von Tomasz Konicz
Das große Schulterklopfen in Deutschlands konservativem Leitmedium, der FAZ, setzte nur kurz nach dem Coup von Kiew ein. Deutschland hätte bei der diplomatischen Intervention in Kiew, bei der „eine Übereinkunft zwischen der ukrainischen Führung und der Opposition“ erzielt worden sei, endlich „Verantwortung übernommen“. Die Bundesrepublik sei – in Gestalt des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier – hierbei ihrer „Führungsrolle in Europa nachgekommen“.
Dabei hätte noch der Ami etwas lernen können: Die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreich hätten die US-Spitzendiplomatin Victoria Nuland, deren abschätzige Bemerkungen über die EU abgehört und publiziert wurden (Fuck the EU), nun endlich „eines Besseren belehrt“. Ohne die „beharrliche Überzeugungsarbeit“ der europäischen Außenminister wäre die Ukraine nämlich „dem Abgrund des offenen Bürgerkriegs immer näher gekommen“, so die FAZ in ihrem Kommentar vom 22. Februar.
Ob der FAZ nun dieser euphorische Kommentar peinlich ist? Ob die verantwortlichen Spitzendemokraten sich überhaupt dessen bewusst sind, was sie mit der offenen Unterstützung einer faschistisch durchsetzten „Opposition“ angerichtet haben? Nicht einmal eine Woche nach dessen Publizierung befindet sich die Ukraine tatsächlich am Abgrund des offenen Bürgerkrieges. Während die von den Europäern vermittelte Vereinbarung zwischen Regierungschef und prowestlicher Opposition von Letzterer souverän gebrochen wurde und rechtsextremistische Milizen eine regelrechte Terrorkampagne entfacht haben, wachsen die Spannungen und separatistischen Bestrebungen in der südlichen und östlichen Ukraine immer weiter an.
Zehntausende haben am 23. Februar etwa in Odessa für den Anschluss an Russland und gegen die rechtsextremen Gruppen demonstriert, die nun in der West- und Zentralukraine die Straßen beherrschen. Neben den „Russland“-Rufen erschallte die Parole: „Der Faschismus wird nicht durchkommen!“ In Sewastopol haben rund 50.000 prorussische Kundgebungsteilnehmer für den Anschluss an Russland plädiert.
In etlichen ostukrainischen Städten und Regionen kursieren Aufrufe zur Bildung bewaffneter Milizen, die einen eventuellen Vormarsch der faschistischen westukrainischen Banden, die inzwischen aufgrund der Plünderung von Waffenlagern mitunter bewaffnet sind, verhindern sollen. Vor allem auf der Krim und in Odessa wird dieser Aufruf auch massenhaft befolgt. Im ostukrainischen Charkow haben indessen Demonstranten die russische Flagge auf dem Rathaus gehisst, es kam zu Auseinandersetzungen mit Polizisten.
Auf der Krim droht die Lage nun vollends zu eskalieren, nachdem bewaffnete russische Milizionäre das Regierungsviertel besetzt haben und die russische Flagge auf dem Parlamentsgebäude hissten. Die zunehmenden Spannungen entluden sich bereits am 26. Februar in gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Rechtsextremisten, Krimtataren und russischen Unabhängigkeitsbefürwortern in Simferopol, bei denen ein russischer Demonstrant getötet und rund zwei Dutzend Menschen verletzt wurden. Einwohner Sewastopols machten gegenüber der britischen Zeitung The Telegraph klar, dass sie kampfentschlossen sind. Mehr als siebzig Jahre nach dem verzweifelten Verteidigungskampf Sewastopols gegen die Vernichtungsmaschinerie der Naziwehrmacht, denen die „Heldenstadt“ rund sieben Monate standhielt, bereite sich die Bevölkerung nun auf einen „neuen Kampf“ gegen Nazis vor. Die Zitate der Interviewpartner illustrieren die Stimmung in den mehrheitlich von Russen bewohnten Landesteilen:
Wir wollen nicht, dass sich hier etwas Ähnliches wie in Kiew abspielt. Nazis und Banditen haben dort die Macht übernommen. Und wenn wir kämpfen müssen, dann werden wir dies mit allem tun, was wir in die Hände kriegen. … Wenn wir nicht handeln, werden wir hier bald die Gestapo haben. Vor einem Jahr sprach Tjagnibok über den Genozid an den Russen. Wir müssen Selbstverteidigungskräfte aufbauen.
