von Tomasz Konicz
Die Wahrnehmung des Kapitalverhältnisses als einer Religion, als eines fetischistischen Opferkults, ist nicht neu. Insbesondere die in Südamerika verankerte „Theologie der Befreiung“ kritisiert „den Markt als Götzen und den neoliberalen Kapitalismus als Heilslehre und Opferkult“, wie es der Theologe Heribert Böttcher formulierte. In Reaktion auf die neoliberale Revolution in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts knüpfte die Befreiungstheologie an die biblische Unterscheidung zwischen dem christlichen „Gott der Befreiung“ und dem „Götzen des Todes“ an, der mit dem buchstäblich ins Totalitäre strebenden Kapitalverhältnis identifiziert wird.
In Reaktion auf die tiefe Krise des kapitalistischen Systems in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (Das Ende des „Goldenen Zeitalters“ des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus) ging der Neoliberalismus in eine Offensive über, bei der die Systemgrundsätze buchstäblich ins Extrem getrieben wurden. Alles wird zu Ware, alle Gesellschaftsbereiche werden den Gesetzen des kapitalistischen Marktes unterworfen, alle Menschen haben ihr Leben in fortwährender kapitalistischer Selbstoptimierung zu verbringen. Der Kapitalfetisch duldet nun keine alternativen Reproduktionsformen, keine nichtkapitalistischen Nischen mehr neben sich.
Diese marktvermittelte Totalität des Kapitalverhältnisses, das gerade in Reaktion auf seine sich immer stärker abzeichnende Krise ins Extrem getrieben wurde, habe dieses zu einer „alles bestimmenden Wirklichkeit“ werden lassen. Dieser Begriff fungiere in „der pluralistischen Religionstheorie … als Oberbegriff für das Göttliche“, wie Böttcher in Anlehnung an eine These des Theologen Thomas Ruster ausführt: „Nicht mehr das Christentum, sondern der Kapitalismus repräsentiere die religiöse Erfahrung einer ‚alles bestimmenden Wirklichkeit‘ und werde damit zur Religion der Gesellschaft. Kapitalismus versteht er [Ruster, T.K.] als durch Geld vermittelten Warentausch. Sein Selbstzweck ist die Vermehrung des Geldes. Das Geld ersetzt Gott und wird zur ‚alles bestimmenden Wirklichkeit'“.
Der in Reaktion auf seine tiefe Systemkrise ins Extrem getriebene Kapitalkult wird also erst in seiner alles verschlingenden Totalität als ein religiöses System, als eine „alles bestimmende Wirklichkeit“, erkennbar. In seiner Krise kommt der irrationale, götzenhafte Charakter des über die Menschen – und durch die Menschen – herrschenden automatischen Subjekts (siehe Teil 2:Ora et labora) zum Vorschein.
Kapitalismus als Religion
Indes ist der religiöse Charakter des Kapitalkultes vom Philosophen und Literaturkritiker Walter Benjamin schon weitaus früher erkannt worden. Sein höchstwahrscheinlich 1921 verfasstes Fragment „Der Kapitalismus als Religion“ liest sich wie eine Prophezeiung der gegenwärtigen Krisenverwerfungen, wobei der Autor seiner Zeit die allgemeine Durchsetzung dieser Erkenntnis – deren Nachweis – als verfrüht ansah:
„Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz, in dem wir stehen, nicht zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.“
Dem kapitalistischen System wohnt somit eine konkrete, historische Dynamik inne; es stellt keine „natürliche“ überhistorische Konstante menschlichen Daseins dar, wie es durch den Ewigkeitsanspruch des Kapitalkultes ja immerfort propagiert wird. Der Kapitalismus ist eine fetischistische Gesellschaftsformation, die einen Anfang, eine historische Konstitutionsphase in der Frühen Neuzeit hat, sie erreicht ihre Epoche des Hochkapitalismus im späten 19. und 20. Jahrhundert, um vor rund 40 Jahren in die historische Abstiegsperiode des Spätkapitalismus einzutreten. Das Wesen des Kapitals als einer „essentiell religiösen Erscheinung“ wird somit erst mit dessen voller historischer Entfaltung offenbar – namentlich mit der totalen Entfaltung der inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, sobald es an die totale Schranke seiner Reproduktionsfähigkeit stößt.
