von Stefan Meretz
In der letzten Kolumne wurde die behauptete ewige Knappheit von Gütern als künstlich unverfügbar gemachte Fülle entschlüsselt. Der Knappheitsmythos wird allerdings von einer weiteren Annahme begleitet: Die Bedürfnisse seien unendlich. Das klingt logisch: Wenn die Bedürfnisse immer weiter wachsen, dann können die produzierten Güter nie ausreichen und werden folglich immer knapp sein. Sehen wir uns das am Beispiel der Produktion von Nahrungsmitteln an.
Bedürfnisse sind nie die gleichen, sondern sie verändern sich permanent. Zwar wollen Menschen immer essen, aber was und wie sie essen, ist heute völlig anders als vor hundert Jahren. Gibt es für unsere heutige Art und Weise zu essen genug Nahrungsmittel? Bei weitem! Dass sich nicht alle Menschen ausreichend und gut ernähren können, liegt nicht daran, dass die Bedürfnisse die Produktion übersteigen, die Nahrungsmittel also nicht ausreichen, sondern es liegt daran, dass sie knapp sind. Wir erinnern uns: Knappheit ist nichts Natürliches, sondern künstlich beschränkte Fülle. Eigentlich könnte genug für alle da sein, auch in guter Qualität, nur dürfen die Lebensmittel nicht allen zukommen, weil sonst das System aus Verkaufen und Kaufen zusammenbrechen würde. Wo kämen wir denn da hin, entnähme jede und jeder aus der Fülle, was er oder sie braucht?
Stattdessen wird fast die Hälfte der Lebensmittel vernichtet. Gleichzeitig müssen immer »neue« Nahrungsmittel »designt« werden, um den Absatz zu sichern. Designer Food verbraucht mehr Rohstoffe und Energie bei der Herstellung, setzt auf Suchteffekte beim Konsum (mittels Zucker, Salz, Fett, Chemie) und lockt durch oberflächige Optik und Geschmack. Design als Sein – einzig zum Zwecke des Verkaufs.
Nebenbei kann auch noch die Überproduktion profitabel untergebracht werden. So wird seit den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten Mais zu Glucose-Fructose-Sirup verarbeitet und nahezu jedem Nahrungsmittel beigefügt – mit fatalen Folgen für die Gesundheit. Die Anzahl der Menschen mit Adipositas (Fettleibigkeit) stieg sprunghaft an. Ein neuer »Sirup-Markt« wurde geschaffen, doch Ausdruck gewachsener Bedürfnisse ist das wohl kaum.
Bei der Frage der Bedürfnisse müssen wir unterscheiden zwischen den aktuellen und den zukünftigen. Die aktuellen Bedürfnisse sind endlich, und die Menschheit ist prinzipiell in der Lage, sie auch zu befriedigen. Ohne Knappheit, ohne die künstlich beschränkte Fülle, wäre das zu machen. Über zukünftige Bedürfnisse können wir nicht viel sagen – außer, dass sie sich ziemlich sicher verändert haben werden im Gegensatz zu heute. Die potenziell unendliche Veränderbarkeit der Bedürfnisse wird nun verwendet, um den Knappheitsmythos zu rechtfertigen. Ein simpler Trick.
Eine Folge der Warenproduktion ist die Trennung von Produktion und Konsum und damit die Abspaltung der produktiven von den sinnlich-vitalen Bedürfnissen. Bei KäuferInnen interessieren nur konsumtive Bedürfnisse, allerdings auch nur, sofern sie zahlungsfähig sind. Bei ProduzentInnen hingegen sollen die produktiven Bedürfnisse nur in der Zwangsjacke der Verwertung zur Geltung kommen – zum Beispiel in Form der Lohnarbeit. Doch viele Menschen machen diese Spaltung, die künstliche Verknappung ihrer Produktivität außerhalb der Verwertung, nicht mehr mit. Die Commons, das gemeinschaftliche Produzieren und Nutzen von Gütern jenseits des Marktes, sind ein Ausdruck dieser Entwicklung.
Ein Beispiel für ein solches Commons im Bereich der Ernährung ist die SoLawi – die Solidarische Landwirtschaft. Dort organisieren BäuerInnen und NutzerInnen gemeinsam Finanzierung, Produktion und Verteilung hochwertiger Lebensmittel. Es wird angebaut, was gewollt wird, und das ökologisch, vielfältig, geschmackvoll, verpackungsfrei, CO2-arm, tauschfrei, bedürfnisorientiert. Eine kleine Alternative im Meer der die fossilen Ressourcen verschlingenden Agroindustrie.
Die Zukunft liegt nicht in der Beschränkung von Bedürfnissen, sondern in ihrer radikalen Entfaltung. Dabei geht es um die Aufhebung der künstlichen Spaltung zwischen produktiven und sinnlich-vitalen Bedürfnissen. Nicht die Wirtschaft muss wachsen, sondern die Fähigkeit der Menschen, mit begrenzten Ressourcen ein gutes Leben für alle zu schaffen. Muss ich erwähnen, dass dies nur jenseits der Warenproduktion, jenseits des Kapitalismus möglich ist?
Neues Deutschland, 23. Juni 2014