Rechtsextreme Swoboda ist Schwesterpartei der NPD und wird von den Nazis des Rechten Blocks überholt
Tragischerweise treffen diese Einschätzungen auf die extremistischen Teile der ukrainischen Opposition, die im Gefolge des Umsturzes nun einen rasanten Aufstieg erleben, durchaus zu. Bei Oleg Tjagnibok handelt es sich um den – vom deutschen Außenminister Steinmeier hofierten – Führer der rechtsextremen Partei Swoboda, einer Schwesterpartei der NPD. Noch im vergangen Mai besuchten Sowoboda-Nazis ihre braunen Gesinnungsgenossen im sächsischen Landtag. Angesichts der gut dokumentierten antisemitischen Ausfälle Tjagniboks verwundert es, dass diese Neonazis mit besten Verbindungen zur NPD in der deutschen Presse durchgehend als „Nationalisten“ oder „Rechtspopulisten“ bezeichnet werden. Selbstverständlich unterhält Swoboda auch militante Kampfformationen, die beim paramilitärischen Training den Nahkampf und das fachmännische Halsaufschneiden lernen.
Es ist somit klar, dass ohne diese paramilitärisch geschulten faschistischen Kräfte die Opposition niemals sich in Straßenkämpfen gegen Polizeieinheiten durchgesetzt hätte. Inzwischen wird ja Swoboda von militanten Nazinetzwerken wie dem Rechten Sektor rechts überholt, die ihre Entsprechung bei den „Autonomen Nationalisten“ wie den 2001 verbotenen Skinheads Sächsische Schweiz finden. Aus der umfassenden paramilitärischen Ausbildung, die viele der nun landesweit marodierenden Nazis erhielten, wird inzwischen kein Geheimnis gemacht. Ein Führer eines faschistischen Netzwerkes gab darüber im Interview mit der Ukrainskaja Prawda bereitwillig Auskunft:
Ich war Mitglied der Studentenbewegung in Lviv und erhielt eine militärische Ausbildung in den Lagern der verschiedenen nationalen Organisationen… Wir wurden im Nahkampf, im Schießen mit Luftgewehren und mit offizieller Genehmigung auch im Schusswaffengebrauch auf dem Schießstand unterrichtet. … Ich war Mitglied im Kongress ukrainischer Nationalisten.
Mit dem Sieg der „Opposition“ wird zumindest eine massive Rechtsverschiebung des politischen Spektrums in der Ukraine einhergehen, Faschismus wird zu einer legitimen politischen Meinung werden. Die größte Gefahr besteht aber vor allem darin, dass diese Neonazis in die staatlichen Sicherheits- und Polizeistrukturen integriert werden.
Ein erster Anfang wurde schon am 24. Februar gemacht, als der Posten des Generalstaatsanwalts der Ukraine an ein Mitglied der Swoboda-Partei vergeben wurde. Mitglieder der Nazimilizen patrouillieren ohnehin die Straßen der Ukraine gemeinsam mit Polizeieinheiten, während landesweit Hunderte von Parteibüros der Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei verwüstet werden und Nazis mit Maschinengewehren auf Ratsversammlungen auftauchen. Wie angesichts dieser Hexenjagd „freie“ Wahlen im Mai abgehalten werden sollen, bleibt schleierhaft.
Die ersten Gesetze, die prowestliche Kräfte in der ukrainischen Rada durchpeitschten, untermauern dieses Bild: Neben dem Verbot des Russischen als zweiter Amtssprache wurde eine Initiative eingebracht, die die Abschaffung des Artikels 436-1 des ukrainischen Strafgesetzbuches vorsieht: Dieser stellt das Leugnen der Verbrechen des Faschismus unter Strafe. Zur Begründung hieß es, dieser Artikel würde der „Bekämpfung ukrainischer Patrioten“ dienen und sei gegen die wahre „Geschichte des ukrainischen Befreiungskampfes“ gerichtet. Für rechtsextreme Kräfte, die sich mit den ukrainischen Nazikollaborateuren der Kriegszeit identifizieren („Ukraine über Alles!“), stellt dieser Paragraf tatsächlich einen Affront dar.
Die extremistische westukrainische Rechte wirkt als separatistischer Treibsatz
Selbstverständlich nehmen auch antisemitische Vorfälle in der Ukraine zu. Jüdische Hilfsorganisationen haben bereits Nothilfen für die de facto unter Belagerung lebende jüdische Minderheit der Ukraine eingeleitet, während einige Rabbiner ihre Glaubensbrüder offen zur Flucht aus Kiew aufrufen.
Damit wirkt die extremistische westukrainische Rechte – die nun ihre Machtansprüche offen anmeldet – im Endeffekt als ein separatistischer Treibsatz, da diese Kräfte für einen Großteil der Bevölkerung der Ostukraine inakzeptabel sind. Die Ignorierung des Skandals in den deutschen Massenmedien, dass die politischen Erben der ukrainischen Nazikollaborateure auch von der Bundesregierung offensichtlich Rückendeckung erhalten, macht dies ja nicht ungeschehen – und es lässt die vorhersehbaren Sezessionsbestrebungen in den östlichen Landesteilen aufkommen.