Das Netz der sich immer weiter zuspitzenden Systemzwänge, der eskalierenden Widersprüche, zieht sich um die Insassen der kapitalistischen Tretmühle immer stärker zu, sodass dessen Maschen sichtbar werden und der kultische Charakter uferloser Kapitalakkumulation durch das automatische Subjekt bei global eskalierenden Verwerfungen und Zusammenbruchstendenzen evident wird. Die Absurdität immer weitergetriebener Anhäufung abstrakten Reichtums, bei der immer mehr Menschen ausgeschlossen werden, ist angesichts ihrer verheerenden sozialen und ökologischen Folgen eigentlich evident.
Die gegenwärtige Krise stellt somit eine Vorbedingung dar, um den Nachweis erbringen zu können, dass es sich beim Kapitalismus um eine kultische Veranstaltung handelt. Benjamin benennt drei Charakterzüge, die dieser religiösen Struktur des Kapitalismus eigen sind:
„Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen ‚Wochentag‘, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.“
Der vom Utilitarismus, vom blinden Nützlichkeitsdenken geprägte Kapitalkult, der ununterbrochen praktiziert werden muss, fußt auf einer Grundlage, die in der spätkapitalistischen Ideologie als sakrosankt gilt: auf der Lohnarbeit. Der religiöse Schein, den die protestantische Ethik und die Mönchsorden des Mittelalters der Arbeit verpassten, ist vom Jenseits ins Diesseits hinabgestiegen.
Die den Kapitalismus als Religion konstituierende kultische Handlung, die alle Lohnabhängigen alltäglich zu verrichten haben, welche noch nicht aus der kriselnden Arbeitsgesellschaft verbannt wurden, besteht in der Verrichtung von Lohnarbeit. Arbeit unter Kapital ist tatsächlich mehr, als sie zu sein scheint. Die konkrete Arbeit im Kapitalismus dient einem abstrakten, „fremden“ Zweck, der aber nicht ins Jenseits hineinprojiziert werden muss, wie bei den Benediktinern oder Calvinisten, sondern ganz diesseitig-real ist: Arbeit weist einen Doppelcharakter auf und wird im Kapitalismus nur dann verrichtet, wenn sie neben der Schaffung von Gebrauchswerten auch zur Vermehrung des Werts beiträgt.
Da Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, die Kapitaldynamik letztendlich also in der Anhäufung immer größerer Quanta verausgabter Arbeit ihren Selbstzweck findet, bildet der kapitalistische Arbeitsprozess die reale Grundlage des Kapitalkultes. Die Schaffung von Gebrauchsgütern dient dem Automatischen Subjekt somit nur dazu, den in ihnen verdinglichten Mehrwert zu realisieren. Das Konkrete (der Gebrauchswert, die konkrete Arbeitstätigkeit) ist nur als Träger des Abstrakten (Wert und abstrakt-allgemeine Arbeit) von Belang, die konkrete Arbeit gilt nur bei gleichzeitiger Realisierung des durch sie erzeugten Mehrwerts als gesellschaftlich gültig.
Deswegen kann es im Kapitalismus durchaus „sinnvoll“ sein, massenhaft „unverkäufliche“ Wohnungen oder Lebensmittel zu vernichten – deren Wert nicht realisiert werden kann – während zugleich Menschen hungern oder erfrieren. Die kultische Essenz der Lohnarbeit als Quelle der Verwertungsbewegung des Automatischen Subjekts bringt ja auch die korrespondierenden Waren hervor, die nach Möglichkeit kurz nach Ablauf der Garantiefrist kaputtgehen oder möglichst schnell veralten sollen, um so die Grundlage für einen abermaligen Verwertungskreislauf möglichst schnell zu schaffen.
Zugleich bedeutet dies, dass der Begriff des Automatischen Subjekts eine doppelte Bedeutung hat. Zum einen ist damit die besagte Eigenbewegung und unkontrollierbare gesamtgesellschaftliche Dynamik der marktvermittelten Verwertungsbewegung gemeint, die den Marktsubjekten – die sie ja selber in ihrer Gesamtheit erzeugen – als eine fremde, „göttliche“ Macht gegenübertritt. Doch zugleich bringt der Begriff zum Ausdruck, dass Subjektivität im Kapitalismus nur innerhalb des Automatismus der Verwertungsbewegung möglich ist.
