von Roger Behrens
Hi, ich bin 24, weiß, männlich, untere Mittelschicht, geboren ein Stück landeinwärts von der Küste des Staates Washington. Meine Eltern besaßen eine Stereo-Kompaktanlage in gemasertem Plastikfurnier, das wie Holz aussehen sollte, und ein Box-Set mit lauter aktuellen Mainstream-Radio-Hits der Siebziger, ,Good Vibrations‘ auf Ronco. Da waren solche Hits drauf wie ,Tie a Yellow Ribbon‘ von Tony Orlando & Dawn oder Jim Croces ,Time in a Bottle‘. Nach jahrelangem Betteln kauften sie mir endlich ein Blechschlagzeug mit Papp-Becken hinten aus dem Sears-Katalog. Nach kaum einer Woche bohrte meine Schwester mit dem Schraubenzieher Löcher in die Becken. Ich weinte zu ,Seasons in the Sun‘.
Meine Mutter konnte irgendein Stück von Chicago auf dem Klavier spielen, den Songtitel weiß ich nicht mehr, aber die Melodie vergesse ich nie. Meine Tante schenkte mir eine blaue hawaiianische Slide-Guitar und einen Verstärker zum siebten Geburtstag.
In diesen ersten prägenden Jahren hatte sie mir auch die ersten drei Beatles-LPs geschenkt, wofür ich ewig dankbar bin, weil ich weiß, dass meine musikalische Entwicklung wahrscheinlich zum Stillstand gekommen wäre, wenn mir noch ein weiteres Jahr lang die Carpenters und Olivia Newton-John eingetrichtert worden wären.
1976 kam ich dahinter, dass die Beatles sich schon ’71 getrennt hatten. Meine Eltern ließen sich scheiden, und ich zog mit meinem Dad in einen Trailer Park in einer noch kleineren Holzfäller-Community. Seine Freunde überredeten meinen Dad, dem Columbia Record Club beizutreten, und ab da trafen beinahe wöchentlich Platten an meinem Trailer ein. Hatte bis 22 eine ganz schöne Sammlung angelegt.“ (Kurt Cobain, „Tagebücher“, hg. u. übers. v. Clara Drechsler & Harald Hellmann, Köln 2002, S. 164)
Das ist eine kurze, amerikanische Biografie, jenseits der Great Society, am Abgrund, aber noch mit einem Funken Hoffnung, nicht abzustürzen, nicht heruntergerissen zu werden vom Sog des Versagens, der dieses Leben erfasst hat – ohne dass es irgendeine Schuld gibt, irgendein Zeichen dafür, etwas getan zu haben, das diesen Sog des Versagens rechtfertigen würde, ohne irgendeinen Hinweis auf Sinn, der die ganze Misere und Verzweiflung wenn nicht begründen, so doch wenigstens erklärbar machen könnte. Es ist eine amerikanische Biografie, die nun in den frühen 1990er Jahren angekommen ist. Amerikanisch, weil bereits der erste, einleitende Hinweis auf Geschlecht und Klassenlage – „männlich, untere Mittelschicht“ – ein beschädigtes Leben ausweist: Männlich und Mittelschicht sind keine Attribute mehr, denen ein höherer sozialideologischer Wert beigemessen werden kann; in Amerika wird das ohne politisch gemeinten Unterton ausgesprochen. „Männlich, untere Mittelschicht“ – das führt geradewegs, mit dem Vater (und dieser eben auch: „männlich, untere Mittelschicht“) in den Trailer Park; die Mittelschicht, die in Europa noch in Eigenheim und Reihenhaus ihre Heimat hat, landet in den USA im Wohnwagen.
Oben im Norden, landeinwärts im Bundesstaat Washington, ist es kalt. Zur Arbeitskleidung der Holzfäller gehören robuste, wärmende Flanellhemden. Sie werden typisch für die Mode des Grunge, der nun nicht mehr nur einen bestimmten (eben „dreckigen“) Sound der Rockmusik bezeichnet, sondern eine Subkultur: das war nach dem durchschlagenden Erfolg von Nirvanas Song „Smells like Teen Spirit“ auf dem Album „Nevermind“, 1991 bei den Labels Geffen Records und Sub Pop veröffentlicht.
Aus Grunge wurde ein Hype, die Erfindung einer ganzen Lebensweise; Seattle war die Hauptstadt – obwohl dort niemand etwas von einem Seattle-Sound, eigener Grunge-Szene, einer subkulturellen Lebensweise wusste; es war auch irgendwie egal – und das gehörte gleichwohl schon wieder zum Grunge dazu: Doug Pray hat in seiner sehenswerten Dokumentation „Hype!“ von 1996 die Erfindung dieses letzten subkulturellen Spektakels nachgezeichnet; einschließlich der hübschen Episode, wo Megan Jasper von Sub Pop Records 1992 bei einem Telefoninterview mit der New York Times einen Grunge-Slang erfindet, den es tatsächlich nie gegeben hat. Das Authentische des Grunge war von Anfang an: der wahrhaftige, echte, glaubwürdige Fake – aber nicht als Persiflage des Originals, nicht als dezidierte („kritische“) Position, sondern als reine Banalität: die gleichgültige Authentizität als authentische Gleichgültigkeit.
Eben das machte den Grunge dann doch noch signifikant: Eine Gleichgültigkeit, der das postmoderne Spiel mit Zitaten und Dekonstruktion noch viel zu bedeutungssuchend und -süchtig war. 1992 wurden auf einem Konzert mit mehreren Bands vom Sub Pop Label weiße T-Shirts verteilt, auf denen ohne jeden grafischen Aufwand hinten die Bandnamen standen und vorne das Label-Logo zu sehen war, sehr klein – kaum lesbar stand da: „100 % Flanell“; das war keine Ironie, höchstens ein bisschen witzig. Grunge stand jenseits des damals gepflegten Diskurses über Moderne versus Postmoderne, weil es längst nicht mehr um Stil ging, sondern bestenfalls um Ausdruck. Pop als Stil (Lifestyle) war immer an die – mitunter verzweifelte – Sehnsucht nach Identität im emphatischen Sinne gekoppelt, „Werde, der Du bist“, war das Leitmotiv. Pop als Ausdruck kündigt dieses Identitätsmodell auf: „Was ich bin, will ich nicht werden – und was ich werden will, interessiert mich nicht!“
„Load up on guns and bring your friends / It’s fun to lose and to pretend / She’s over-bored and self-assured / Oh no, I know a dirty word“, singt Kurt Cobain zu Beginn von „Smells like Teen Spirit“. Am Ende wird nur noch „a denial“ wiederholt: eine Ablehnung, eine Verleugnung, eine Verweigerung etc.
In Cobains Leben hat es Entwicklung nur als „musikalische Entwicklung“ gegeben; ein Ende der Geschichte drohte ihm als „ein weiteres Jahr die Carpenters und Olivia Newton-John“. Dann kamen die Beatles, die sich aber zu diesem Zeitpunkt schon längst aufgelöst hatten. Geschichte besteht fortan aus unabgegoltener Vergangenheit, aus Fragmenten, die selbst keine Geschichte haben, jedenfalls nicht aus Linearität und Kontinuität.
Der 1967 geborene Kurt Cobain erschoss sich Anfang April 1994 mit einer Schrottflinte. Die Musikzeitschrift Spex titelte damals: „Der erste MTV-Tote!“ Sieben Monate nach Cobains Tod erscheint das 1993 aufgenommene Nirvana-Live-Album „MTV Unplugged in New York“, ein Verkaufserfolg, mit dem der Grunge-Hype nun als Nirvana-Mythos fortgesetzt wird.