Einige Fragen zu uns selbst
von Andreas Exner
Nach Jahrzehnten des Schweigens und des Leidens im Stillen haben Flüchtlinge das Wort erhoben. Sie protestieren, lassen sich nicht mehr ins Dunkel drängen. Die beherzte Aktion der Flüchtlinge, die im Herbst 2012 nach Wien marschierten, vor der Votivkirche campierten und schließlich in einen Hungerstreik traten, macht uns nachdenklich. Wie groß ist das Elend, das der österreichische Staat tagtäglich verursacht? Und wer ist dafür verantwortlich? Rasch fragen wir bei einem Problem nach der Ursache. So auch hier.
Flucht vor der Ungleichheit
Die Frage nach den Ursachen des Flüchtlingsleids beginnt bei der Frage, warum Menschen überhaupt fliehen, und wovor. Diese Frage ist leicht zu beantworten. Menschen streben nach einem guten Leben, und in weiten Teilen der Welt ist ein gutes Leben unmöglich. Genau genommen gibt es ein gutes Leben auch in Österreich nicht. Dennoch sind wir hier in Österreich jenseits der Grenzen unserer Vorstellungskraft privilegiert. Noch schlimmer: Das hohe Konsumniveau der Menschen hierzulande beruht gerade auf dem niedrigen Konsumniveau in Afrika, Lateinamerika und Asien. Würden alle gleich viel konsumieren, müsste das Konsumniveau schon aus ökologischen Gründen deutlich tiefer liegen.
Ein geringerer Konsum bedeutet übrigens keineswegs weniger Lebensqualität. Diese hängt nämlich vor allem von sozialer Gleichheit und dem freien Zugang zu Gütern und Diensten ab.
Es ist ganz logisch, dass Menschen versuchen die soziale Ungleichheit zu schmälern, und die Schranke, die ihnen die Kaufkraft setzt zu überwinden, indem sie eben dorthin fliehen, wo die Früchte ihrer Arbeit landen: zum Beispiel nach Österreich. Zudem sind die politischen Verhältnisse hier relativ ruhig, die Gewalt des Staates zeigt sich nicht so offensichtlich wie in den Ländern, wo Folter keine Ausnahme wie in Österreich ist, sondern die Regel. Wie Generationen von Menschen aus Österreich vor ihnen, die ausgewandert sind in ein besseres Leben, für ihr Überleben oder ihre Freiheit, gilt das auch für Flüchtlinge heute.
„Eigene Leistung“: eine Ideologie
Warum wird dieser einfache Zusammenhang nur so selten auch erkannt? Ein wesentlicher Grund dafür ist die Ideologie der Arbeit und der „ehrlichen Leistung“. Tatsächlich beruht das hohe Produktivitätsniveau, das für billige Waren und im globalen Vergleich hohe Kaufkraft verantwortlich zeichnet, auf der Arbeit vergangener Generationen. Sie hat sich in Maschinen manifestiert, in einer gesellschaftlichen Infrastruktur, die nur mit Ressourcen betrieben werden können, die von Außen nach Österreich gelangen. Wir sind materiell gesehen völlig hilflos, wären da nicht die billigen Erzvorkommen in Afrika, das Öl im Mittleren Osten, und die Weltmarktfabriken in China mit ihrer konkurrenzlos billigen Arbeitskraft.
Die Ideologie dagegen sagt, dass jeder seines Glückes Schmied ist und dass, wer „viel leistet“, auch „viel verdient“. Das ist offenkundiger Unsinn, denn wie wollte man die enormen Einkommensspannen je mit „eigener Leistung“ erklären? Dennoch sitzt diese Ideologie fest im Sattel, vor allem weil sie tagtäglich in der Schule, im Betrieb, in den Medien bestätigt wird. Man sieht nicht, dass zum Beispiel schulischer Erfolg zum größten Teil von der Herkunft eines Menschen bestimmt wird und im Durchschnitt nichts mit individuellen Eigenschaften zu tun hat. Man sieht nicht, dass das Einkommen kaum von eigener Leistung abhängt, sondern auf dem Erfolg vergangener Kämpfe um Kollektivverträge, Arbeitszeiten und Sozialleistungen beruht. Man sieht nicht, dass Reichtum heute überhaupt nicht auf „eigener Leistung“ basieren kann, weil die Gesellschaft und das System zur Erzeugung von Reichtum unglaublich komplex und maschinisiert ist, viel mehr als die Summe der Teile.
„Eigene Leistung“ spielte eine Rolle auf dem Acker eines Feudalbauern oder ist immer noch entscheidend für das Überleben einer afrikanischen Bäuerin. Doch in Österreich hat „eigene Leistung“ keine wesentliche Bedeutung – außer in ideologischer Hinsicht.