Nur bei der Entscheidung, wie die uferlose Akkumulation von Kapital zu beschleunigen und zu optimieren wäre, können die „Wirtschaftssubjekte“ tatsächlich ihre Subjektivität zur Geltung bringen. Die zu ohnmächtigen Objekten der verwalteten Welt (Adorno) zugerichteten Menschen können nur noch hinter der kultischen Charaktermaste (Marx) ihrer ökonomischen Funktion den pervertierten Traum eines selbstherrlichen Subjekts träumen – indem sie den Automatismus der Verwertungsbewegung in Eigenregie permanent optimieren.
Die Ödnis dieses Kultes ist offensichtlich: Alle menschliche Tätigkeit, alle Hervorbringungen dieser Gesellschaft dienen nur dazu, das wucherungsartige Wachstum des Automatischen Subjekts zu befördern – indem die Menschen sich als Automatische Subjekte betätigen.
Der von Benjamin erwähnte Utilitarismus, ein hohles rationalistisches Nützlichkeitsdenken, das von dem irrationalen Ziel der Verwertung der Lohnarbeit absieht, bildet tatsächlich das tragende Moment des Kapitalkultes. Mittels einer bornierten instrumentellen Rationalität, die zu einer beständigen Revolutionierung der Produktionskräfte führt, wird die Dynamik des Automatischen Subjekts beschleunigt. Doch damit werden auch die Widersprüche zugespitzt, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnen. Der Kapitalkult, dessen einzige kultische Handlung in der endlosen Verausgabung wertbildender Lohnarbeit besteht, strebt zugleich danach, die Lohnarbeit durch Rationalisierung aus dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zu verbannen. Das Kapital geht so sukzessive seiner eigenen Substanz – der wertbildenden Arbeit – verlustig, sodass der Kapitalismus nur noch vermittels globaler Schuldenmacherei als ein totales Weltsystem aufrechterhalten werden kann.
Schuld und Schulden
Das zunehmende Scheitern der Menschen an diesem eskalierenden Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise – der eine überflüssige Menschheit produziert -, erzeugt wachsende Schuldenberge und ein „ungeheures Schuldbewusstsein“, das verstärkt zum Kultus greift, um „diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen“. Der Kapitalismus stelle keine Befreiungsreligion dar, so Benjamin, er biete keine Erlösung von der Schuld und den buchstäblichen Schulden, sondern produziere deren Universalisierung:
„Dieser Kultus ist zum Dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewusstsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müsste halten können, noch in der Absage an sie.
Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung, auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand, aus dem die Heilung zu erwarten sei.“
Beim Kapitalismus handelt es sich somit laut Benjamin tatsächlich um eine Religion des Todes, die eine „Zertrümmerung“ des gesellschaftlichen Seins betreibt, um hierdurch, aus der „Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand“, eine wie auch immer geartete „Heilung“ zu erwarten. Der aus dem Kult entspringenden Verschuldung – die der „bösartigen“, jüdisch konnotierten Finanzsphäre angelastet wird – wird mit der Produktion von Schuldbewusstsein begegnet. Dieses Schuldbewusstsein bildet die Grundlage, auf der Opfer gefordert werden können.
Der Kapitalismus entpuppt sich somit letztendlich als der bislang wohl blutrünstigste Opferkult der Menschheitsgeschichte, vor dem sogar die Opferrituale der Azteken oder Inka verblassen. Ganze Regionen und Volkswirtschaften sind in der gegenwärtigen Krise in den sozioökonomischen Zusammenbruch und die massenhafte Verarmung getrieben worden, um Sühne zu leisten für die Schuld, die aus dem besagten zunehmenden Selbstwiderspruch des Kapitalkultes erwächst. Millionen wurden ins Elend getrieben, Hunderttausende haben ihr Obdach verloren, Tausende ihr Leben, um hier Buße zu tun für die „Verfehlungen“ der Vergangenheit, ohne die der Kult aber nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Griechenland und Spanien büßen nun für ihre Sünden wider das Kapital. Das Schuldbewusstsein, dessen Entstehung das Christentum mit dem Sündenfall im Jenseits ansiedelte, erfährt hier ebenfalls einen Prozess der Säkularisierung.
