von Ilse Bindseil
Ein Blick etwa in die Reihe „Tierrechte – Menschenpflichten“ des Erlanger Verlags Harald Fischer, belehrt darüber, dass über Tiere, in einem zeitgenössischen, auch einem zeitgenössischen historischen Interesse, bereits intensiv nachgedacht wird. Wer sich dem Thema stellen will, kann hier etwas erfahren: wie groß die aufzuarbeitenden eigenen Defizite sind, zum Beispiel, aber gewiss auch, welche Fallstricke bei der Beschäftigung mit ihm lauern.
Dass das Thema für die Reflexion eine einzige Falle ist – und die Defizite daher vielleicht auch als ein Versuch betrachtet werden können, diese Falle zu umgehen –, dieser Verdacht verdichtet sich bei einer eher zufälligen Lektüre, die den formalen Raster stärker als die Inhalte in den Blick nimmt (letztere würden ihn vielleicht wieder zerstreuen). In einer „Sind klügere Tiere schützenswerter?“ überschriebenen Kurzrezension des jüngsten, sechzehnten Bandes der oben genannten Reihe, Judith Benz-Schwarzburgs Untersuchung „Verwandte im Geiste – Fremde im Recht. Soziokognitive Fähigkeiten bei Tieren und ihre Relevanz für Tierethik und Tierschutz“, wird lobend erwähnt, dass die mit einem Preis ausgezeichnete Autorin „die Untersuchungen zur Tierintelligenz und Debatten um die Tierethik“ zusammenführt mit dem Ergebnis der Forderung nach „Persönlichkeitsrechten für Tiere mit soziokulturellen Fähigkeiten“ (NZZ vom 22.8.2013). Wir sind hier in der Great-Ape-, in der Delphin-, der Papageiendebatte (ebd.). „Werkzeuge gebrauchen, Aktionen koordinieren, einander helfen und einander übers Ohr hauen, über eine komplexe Kommunikation verfügen und lokale Kulturen ausbilden“ (ebd.) macht Tiere den Menschen ähnlich wie seit Jahrtausenden die Menschen Gott und – unähnlich allen anderen Tieren. Soll so beispielsweise auf die Kritik von Günter Anders eingegangen werden, auf die die Vorbemerkung Manuela Linnemanns zur 2000 als Bd. 3 der genannten Reihe erschienenen Anthologie „Brüder – Bestien – Automaten. Das Tier im abendländischen Denken“ verweist: „… die Idee, die Einzelspezies ,Mensch‘ als gleichberechtigtes Pendant den abertausenden und voneinander grenzenlos verschiedenen Tiergattungen und -arten gegenüberzustellen und diese abertausenden so zu behandeln, als verkörperten sie einen einzigen Typenblock tierischen Daseins, ist einfach anthropozentrischer Größenwahn“? (G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956), Bd. 1, München 1994, S. 327, Anm. 33, zitiert nach www.walk-the-dog.eu/de/materialien/mensch_und_tier/bibliothek/tierrechte/) Ist das die Abkehr vom Unfug, den Menschen als „animal rationale“ von allen andern Tieren „abzuheben“, die sich „unter den gleichen Sammelbegriff subsumieren lassen: von der Amöbe über die Kellerassel zur Ringeltaube bis hin zum Menschenaffen“ (ebd.): dass man, in bewährter Kriegsführung, den Gegner zerlegt?
Ich will diese Bücher nicht lesen!
Wenn, wie jüngst in der Zeitung berichtet, die Hähnchenmästereien, deren Größe und Verteilung allein auf der bundesrepublikanischen Landkarte bereits jetzt Angst einflößen können, um die Auslastung der zugeordneten Großschlachtereien zu gewährleisten, eine Ausdehnung um, im Spitzenfall Hessens, mehr als 200 Prozent planen (wobei der Absatz über Afrika gesichert wird), dann wird eine Nutzanwendung der oben angedeuteten Spaltung der Tiere deutlich: Hähnchen denken nicht, das ist geradezu ein Axiom für ihre industrielle Aufzucht und Großschlachtung. Über Industriehähnchen, jedenfalls, kann man wegen der in der Rezension ebenfalls genannten „zwei (anerkannten) Gründe[n] …, Tiere zu schützen, nämlich Leidensfähigkeit und Gefährdung“, nicht nachdenken: Wie könnte gefährdet sein, was man vervielfältigt, und wie käme die Emotion in den industriellen Prozess; wäre da ein Weg, er müsste ausgeschlossen werden (freilich kommt er als Ekel und Selbstekel zurück, und sei es über die pure Zahl, das schlichte Symbol in der Grafik).
