von Annette Schlemm
„Dass nichts bleibt, wie es ist…“ – dies ist eines der größten philosophischen Rätsel mit ungemein politischem Hintergrund. Den Beschleunigungswahn der technischen „Revolutionen“ erlebt jeder Mensch unserer Zeit. Aber viele von uns haben auch schon erlebt, dass sich staatliche Institutionen und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse grundlegend verändern können. Und einige erwarten – möglichst bald – den nächsten Wandel, bei dem wir uns von unnötigen ökonomischen Beschränkungen, wie dem Kapitalakkumulationszwang und auch anderen Herrschaftsformen endgültig befreien.
Dass viele Menschen diesen Wandel erstreben und aktiv auf ihn hinarbeiten, mag Grund genug für die Hoffnung auf ein Gelingen sein. Da es den Menschen aber eigen ist, nachzudenken über das, was sie tun, begleiten immer auch Überlegungen zum möglichen Ablauf des Geschehens die Taten. Dann spielen Erwartungen hinein, die sich aus Grundüberzeugungen über den typischen Ablauf von geschichtlichen Entwicklungen und Brüchen speisen. Diese bilden dann die „Geschichtsphilosophie“. Auch jene, die annehmen, dass es in der Geschichte keinen „roten Faden“ gebe, an dem sich die Aufeinanderfolge der gesellschaftlichen Formen in einer gewissen Ordnung aneinander reiht, vertreten damit ihre Geschichtsphilosophie des nicht vorhandenen inneren Zusammenhangs. Diese Position bestreitet mit Vehemenz, dass die Geschichte der Menschheit durch so etwas wie eine innere Logik bestimmt wird.
… weil Vernunft in der Geschichte ist
Eine Konzeption, die von einer inneren Logik der Entwicklung ausgeht, ist wohl am deutlichsten in der Hegel’schen Geschichtsphilosophie verkörpert. Sie geht davon aus, „dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“ (HW 12: 21). Hegel behauptet, dass er nicht mit dieser Voraussetzung an das Studium der Geschichte gegangen sei, sondern dass es sich „erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben [habe], dass es vernünftig in ihr zugegangen sei“ (ebd.: 22). Allerdings darf man auch nicht unvernünftig in die Geschichte schauen, um Vernunft in ihr zu entdecken. Wir wissen, dass Hegel die Weltgeschichte als Geschichte eines Geistes erklärt, und wer sich unter diesem Geist jetzt so etwas wie ein Schlossgespenst vorstellen würde, ginge tatsächlich unvernünftig an dieses Thema heran. Der weltgeschichtliche Geist ist bei Hegel jene Einheit, ohne die alles sinnlos wäre, in der sich der Sinn erfüllt (so ähnlich beschrieb sein Schüler Rosenkranz den Geistbegriff im Bereich der Religionsphilosophie, vgl. Rosenkranz in HW 2: 536). Ob also ein Sinn der Menschheitsgeschichte erfüllt wird, etwa damit, dass alle Verhältnisse umgeworfen werden, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx MEW 1: 385), wird an uns selbst liegen. Damit auch, ob Hegel letztlich doch Recht hat.
Man kann davon ausgehen, dass Hegel davon ausging, dass dieser Zustand erreicht wird (soweit er ihn zu seiner Zeit fassen konnte). Ein Gedicht aus seinen letzten Lebenstagen zeigt, dass er durchaus der Meinung war, dass dazu noch einiges zu tun war und wie er dazu stand: „Und käm’s, wie’s längst mich drängt, doch loszuschlagen…“ (zitiert in Beyer 1988: 77).
Warum war er davon überzeugt, dass in der Weltgeschichte letztlich doch Vernunft steckt? In seinen Vorlesungen zur Weltgeschichte zeigt er, wie sich menschliche Gemeinschaften mehr und mehr aus allen vorherigen Abhängigkeiten befreien. Dabei lässt er kein Schema walten, sondern überdeutlich erweist er territorialen und historischen Besonderheiten seine Reverenz. Der Aufschwung der germanischen Völker etwa unterscheidet sich von den Anfängen der griechischen und römischen Kultur für Hegel dadurch, dass sich ihre Kultur weniger aus einem vorangegangenen welthistorischen Volke speist (HW 12: 413f.).
