forschendem und Beforschtem – wie im Bedingtheitsdiskurs – hinfällig. Stattdessen geht es um das gemeinsame Erforschen und Begreifen der je eigenen Lebenslage und -ziele.
Der Perspektiven- und Diskurswechsel ist auch für Menschen mit (selbst-)kritischen Ansprüchen schwer vorstell- und durchhaltbar. Zu sehr legt das Alltagsdenken das Abgleiten in den Bedingtheitsdiskurs nahe. Fataler ist es jedoch, wenn emanzipatorische Strategien gleich komplett im Bedingtheitsdiskurs gedacht und konzipiert werden. Eine Brücke baut hierbei der allgegenwärtige Begriff der Interessen. Steht die Interessiertheit noch für das individuelle Wünschen und Wollen, so wird daraus schnell eine „objektive Kategorie“, wenn sie als „Interesse“ in „objektiven Bedingungen“ verankert wird. Lange galten gar die „Interessen der Arbeiterklasse“ als Ausweis für das objektivierte historische Emanzipationsstreben schlechthin. Umständlich waren dann die theoretischen Verrenkungen, wenn es darum ging, das tatsächliche Auseinanderfallen von individuellem Handeln und vorgeblich historischer Mission der Handelnden zu erklären.
Aber wird aus individuellem Begehren nicht automatisch überindividuelles Interesse, sobald die gesellschaftliche und historische Größenordnung erreicht wird? So sieht es aus. Dies jedoch ist nicht zwangsläufig, sondern Verhältnissen geschuldet, in denen Interessen stets anderen Interessen gegenüberstehen, in denen sich die einen notwendig auf Kosten von anderen durchsetzen. Gegen die strukturellen Nahelegungen muss schon sehr explizit Anstrengung aufgebracht werden, um partiell andere Verhältnisse zu etablieren. Solidarität ist der Begriff dafür, und wir wissen, wie schnell sie bröckelt, wenn Interessen, die immer partielle sind, Raum greifen.
Die unbequeme Konsequenz lautet: Emanzipation kann nicht in Interessen gründen. Im Kollektivinteresse verschwindet das individuelle Begehren. Je größer das Kollektiv, desto inhaltsärmer die gemeinsame Basis. Auch das früher oft angerufene mythologische „Allgemeininteresse“ der Arbeitsklasse kann ihren tatsächlich partiellen und damit bornierten Charakter nicht kaschieren.
Emanzipation kann nur in Bedürfnissen gründen – und damit in den Gründen der Handelnden. Wenn sich eine freie Gesellschaft dadurch konstituiert, dass „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, so Marx und Engels, dann kann auch nur dies für ihren Prozess, die Emanzipation, gelten. Das Medium, in dem aus je individuellen Gründen für die Befreiung ein kollektiver Prozess der Emanzipation wird, ist die soziale Selbstverständigung in den Projekten unserer alltäglichen Lebenspraxis.
Dass wir uns auf dem Weg der Befreiung in der Notwehr auch interessenförmig organisieren müssen, ist das eine, dies jedoch als den Weg zur Emanzipation zu mystifizieren ein anderes.