Ist, um von den „Brüdern im Geiste“ zu den Industriehähnchen zu gelangen, was die Ableitung betrifft, ein Abgrund zu überwinden, so kann, wenn es um die Menschenaffen als die wahren Brüder geht, der notwendige Abstand derart unterschritten werden, dass ein Abgrund sich wahrlich auftut: Im Folio-Heft 5 (NZZ), 2012 erinnert Jad Abumrad an die Schimpansin Lucy, die 1962, „am Tag ihrer Geburt“, von einem „Psychoanalytiker aus Oklahoma adoptiert“ wurde: „Er wollte wissen, ob Schimpansen sich in der Gesellschaft von Menschen zurechtfinden, wollte herausfinden, wie menschlich Affen sein können.“ Die Einzelheiten dieses skandalösen Experiments rufen Abwehrreaktionen hervor, vergleichbar denen bei der puren Erwähnung von Hähnchenmästereien. Sie erfüllen den zwischen Missbrauch und Misshandlung oszillierenden Tatbestand in der gewohnten Weise, nur unter der ahnungsvollen Schrecken erregenden Verfremdung, dass die Beteiligten ein Affe und ein Psychoanalytiker sind und das Ganze als Experiment angelegt ist. „In Temerlins Buch heißt es: ‚Wir ahnten nicht, was für ein Drama wir schufen, als wir Lucy zu uns holten.‘“ Die Ahnungslosigkeit könnte ebensogut als das eigentlich Schreckenerregende gewertet werden, so wie die Tatsache, dass der (naturwissenschaftliche) Experimentator ein (von der Sprache und nichts als der Sprache lebender) Psychoanalytiker ist. Sie ist ein Zeichen oder Beweis dafür, dass der unabdingbare Minimalabstand gegenüber dem eigenen Tun, dem anderen Objekt unterschritten und von nun an jede Kombination, der Kurzschluss schlechthin zwischen Psychoanalytiker und Schimpanse, Emotion und Experiment usw. möglich ist.
Haben Hähnchenmästereien mit der Debatte um „Persönlichkeitsrechte für Tiere“ (NZZ-Rez.) nur in der höchst unangenehmen Weise zu tun, dass sie dabei herausfallen, so ist die Missbrauchsgeschichte der Schimpansin Lucy, obwohl sie bereits aus den sechziger Jahren datiert, dafür wie maßgeschneidert. So wäre es heute mit den „Persönlichkeitsrechten“ von Schimpansen nicht vereinbar, dass sie man sie dazu verführt, vor menschlichen pornografischen Abbildungen zu onanieren. Darüber sollte freilich nicht vergessen werden, dass für einen solchen Tatbestand der steinzeitlich anmutende Begriff der Tierquälerei durchaus reichen würde. Im Gegensatz zu dem der Persönlichkeitsrechte – und deshalb muss er womöglich überwunden werden – zerstört er auch nicht den Zusammenhang zum industriell gefertigten Tier, das bei seiner Herstellung und Vernichtung ja ebenfalls nicht ‚unnötig‘ gequält werden darf; wobei ‚nötig‘ den gesamten industriellen Komplex enthält. In der Geschichte von Lucy spielt ‚unnötig‘ die heimliche Hauptrolle, wobei das Urteil über das gesamte Experiment an sich, das – wie mir scheint, vom Autor durchaus gelenkt – die gesamte Lektüre begleitet, ungleich leichter als im Fall der Fleischproduktion fällt. Im ersteren Fall muss man nur auf die berühmte innere Stimme hören, im letzteren kann man sich in der gewohnten Weise zerlegen, in Tierfreund und Fleischesser zum Beispiel.
Kann man über Tiere überhaupt nachdenken? Denken kann man nur in der Form des logisch-grammatischen ‚über‘, nachdenken kann man nur über sich selbst. Wo der wesentliche Bezug, ob zum Partner, ob zum Gegenstand, oszilliert (s. o.), ergibt sich eine allgemeine Undeutlichkeit, ein allgemeines Unbehagen, das Gefühl einer fortdauernden Dringlichkeit bei fortdauernder Unlösbarkeit.
Wenn beim Tier nicht sowohl unverzichtbar wäre, dass es ein Partner wie dass es ein Gegenstand ist, könnte man über es nachdenken. Da es aber gleichzeitig einen Objektstatus und eine Spiegelfunktion hat, ist die elementarste Voraussetzung, die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, nicht gegeben. Ein Oszillieren zwischen beiden scheint nicht nur die Folge, sondern geradezu die Grundlage des Verhältnisses zu sein. Nicht einmal in der zurückgenommenen Form des eigenen Verhältnisses zum Tier kann man nachdenken, ohne sofort in die Falle zu tappen. Man oszilliert, mit andern Worten, man denkt nicht.
Normalerweise würde man kritisch von Rationalisierung sprechen. Aber für die erhitzten Debatten ums Tier scheint mir dieser Begriff zu verständig.