Dabei sieht sich der Kreml, der selbstverständlich nicht an einem Bürgerkrieg an den eigenen Landesgrenzen interessiert ist, zu einem heiklen politischen Spagat genötigt. Einerseits wird Stärke demonstriert, um die nationalistischen Kräfte in Russland zu befriedigen: Die westlichen Truppenteile und die Luftwaffe werden in Alarmbereitschaft versetzt, Spezialeinheiten zum Schutz russischer Militäreinrichtungen auf die Krim verlegt – während die NATO der Ukraine „Unterstützung“ zusichert und Russland vor einer Eskalation warnt. Zugleich beteuern russische Politiker die Respektierung der territorialen Integrität der Ukraine.
Die derzeit größte Gefahr besteht aber darin, dass der Kreml förmlich zur Intervention genötigt sein könnte, sollten auf der Krim blutige Zusammenstöße ausbrechen, bei denen viele ethnische Russen umkämen. Moskau kontrolliert somit die Lage und die Bedingungen nicht, die eine Intervention notwendig machen könnten. Der Kreml ist von einer Eskalationsdynamik abhängig, die von extremistischen Kräften jederzeit weitergetrieben werden kann.
Doch selbst wenn das – derzeit durchaus mögliche – Abgleiten der Ukraine in den Bürgerkrieg verhindert werden sollte, wird Russland weiterhin um eine Revision der Westausrichtung der Ukraine ringen. Hierzu steht dem Kreml ein breites Sammelsurium vornehmlich wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Verfügung: von der Energiepolitik über die Frage ukrainischer Exporte nach Russland bis zu Migrationsregelungen.
Machtkampf zwischen Ost und West
Die Ukraine bildete das Schlüsselelement im russischen Projekt einer „Eurasischen Union“, die als ein Gegengewicht zur EU aufgebaut werden sollte. Deshalb war der Kreml bereit, mittels Preisnachlässen für Energieträger und milliardenschwerer Finanzspritzen die Bereitschaft Janukowitschs – der keinesfalls eine „Marionette“ Moskaus war, sondern jahrelang zwischen Ost und West lavierte – zur Ostintegration buchstäblich zu erkaufen. Die Verhinderung dieser „postsowjetischen“ Eurasischen Union, an der auch Kasachstan und Weißrussland beteiligt wären, kann getrost als der wichtigste Grund für die Unterstützung des Kiewer Umsturzes seitens des Westens benannt werden.
Die weiteren Gründe für die Vehemenz, mit der insbesondere die deutsche Außenpolitik sich in der Ukraine engagiert, können in aller Offenheit auf der Internetpräsenz der Tagesschau verinnerlicht werden: Es geht um die „Kornkammer“ Europas, um den russischen Schwarzmeerstützpunkt in Sewastopol, um die Schwerindustrie des Ostens. Die Europäer würden „ihre Absatzmärkte erweitern und leichteren Zugriff auf die Rohstoffe und Bodenschätze der Ukraine gewinnen“. Für Russland und die EU sei die Ukraine „nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch von großem Interesse“, schlussfolgerte die Tagesschau nüchtern.
Damit wird der Vergleich zur „Orangenen Revolution“ in der Ukraine nicht nur angesichts der Brutalität des Machtkampfes und der allgegenwärtigen Willkürakte der fei agierenden Milizen hinfällig: Nun steht die Aufnahme der Ukraine in die NATO und die feste Einbindung dieses Landes in die EU auf dem Programm. Was sich derzeit hier abspielt, stellt somit die größte geopolitische Auseinandersetzung, den riskantesten Machtkampf zwischen Ost und West seit dem Enden des Kalten Krieges dar – und es ist der Westen, der hier eskaliert. Russland ist dabei, eine schwere strategische Niederlage zu erleiden, in deren Ausgang die NATO direkt an das Kernland Russlands vorrückte und die Pläne einer Eurasischen Union zur Makulatur würden. Bislang diente die Ukraine als „Pufferstaat“, der nun der westlichen Einflusssphäre zugeschlagen werden soll.
Während Politik und Medien eine nicht gegebene „Normalität“ simulieren, findet auf internationaler Ebene derzeit das gefährlichste geopolitische Machtspiel seit dem Ende des Kalten Krieges statt, bei dem Russland entscheidend und dauerhaft geschwächt werden soll. Wie wird sich die NATO verhalten, wenn Russland der Stadt Sewastopol tatsächlich zur Hilfe eilen sollte? Sewastopol hat inzwischen den Belagerungszustand ausgerufen. Jedem Russen ist klar, dass damit Parallelen zur siebenmonatigen Belagerung Sewastopols durch die Wehrmacht 1941 und 1942 gezogen werden, was die entsprechenden emotionalen Reaktionen auslöst und den Druck zur Intervention auf den Kreml massiv erhöht.
Kurz vor dem hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges verzetteln sich die Großmächte somit erneut in einem geopolitischen „Great Game“ um Einflusssphären und Macht, das ein schwindelerregendes Eskalationspotenzial aufweist. Manches ändert sich im Kapitalismus halt nie. Es stellt sich nur die Frage, ob die Politiker, die zur Eskalation dieser Krise beigetragen haben, auch die „Verantwortung“ für deren eventuelle Folgen übernehmen werden.
Telepolis 27.2.2014