Den „roten Faden“, der sich in dem wechselvollen Ablauf der menschlichen Geschichte ablesen lässt, findet Hegel im „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (ebd.: 32). Freiheit ist dabei nicht nur eine wohlfeile Losung, sondern meint inhaltlich, dass die Menschen ihre Abhängigkeiten erkennen und bewusst selbst gestalten können. Interessant ist, dass dieses Kriterium sogar gilt, wenn die Umstände des Lebens absolut unbefriedigend sind. Denn es geht um das „Bewusstsein der Freiheit“, also das immer stärkere Bewusstsein dessen, dass die Gemeinschaft mit anderen nicht als Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, „sondern als eine Erweiterung derselben angesehen“ wird (HW 2: 65).
Dabei verweist diese Tendenzbestimmung auf einen Horizont. Hegel nennt das auch „Endzweck“ der Weltgeschichte. Dieser Endzweck, dieser Horizont ist die Verwirklichung aller nur möglichen Freiheit, die Beseitigung aller vorhandenen oder noch denkbaren Abhängigkeiten, die unfrei machen. Auf der letzten Seite seiner weltgeschichtlichen Vorlesungen schildert er als bisherigen Höhepunkt der Bewegung hin zu mehr „Bewusstsein der Freiheit“ die deutschen Verhältnisse. Er schreibt dazu: „bis hierher ist das Bewusstsein gekommen…“ (HW 12: 539), und das lässt offen, ob er gemeint hat, dass das Ende der Geschichte erreicht sei. Nach dem Kriterium, das er entwickelt hat, dem Bewusstsein der Freiheit, geht es immer dann weiter, wenn neue Beschränkungen dieser Freiheit erkannt werden.
Wir sehen dagegen deutlich: Der Horizont ist noch nicht erreicht, er zeigt uns die Möglichkeiten. Das was nur „der Möglichkeit nach“ bestimmt ist, heißt bei Hegel „an sich“. Indem wir dem Horizont näher kommen, wird das, was erst nur an sich ist, verwirklicht (vgl. HW 12: 33). Die menschliche Existenzweise unterscheidet sich nun nach Hegel von derjenigen anderer Naturwesen dadurch, dass menschliche Kulturen in ihrer Veränderungsfähigkeit nicht nur beliebige Wechsel ihrer Form vollziehen, sondern dass sie sich hin zum Besseren orientieren, einen „Trieb zur Perfektibilität“ haben (ebd.: 74). Was das Bessere ist, ist zuerst einmal „ein ganz Unbestimmtes“ (ebd.: 75). Das Einzige, was sich davon sagen lässt, ist, dass es das Prinzip der Freiheitlichkeit zur Existenz bringen muss.
Dabei ist es Hegel durchaus bewusst, dass nicht alles, was historisch geschieht, sich in Richtung dieser Tendenz bewegt. Viele Reiche gehen unter, manches hat auch bloß eine „faule Existenz“ (ebd.: 53). Aber er geht davon aus, dass vieles davon als Unvollkommenes einen Keim des Vollkommenen als Trieb in sich hat (ebd.: 78). Im Unvollkommenen gärt der Widerspruch zwischen ihm und seinem Gegenteil, dem Vollkommenen. Hier (und nicht in der vorzeitigen Historisierung der Hegel’schen Logik) ist die Stelle, an der sich Hegels Dialektik auch historisch zeigt. Was getan wird, wenn wir versuchen „Keimformen“ einer nachkapitalistischen Gesellschaft zu antizipieren und zu praktizieren, das schreibt Hegel in substantivierter Form dem Geist zu, wobei „der Geist, indem er sich objektiviert und dieses sein Sein denkt, einerseits die Bestimmtheit seines Seins zerstört, andrerseits das Allgemeine desselben erfasst und dadurch seinem Prinzip eine neue Bestimmung gibt“ (HW 12: 104).
Als Akteure eines solchen Geistes denken wir also unser Sein, d.h. wir analysieren den Kapitalismus. Wir zerstören damit seine Bestimmtheit, denn wir erkennen die kapitalistischen Verhältnisse als historische, das heißt, als begonnene und endende Verhältnisse. Zu einem neuen Prinzip für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse kommen wir dadurch, dass wir das Allgemeine der gesellschaftlichen Verhältnisse neu fassen.