Der europaweit grassierende deutsche Sparsadismus bildet wohl das perfekte Beispiel für den Kapitalismus als „verschuldenden Kultus“. Durch das „Aushalten bis zum Ende“, durch Sparmaßnehmen und ein „Ins-Extrem-Treiben“ der kultischen Handlungen eines immer effizienter und brutaler organisierten Arbeitsregimes hofft man, die Krise zu überwinden und eine „Heilung“ zu erwirken. Stattdessen steigen die Schuldenberge der Krisenstaaten immer weiter an, während die systemimmanenten Widersprüche weiter eskalieren: Je effizienter und härter die Lohnarbeit in der gegenwärtigen Krise organisiert wird, desto stärker greifen in der Warenproduktion Rationalisierungstendenzen um sich, die die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft weiter zuspitzen – und weitere Schuldenmacherei zur Aufrechterhaltung der Verwertungsbewegung des automatischen Subjekts unabdingbar machen.
Die Lohnabhängigen erarbeiten sich ihre Krise buchstäblich – je härter und rücksichtsloser diese kultische Handlung der wertbildenden Lohnarbeit praktiziert wird, desto stärker zieht sich die Schlinge der systemischen Widersprüche um die Hälse der Kapitalgläubigen. Der „Weltzustand der Verzweiflung“ ist erreicht, und mit dem sich abzeichnenden massiven Entwertungsschub, der letztendlich auch das Geld erfassen muss, wird „Gott selbst in diese Schuld“ einbegriffen.
Jetzt erst kann der Kapitalgott als solcher überhaupt erkannt werden. Ein weiteres Charakteristikum des Kapitalkultes besteht laut Benjamin nämlich darin, dass dessen „Gott verheimlicht werden muss, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird von einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife.“
Gott ist nicht tot, er wandelt unter uns
Nichts sei letztendlich verkehrter, als der vielfach postulierte „Tod Gottes“, so Benjamin: „Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen.“ Die historische Durchsetzung der säkularisierten Religion des Kapitalismus hat einen Wechsel Gottes von der Transzendenz zur Immanenz mit sich gebracht. Die gesamtgesellschaftliche Selbstzweckbewegung des Kapitals fungiert nun als ein rachsüchtiger, launischer und bösartiger Gott, der den antiken Sagen vorchristlicher Zeit oder dem alten Testament entsprungen zu sein scheint.
Ganze Kontinente kann dieses über die Menschen herrschende Automatische Subjekt verheeren, wenn der Kapitalkult nicht mit der notwendigen Effizienz praktiziert wird. Die sozialen Zusammenbrüche, die durch die alttestamentarische Wut der „Märkte“ in den betroffenen Ländern ausgelöst werden, nehmen dabei die Dimensionen biblischer Plagen an. In der Krise scheint die Götter- und Sagenwelt der Antike zum Leben erwacht zu sein.
Der Lohnabhängigen stehen somit diesem an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehenden Götzen ohnmächtig gegenüber. Der Grundwiderspruch des Kapitalverhältnisses besteht laut dem Krisentheoretiker Robert Kurz darin, „einerseits die Verausgabung menschlicher Energie als Selbstzweck zu setzen und andererseits durch die Vermittlung der anonymen Konkurrenz auf wachsender Stufenleiter Arbeit im Produktionsprozess des Kapitals vermittels Anwendung der Wissenschaft überflüssig zu machen“ (Marx lesen, Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21.Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 139.)
Die kultische Handlung – die „Verausgabung menschlicher Energie als Selbstzweck“ – erweckt den Kapitalgötzen somit erst zu Leben. Die Kulthandlung dieser säkularisierten Kapitalreligion vermag somit etwas, wovon alle Religionsanhänger Jahrtausende lang träumten: die durch kultische Handlungen vollführte Erweckung ihrer Götter zum Leben. Doch zugleich führt das immer weiter utilitaristisch perfektionierte Arbeitsregime den Tod auch dieses unter uns wandelnden und die Welt verheerenden Gottes herbei.
Diese fremde, überwältigende Macht, die in ihrer Agonie wild um sich schlägt, scheint göttlich-unüberwindbar. Doch zugleich stellt sie eine fetischistische Herrschaftsform dar, sie wird – unbewusst – von den Menschen hervorgebracht. Alltäglich. Die gesellschaftliche Herrschaft im Kapitalismus besteht im Kern nicht in der Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern in der Beherrschung von Menschen durch abstrakte gesellschaftliche Strukturen, die von den Menschen selbst konstituiert werden. Wir machen uns unsere Götter – und folglich können wir sie auch stürzen.
Telepolis 27.12.2013