von Julian Bierwirth
Der Kapitalismus ist laut Marx und Engels durch „die fortwährende Umwälzung der Produktion“ und „die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ gekennzeichnet und führe dazu, dass „alles Ständische und Stehende verdampft“ (Kommunistisches Manifest). Was Marx und Engels zunächst für Beziehungen der Menschen zueinander beschrieben haben, gilt sogar in einem wesentlich weiteren Sinne. Alles im Kapitalismus zielt auf Bewegung ab, und wer in ihm nicht untergehen will, ist darauf angewiesen, diese Bewegung stetig zu beschleunigen. Das gilt zunächst und ganz einleuchtend für die Produktion: Dass nur diejenige Arbeit als Beitrag zum gesellschaftlichen Reichtum anerkannt wird, die zur Verfertigung des Produktes notwendig ist, gilt nicht nur für die Produktion der Waren, sondern auch für ihren Transport dorthin, wo sie verkauft werden sollen. Um die Umschlagzeiten zu verkürzen und die Transportkosten zu verringern, stehen auch hier die Zeichen auf Beschleunigung. Zu Zeiten der Hanse betrug die Fahrtgeschwindigkeit über Land fünf bis sieben Meilen, zu Schiff waren immerhin bis zu 32 machbar. Erst seit dem 18. Jh. ging es dann immer schneller. Die alten Karren wurden durch Kutschen ersetzt und die Wege wurden zu gepflasterten Straßen. Für die gut 600 km zwischen Paris und Bordeaux dauerte es 1765 immerhin noch 14 Tage, 1780 waren es bereits nur noch sechs, bis 1831 war die benötigte Zeit bereits auf drei Tage gesunken, 1848 ließ sich diese Strecke im Sommer in flotten 40 Stunden zurücklegen und heute dauert die Fahrt mit dem PKW zwischen sechs und sieben Stunden – eine bemerkenswerte Karriere der Geschwindigkeit.
Diese immense Beschleunigung wurde von den Zeitgenossen durchaus nicht immer nur positiv zur Kenntnis genommen. Denn die Verkürzung der Reisezeiten ging nicht selten auf Kosten der Muße und Annehmlichkeit. Der Schriftsteller Joseph von Eichendorff hat das in seinem Roman „Aus dem Leben eines Taugenichts“ 1826 anschaulich geschildert: „Wir fuhren nun über Berg und Tal Tag und Nacht immerfort. Ich hatte gar nicht Zeit, mich zu besinnen, denn wo wir hinkamen, standen die Pferde angeschirrt, ich konnte mit den Leuten nicht sprechen, mein Demonstrieren half also nichts; oft, wenn ich im Wirtshause eben beim besten Essen war, blies der Postillon, ich mußte Messer und Gabel wegwerfen und wieder in den Wagen springen und wußte doch eigentlich gar nicht, wohin und weswegen ich just mit so ausnehmender Geschwindigkeit fortreisen sollte.“
Beim Unternehmen der Beschleunigung handelte es sich also ganz augenscheinlich um einen Selbstzweck. Wäre es darum gegangen, den Einzelnen mehr Zeit zu verschaffen – das Vorhaben wäre großartig gescheitert. Weil es aber gerade darum nicht ging, sondern lediglich um Beschleunigung um der Beschleunigung willen, muss es hingegen als höchst erfolgreich bezeichnet werden.
Wesentlich drastischer noch als zur Zeit der Postkutschen fiel die Skepsis gegenüber der neuen Technologie bei der Durchsetzung des Eisenbahnverkehrs aus. So schrieb etwa der Dichter Heinrich Heine über die Eröffnung der Eisenbahnen in Paris: „Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, dass unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, dass neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. (…) Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Mann getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu töten! (…) Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.“
Im Rückblick erscheint derartiger Pessimismus unangebracht. Wir haben uns an die neuen Reisegeschwindigkeiten gewöhnt, eine Fahrt mit der Kutsche ist für uns ein romantisches Erlebnis, eine gewöhnliche Dampflok kommt uns angesichts heutiger Beförderungsmöglichkeiten geradezu grotesk langsam vor. Einstmals als unvorstellbar erlebte Neuerungen sind so heute zur Normalität geworden. Ist der Mensch also ein Gewohnheitstier, das sich zwar mit etwas Zeit, aber am Ende doch recht problemlos an neue Situationen anpassen kann? Ist er in eben diesem Sinne ein „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, wie Marx das in den Thesen über Feuerbach formulierte?
Es ist nicht auszuschließen – aber es gibt doch allerhand erschreckende Hinweise, dass die Beschleunigungszumutungen, die inzwischen das ganze Leben ergriffen haben, den Menschen arg zusetzen: Wenn etwa laut dem neuesten Stressreport der deutschen Bundesregierung die Anzahl der Ausfalltage von Erwerbstätigen aufgrund psychischer Erkrankungen in den letzten 15 Jahren um 80 Prozent gestiegen ist, dann deutet dies darauf hin, dass Tempo und Hektik in der postfordistischen Arbeitswelt den Menschen nicht unbedingt gut bekommen. Und der vom AOK-Bundesverband in Auftrag gegebene Fehlzeiten-Report zeigt für Deutschland eine Verdoppelung der Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen. Kein Wunder also, dass Burnout und Depressionen in aller Munde sind: Ganz offensichtlich setzt unsere Psyche am Ende die Entschleunigung durch: mit Krankheit oder Tod.
Weiterführende Literatur
Badura, Bernhard: Fehlzeiten-Report 2012: Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt: Chancen nutzen – Risiken minimieren, Berlin : Springer Verlag.
Borscheid, Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/New York : Campus Verlag 2004.
Lohmann-Haislah, Andrea: Stressreport Deutschland 2012: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden, Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2012.