Bedingungs- und Möglichkeitsanalyse versus Kritik der Wirklichkeit am Maßstab des Wesens
Dabei können wir auf die Idee kommen, dass das Allgemeine selbst schon das neue Prinzip darstellt. Was bedeutet das? Wir können diesen Gedanken und seine Kritik bei Marx nachvollziehen. In seinen frühen Schriften betont er den allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, den er in ihrer „freie[n] bewusste[n] Tätigkeit“ (MEW 40: 516) sieht. An diesem Gattungscharakter misst er dann die vorgefundene Art zu arbeiten und findet sie „entfremdet“. Er begründet die Besonderheit des menschlichen Gattungscharakters explizit durch den Vergleich mit dem Tierreich: Der Mensch tritt demnach seinem Produkt frei gegenüber (d.h. er hat ein bewusstes Verhalten dazu), während das, was das Tier tut, „unmittelbar zu seinem physischen Leib“ gehört (ebd.: 517). Diese Art Bewusstheit und Freiheit kennzeichnet natürlich jede menschliche Arbeit zu jeder Zeit – sogar die Arbeit eines Sklaven –; der Gattungscharakter ist eine überhistorische Bestimmung. Wie sollte nun diese überhistorische Allgemeinheit zielführend in der menschlichen Geschichte sein, wenn sie doch sowieso immer vorhanden ist? Wieso sollte das überhistorische Wesen, das in allen Erscheinungsformen vorhanden ist, das Entstehen neuer Erscheinungsformen anleiten?
Marx und Engels kritisieren kurze Zeit später diese Vorstellung als eine von „den Philosophen“: „Die Individuen, die nicht mehr unter die Teilung der Arbeit subsumiert werden, haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen ‚der Mensch‘ vorgestellt, und den ganzen, von uns entwickelten Prozess als den Entwicklungsprozess ‚des Menschen‘ gefasst, sodass den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe ‚der Mensch‘ untergeschoben und als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde.“ (MEW 3: 69) Gleichzeitig entwickeln sie den Gedanken, dass „die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen“ (ebd.: 68), aber sie begründen dies nicht mit einem allgemeinen historischen Schema, sondern damit, dass die Produktivkräfte selbst einen dementsprechenden Entwicklungsstand erreicht hätten.
Dies ist eine andere Konzeption. Es geht um die Analyse von Bedingungen und Möglichkeiten. Das Wort Möglichkeit bedeutet zuerst einmal, dass das Mögliche nicht unmöglich ist und sich nicht widerspricht. Dies wird bei Hegel „formelle Möglichkeit“ genannt (HW 6: 202f.). Darüber hinaus kennt Hegel die Form einer Möglichkeit, die sich als „Möglichkeit eines Anderen“ zeigt – das ist die Bedingung (HW 8: 287). Eine Bedingung ist etwas Unmittelbares, das aufgehoben wird, wenn etwas anderes verwirklicht wird. Die Bedingungen sind die Scharniere, die zwischen wechselnden Zuständen, d.h. auch zwischen Gesellschaftsformen vermitteln. „Wenn wir die Bedingungen einer Sache betrachten, so erscheinen diese als etwas ganz Unbefangenes. In der Tat enthält aber solche unmittelbare Wirklichkeit den Keim zu etwas ganz anderem in sich. Dieses Andere ist zunächst nur ein Mögliches, welche Form sich dann aber aufhebt und in Wirklichkeit übersetzt.“ (Ebd.) Wenn die Bedingungen und Umstände nicht beim Denken konkret festgelegt, sondern in der abstrakten Schwebe gehalten werden, ist vielerlei (formell) möglich. Wenn jedoch eine Gesamtheit von Bedingungen vorhanden ist, die die Existenz einer Sache bedingen, so ist die Existenz dieser Sache real möglich. Alles, was existiert, ist „nach Möglichkeit“, d.h. seine Bedingungen sind gegeben und es ist „in Möglichkeit“, d.h. die Bedingungen können sich ändern und etwas anderes kann in Existenz treten (vgl. Bloch PH: 238). Genau dies ist der „Trick“ der natürlichen Evolution (vgl. Schlemm 1996). Alles, was existiert, verändert im Laufe seiner eigenen Existenzweise die eigenen Existenzbedingungen. Dies ist der eigentliche Grund dafür, „dass nichts bleibt, wie es ist“.