Diese Ideologie blendet systematisch aus, dass „unser Wohlstand“ auf Jahrzehnten der Vertreibung, Ausbeutung, ja, der Vernichtung von Gesellschaften außerhalb Österreichs und Europas beruht. Die industrielle Revolution in Europa wäre undenkbar gewesen ohne Getreide aus Nordamerika und Indien, das im 19. Jahrhundert die ArbeiterInnenklasse hierzulande ernährte. Und dieses Getreide fehlte den Bauern in Indien, die zu Hunderttausenden starben, wie Mike Davis in seinem Buch „Die Geburt der Dritten Welt“ zu unserem Entsetzen dokumentiert. Dieses Getreide hatte auch die Bisonherden verdrängt, von denen die Native Americans abhängig waren. Diese Basis „unseres Wohlstands“ heute umfasste noch viele andere Lebensmittel und organische Rohstoffe.
Fast immer wird auch verdrängt, dass „unser Wohlstand“ wesentlich auf der Zwangsarbeit und Vernichtung von Millionen Menschen während des Nationalsozialismus beruht. Österreich war bis dahin ein relativ rückständiges Land mit vergleichsweise gering entwickelter Industrie. Der Nationalsozialismus erst schuf das Fundament des „Wirtschaftswunders“. Das klingt paradox, denn mit der Niederlage des NS-Regimes und der es stützenden Bevölkerung – und das war der größte Teil – wird im allgemeinen Verständnis das großflächige Bombardement von Wohngebieten verbunden, und der Hunger nach dem Krieg. Doch waren die industriellen Anlagen nicht wesentlich beschädigt, und nur das zählte.
Der Skandal des „österreichischen Wohlstands“ wird also auf allen Ebenen negiert. Selbstherrlich rückt man sich das Privileg, völlig unverdient an der Spitze der globalen Statushierarchie gelandet zu sein, per Geburt, zu einem Erfolg „eigener Leistung“ zurecht. Das geht nur mit Dummheit, Unwissenheit oder mittels Ignoranz. Nur so auch ist es möglich, Flüchtlinge als irgendwie „von Außen“ kommend zu halluzinieren, als hätten „sie“ nichts mit „uns“ zu tun, so als wären ihre Bewegungen unerklärlich und „wir“ lediglich mehr oder weniger großzügige Gastgeber. Das schlägt der Realität ins Gesicht.
Österreich: Teil eines Mordsystems
Doch nicht nur das. Österreich ist auch vom „großzügigen Gastgeber“ Lichtjahre entfernt. Österreich stützt in Wahrheit ein System, das Menschen mordet, und zwar an den Grenzen, die es aufzieht um sich abzuschotten von denen, die es ausbeutet und ins Elend stürzt.
Es ist kaum übertrieben, wenn man feststellt, dass wir uns heute in einer Situation ähnlich der am Vorabend des Nationalsozialismus befinden. Damit ist keineswegs gesagt, dass dem Vorabend mit Notwendigkeit die Nacht folgen wird. Doch die Lage ähnelt sich.
Auch heute erleben wir eine staatliche Repression, die sich fortschreitend verschärft und immer mehr Überwachung, in einem Klima anwachsenden Rassismus. Menschen, die als „fremd“ gelten, werden heute – und nicht erst seit heute – wieder deportiert, sie werden in Gefängnisse gepfercht, ihnen werden grundlegende soziale Rechte versagt, sie werden stigmatisiert, öffentlich gedemütigt. Daher sind auch die Mittel, die gegen den Nationalsozialismus eingesetzt wurden – von wenigen nur, wie man weiß – legitim: die Beherbergung von illegalisierten MigrantInnen, die Unterstützung von Flucht und Beihilfe zum Untertauchen von Verfolgten. Der neoliberale Staat ist eine Bedrohung.
Der Staat, ein Käfig für uns alle
Der Historiker Immanuel Wallerstein hat auf den Widerspruch hingewiesen, dass zwar alle Menschen ausreisen dürften, aber nicht alle auch zur Einreise berechtigt sind. Wer ausreisen aber nicht einreisen darf, darf de facto auch nicht ausreisen. Er lebt also in einem Käfig. Diesen Käfig bilden wir, oder, genauer gesagt, unter anderem der österreichische Staat.
Doch sperrt dieser Käfig nicht auch uns ein? Zwingt er uns nicht in ein Leben, das ständig von einer vermeintlich höheren Macht, dem Staat, kontrolliert wird? Hat das etwas mit Freiheit, mit Freude, Leichtigkeit, mit sozialer Gleichheit und einem guten Leben zu tun?
Viele werden behaupten, der Staat sei vielleicht nicht optimal, aber etwas Besseres hätten wir eben nicht. Und ganz ohne Autorität wäre doch keine Gesellschaft vorstellbar. Doch was leistet der Staat für uns, was nicht auch nicht-staatliche Organisationen leisten könnten? Und was würde uns fehlen ohne Staat, was wirklich nur des Staates ist? Der berühmte Soziologe Max Weber betonte, dass den Staat das legitime Monopol physischer Gewaltsamkeit ausmache. Keine Funktion des Staates sonst sei jemals nur von einem Staat erfüllt worden. Universitäten, Gesundheitseinrichtungen, Medien, Verwaltungsdienste, soziale Sicherheit, für all dies braucht es keinen Staat. Die kapitalistische Wirtschaft, die auf allseitiger Konkurrenz zwischen den Unternehmen beruht, sie braucht den Staat, denn sie unterminiert ihre eigenen Grundlagen, sie würde keine Infrastruktur, die nur begrenzt profitabel betrieben werden kann, herstellen können. Der Staat ist ein Herrschaftsapparat, der von der Unternehmerschaft ebenso wie von den Lohnabhängigen relativ getrennt ist. Er kann relativ unabhängig von diesen Klassen Handlungen setzen. Diese besondere politische Form, der Staat, ermöglicht überhaupt erst das System der Konkurrenz.