Allgemeine Evolutionsprinzipien
Die Art und Weise, wie nichts bleibt, wie es ist, hängt natürlich von der konkreten Sache ab, die sich verändert oder entwickelt. Aus der Analyse von Entwicklungsprozessen in der Natur lassen sich allgemeine Prinzipien leichter ableiten als aus der um ein Vielfaches komplexeren menschlichen Geschichte. Sie dürfen nicht kurzschlüssig auf diese übertragen werden, aber ein Blick darauf könnte heuristisch produktiv sein. Gerade dass wir als Menschen bewusst über unsere Entwicklungsmöglichkeiten nachdenken und aktiv am Hervorbringen neuer Möglichkeiten arbeiten, ist ein zusätzlicher Entwicklungsfaktor in der menschlichen Entwicklung. Einige der schon aus der Natur ableitbaren Prinzipien (aus Schlemm 1996: 201ff., 183) sind z.B.:
Veränderungen, die innerhalb der „alten“ Grundqualität bleiben, sind ab einem bestimmten Zeitpunkt „kontraproduktiv“, sie verstärken Mangelsituationen. Dies liegt daran, dass die verstärkte Anwendung der „alten“ Wechselwirkungen die Bedingungen/Ressourcen nur noch schneller verbraucht.
Keime für Neues entstehen im Allgemeinen in isolierten Gebieten (wo sie nicht gleich wieder ausgemittelt werden) und an unerwarteten Stellen (außerhalb der Wirkungsmechanismen der bisherigen Zusammenhänge).
Innere Plastizität und geeignete äußere Vielfalt sind für den „Sprung“ ins Neue, Höhere unerlässlich.
Im Fall der Konkurrenz zwischen verschiedenen Varianten des möglichen Neuen setzen sich die Formen des Neuen durch, die sich zuerst durch genügende Wechselbeziehungen ausreichend stabilisieren können.
Im „Qualitätssprung“ verändern sich die Komponenten sowie die Funktions- und Verhaltensweisen, und ihre Kombination wird neu organisiert. Insofern siegt nicht etwa ein Stärkerer, sondern es findet eine Ko-Evolution der neuen Teile des Ganzen statt. Auf der neuen Ebene verändern sich auch die Evolutionsprinzipien („Evolution der Evolution“).
Die „Evolution der Evolution“ ist damit verbunden, dass auf jedem Strukturniveau der Materie, dem physischen, dem biotischen und schließlich auch dem gesellschaftlichen neue Faktoren wirken, deren Wechselbeziehungen die Struktur konstituieren und deren Veränderungen die Entwicklung bestimmen. Ob die eben angegebenen Prinzipien allgemein genug sind, um für alle, also auch die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse sinngemäß zu gelten, muss natürlich untersucht werden. Das gilt auch für den methodischen Fünfschritt, den Klaus Holzkamp für die Analyse der Entwicklung des Psychischen verwendet hat (Holzkamp 1983: 78ff.), wobei er von einer strukturniveau-übergreifenden Geltung ausgeht (vgl. ebd.: 424). Er gibt aber auch deutlich zu bedenken: „Mit der Heraushebung der allgemeinen Prinzipien […] der Entwicklung ist weder ‚normativ‘ ausgesagt, dass ein solcher Entwicklungsprozess stattfinden muss, noch ist behauptet, dass die eine […] Entwicklungsprogression tatsächlich überall stattgefunden hat bzw. stattfinden wird, sondern es soll lediglich fassbar gemacht werden, nach welchen Prinzipien die […] Entwicklung, sofern sie stattfindet, begriffen werden muss, was auch das Begreifen der Bedingungen der Stagnation bzw. des Verfalls […] einschließt.“ (Ebd.: 184)
Die virtuelle Eule der Minerva
In der Geschichte geht es nicht bloß stufenförmig aufwärts, sondern die historischen Prozesse sind eher mit sich weitläufig verzweigenden Strukturen zu vergleichen, bei denen viele Zweige abbrechen. Bei der Evolution des Lebens auf der Erde ist lediglich ein Prozent der Arten, die einmal entstanden waren, übrig geblieben. Wie kann man in so einer verästelten Struktur überhaupt einen roten Faden finden wollen?
Wenn eine Ameise vom Baumstamm aus los läuft, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf einem bestimmten Blatt ganz außen an der Krone des Baumes ankommt? Sehr gering. Betrachten wir den Weg aber mal anders herum: Wir setzen die Ameise gedanklich auf das Zielblatt und schauen dann zurück und finden mit Sicherheit einen Weg, der von ihrem ersten Ausgangspunkt am Baumstamm über die großen Baumäste hin zu den feineren Verzweigungen bis hin zu dem bestimmten Zielblatt führt.
Bei Hegel wird die Philosophie nicht mit einer solchen Ameise, sondern mit der Eule der Minerva verglichen, die „erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (HW 7: 28) beginnt. Wer Hegel jemals selbst gelesen hat, weiß auch, dass für Hegel die Entwicklung nicht tatsächlich in seiner Gegenwart endet. Für ihn ist Amerika das Land der Zukunft, aber „als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an; denn wir haben es nach der Seite der Geschichte mit dem zu tun, was gewesen ist, und mit dem, was ist“ (HW 12: 114). Die Philosophie erscheint „erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat“ (ebd.). Vom Ende eines Entwicklungsprozesses aus gesehen, lässt sich der Weg von seinen Anfängen her ziemlich eindeutig rekonstruieren. Dies vollzieht auch Klaus Holzkamp, wenn er mit dem methodischen Fünfschritt die Entwicklung der Psyche im Verlauf der biotischen Evolution nachvollzieht. Wir haben schließlich eine hoch entwickelte Form der Psyche, und von diesem Standpunkt aus lässt sich fragen, welche Voraussetzungen jeweils in früheren Stadien unter welchen Bedingungen zu welchen weiteren Veränderungen und Qualitätssprüngen geführt haben.
Wenn es uns nun um die Keimformen einer möglichen neuen Gesellschaftsform geht, die weiter voran schreitet auf dem Weg zur Verwirklichung von Freiheit, so nutzen wir die menschliche Fähigkeit zur Antizipation. Wir stellen uns gedanklich, also „virtuell“ auf den Standpunkt einer weiter fortgeschrittenen Entwicklung und schauen von daher zurück auf die Gegenwart und ihre Möglichkeiten und Bedingungen.
Eine Bedingungsanalyse zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt uns, dass das menschliche Handeln in den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, also den kapitalistischen, „die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (MEW 23: 530). Das ist nicht neu, neu ist aber das Ausmaß der Zerstörungen. Die Herausforderung besteht darin, dass neue und freiere gesellschaftliche Verhältnisse entwickelt werden müssen unter Umweltbedingungen, die angesichts der weltweiten Zerstörung der fruchtbaren Bodenfläche und des Klimawandels dem menschlichen Tun nicht förderlich entgegen kommen, sondern große Anstrengungen zur einfachen Reproduktion erfordern werden. Es kann natürlich auch ganz anders kommen. Es braucht keine kosmische Katastrophe, um Endzeitszenarien für die Menschheit auf der Erde zu verwirklichen. Mögliche Entwicklungspfade, die vor uns liegen, können wir noch beeinflussen. Je länger wir warten, desto mehr progressive Wege werden verschüttet werden. Deshalb kommt es darauf an, jene Keimformen einer neuen Lebens- und Produktionsweise, die wir vom virtuellen Standpunkt einer besseren Zukunft her entdecken können, zu stärken. Die Fähigkeit zur Antizipation und zur Hoffnung gehört zu den produktiven Potentialen, die ebenfalls als Bedingungen in den Prozess eingehen. „Hoffnung ist keine Zuversicht, sondern ein Aufruf an uns Menschen, die wir doch an der Front des Weltprozesses stehen.“ (Bloch 1974: 97)
Literatur
Beyer, Wilhelm Raimund: Hegel und das Kreuzberger Völklein, in: Hegel: Natur und Geist. Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin 14, Red. Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond, Bochum 1988, S. 77-87.
Bloch, Ernst (PH): Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.
Bloch, Ernst (1974): „Die Welt bis zur Kenntlichkeit verändern.“ Gespräch mit Ernst Bloch, in: Münster, Arno: Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1974, S. 20-100.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (HW): Hegel Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu ed. Ausg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970.
Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/New York: Campus 1983.
Marx, Karl, Engels, Friedrich (MEW): Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Berlin: Dietz-Verlag 1981ff.
Rosenkranz, Karl (HW 2): Rosenkranz‘ Bericht über das Fragment vom göttlichen Dreieck. In: Jenaer Schriften. Hegel Werke Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 534-539.
Schlemm, Annette (1996): Dass nichts bleibt, wie es ist…: Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung. Band I: Kosmos und Leben, Münster: LIT-Verlag.