In einer Gesellschaft, die sich selbst verwaltet, gäbe es keinen von ihr unterschiedenen Apparat der Macht. Der Staat, das ist keine sinnvolle Ansammlung nützlicher Dienstleistungen. Denn dafür bräuchte es keine Armeen, keine Polizei, keine Gefängnisse, keine Staatssicherheit, keine „Terrorbekämpfung“, keine „Sozialarbeit“, keine Arbeitslosenverwaltung, nichts, was den Staat ausmacht. Eine Gesellschaft, die keinen Terror sät, braucht keine „Terrorbekämpfung“. Eine Gesellschaft, die keine „Sozialfälle“ produziert, braucht keine „Sozialarbeit“. Eine Gesellschaft, die keine Kriminellen erzeugt, braucht kein Gefängnis. Eine Gesellschaft, die nicht auf Krieg beruht, braucht keine Armee.
Sogar im Kapitalismus sind Länder mit relativ hoher sozialer Gleichheit deutlich friedlicher nach Innen wie nach Außen, die Inhaftierungsquoten sind niedriger und der Strafvollzug ähnelt eher sozialer Unterstützung, wie Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem Buch „The Spirit Level“ anschaulich beschreiben. Es mag in einer Gesellschaft ohne Staat Grenzfälle geben, wo zum Beispiel physische Gewalt im Sinne eines In-Gewahrsam- Nehmens unvermeidlich ist. Doch würde dies keinen Staat erfordern, keine bestimmte Gruppe mit dem legitimen Monopol physischer Gewaltsamkeit. Vor allem aber wäre Gewalt ausschließlich für äußerste Notfälle im zwischenmenschlichen Verkehr reserviert, zum Selbstschutz, nicht aber für den Schutz des Privateigentums und des Konkurrenzsystems, wie im Kapitalismus durch Strafe und Unterdrückung.
No Border, No Nation – Stop Deportation!
Flüchtlinge sollen nach Meinung mancher danach selektiert werden, ob sie „der Wirtschaft etwas bringen“ oder nicht. Doch ist die kapitalistische Wirtschaft ja gerade die Ursache für die wachsende soziale Ungleichheit und die Unterdrückung in so vielen Ländern, die Menschen zur Flucht zwingt und treibt. Sie hat der Kapitalismus „ausselektiert“, sie hierzulande erneut zu „selektieren“ setzt diese Menschenverachtung fort. Dieser Ansatz verweist auch direkt auf die Kontinuität mit dem Nationalsozialismus.
Eine andere Position betont, dass sich der Süden eben noch „entwickeln“ müsse, dort habe die Wirtschaft noch kräftig zu wachsen, dann ginge es den Menschen besser. Bis dahin müsse man notgedrungen bei einer restriktiven Flüchtlingspolitik bleiben, das heißt – was zumeist nicht gesagt wird – bei der Aufrechterhaltung tödlicher Grenzen und des Rassismus, der diese Grenzen ideologisch rechtfertigt. Doch ist diese „Entwicklung“ offenbar gescheitert. Eine Hoffnung darauf gleicht einer Fata Morgana – und einer wohlfeilen noch dazu, denn sie hat ja die Funktion, von der Verantwortung zu entlasten, die wir für das globale Elend tragen. Und selbst wenn „Entwicklung“ möglich oder wünschenswert wäre: sie enthebt uns nicht der Notwendigkeit, Solidarität zu üben und Hilfsbedürftige aufzunehmen.
Eine sinnvolle Position in der Flüchtlingsdebatte kann nicht auf eine vermeintlich bessere Verwaltung des Elends zielen, sondern muss den Einsatz für konkrete soziale Verbesserungen für Flüchtlinge mit einer grundsätzlichen Ablehnung staatlicher Strukturen verknüpfen. Beide Ansätze bestärken einander, denn nur wer die Ursachen des Flüchtlingselends in den Blick nimmt, kann auch konkrete Verbesserungen erreichen. Zugleich sind solche Verbesserungen immer auch ein Schritt zur Zurückdrängung des Staates.
Freie Bewegung für alle würde die soziale Ungleichheit mildern helfen, die ja gerade auf der Ein- und Aussperrung von Menschen in Nationalstaaten beruht. Mehr Gleichheit würde uns allen gut tun, und sie würde die Ursachen der Flucht an ihrer Wurzel überwinden.
Original auf kaernoel.at