von Franz Schandl
I.
Mal was anderes. Wir gehen raus.
Das Schreiben ersetzt allzu oft das Handeln. Jenes kann zu einer Sucht werden, indem es von einem wichtigen Ausdrucksmittel zur zentralen, ja fast ausschließlichen Aufgabe des Kritikers aufsteigt. Schreiben heißt nicht unbedingt leben, schon gar nicht erleben. Vor allem der kritische Intellektuelle neigt dazu, hauptsächlich mit seinesgleichen zu verkehren und seinesgleichen zu suchen. Das ist ihm individuell gar nicht zu verübeln, es fragt sich nur, ob es gescheit ist, ob eins damit nicht seinen Horizont einengt, indem a priori einiges ausgeschlossen wird.
Kritiker lieben die Zeitachse, Geschichte ist die ihnen anverwandte Wissenschaft. Was sie vernachlässigen, ist die Geographie. Sie erscheint ihnen als ein bloßes Nebeneinander von Orten, und da will eins sich, weil es ja kann, doch zumindest seinen aussuchen oder umgekehrt, die ihm unangenehmen meiden. Lieber als reell den Raum zu durchstreifen, durchzieht eins virtuell die Zeit.
II.
Streifzüge der Streifzüge stehen also auf dem Programm. „Unter den verschiedenen situationistischen Verfahrensweisen lässt sich das Umherschweifen als eine Technik des hastigen Passierens verschiedenartiger Stimmungsfelder definieren. Das Konzept des Umherschweifens ist unlösbar verbunden mit der Erkundung psychogeographischer Auswirkungen und der Affirmation eines konstruktiv-spielerischen Verhaltens. Es steht in jeder Hinsicht im Gegensatz zu den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs.“ (Guy Debord präsentiert Potlatch 1954-1957, Berlin 2002, S. 332) Eins gibt sich den „Verlockungen des Terrains“ hin, „vom Standpunkt des Umherschweifens besitzen die Städte ein psychogeographisches Bodenprofil mit konstanten Strömungen, Fixpunkten und Strudeln“ (ebenda).
Umherschweifen, „derive“, nannten die Lettristen, die späteren Situationisten, ihre Streifzüge durch Paris, Streifzüge nennen sie die Streifzüge durch Wien. Es geht darum, bewusst wie experimentell, neue Pfade zu betreten. Im Mikrokosmos räumlicher Weltdurchschreitungen soll Terrain für weitgehende Überlegungen und Handlungen gefunden werden. „Die Psychogeographie macht sich also anheischig, die genauen Gesetze und Auswirkungen der geographischen Umwelt zu studieren, gleich ob diese bewusst gestaltet ist oder nicht, sowie ihren direkten Einfluss auf das psychische Verhalten der Individuen.“ (S. 299) Es geht um präzise Beobachtungen, die festgehalten und analysiert werden sollen. Um eine genaue Anschauung von Räumen und ihren Dimensionen. Gegenwart und Zukunft gehen vor der Vergangenheit. Die offene Zeit ist gewichtiger als die (ab)geschlossene.
Aufgebrochen werden soll auch die Vergangenheitsfixiertheit, die eine doppelte Trauer darstellt; einmal betrauert sie verpasste Gelegenheiten, das andere Mal ehedem (gegen sie oder auch von ihr) durchgesetzte Ungeheuerlichkeiten. Das Starren auf das Gewesene lähmt die Kritik mehr, als sie diese beflügelt. Sie verwechselt ständig Perspektive mit Retrospektive. Das Vergangene wird nicht als Aspekt von Gegenwart und Zukunft wahrgenommen, jenes tritt vielmehr auf als historische Beladenheit, als Beschlagnahme ad infinitum. Was der übrigen Gesellschaft zu Recht an Geschichtsvergessenheit vorgeworfen wird, kompensiert und zelebriert sich geradezu als manische Geschichtsversessenheit.
„Was alles nicht sein darf“ ist allerdings kein guter Antrieb einer kritischen Bewegung, sondern eine Bremse. Das „Nie wieder!“ tendiert zu einem „Nie“ und meint im Resultat mehr sich selbst als das zu Bekämpfende. Das Negative verrät sich als unsympathischer Attentismus der Form. Zweifellos, eins entgeht mehr den Tücken des Lebens, je mehr es davon liegen lässt. Aber das kann wohl kaum Ziel sein.
III.
Wir wissen nicht, welche Möglichkeiten heute vorhanden sind, doch wir glauben zu wissen, dass die, die wir nützen, nicht die einzigen sein können. Daher begeben wir uns auf die Suche. Wir können uns verlaufen, aber wenn wir stehen bleiben, wissen wir nicht einmal dies. Formal handelt es sich bei den Streifzügen um nichtteilnehmende Beobachtungen, die sich aber der Teilnahme und des Beobachtet-Werdens nicht gänzlich entziehen können und auch nicht sollen. Die Streifzüge dienen aber keinem agitatorischen Zweck. Sollte sich irgendwo Zuspruch und Unterstützung ergeben, dann freut das, wir sind jedoch auf keiner Werbetour. Der Streifzug ist kein Feldzug.
Gegenstand der Betrachtung sind Erzählungen und Anekdoten ebenso wie Baulichkeiten und Werbeflächen, Geschäfte und Strassen, vor allem aber die Verhältnisse von Menschen in ihrer spezifischen Umwelt. Grad und Dichte der Weltdurchdringung durch den Wert soll an seinen Objekten rezipiert werden, ganz anschaulich gilt es, die Stimmungen der bürgerlichen Gemüter zu eruieren. Aber auch die Möglichkeiten der Entziehung und das Sperrige will studiert sein. Inwiefern jenes kritisch ist oder kritisch werden kann bzw. nicht über Renitenz und Ressentiment hinausreicht, ist jeweils zu sondieren.
IV.
Zu erstellen ist eine Art Typologie der Streifzüge, die freilich ständig den Anforderungen, Erfahrungen und Erkenntnissen anzupassen ist. Auf jeden Fall gilt es loszugehen. Bei den Streifzügen unterscheiden wir das Passieren und das Verweilen (inbegriffen die Pausen). Streifzüge gestalten sich letztlich situationsbedingt. Es soll keine fixen Vorgaben geben, was wiederum heißt: es gibt welche und auch keine. Eins kann folgendes auseinanderhalten:
● Ausgangspunkt und Endpunkt sind räumlich getrennt, weiters ist zu unterscheiden, ob der Endpunkt bestimmt ist oder sich aus anderen Faktoren ergibt oder ergeben darf.
● Ausgangs- und Endpunkt fallen in eins, also ein zurückkehrender Rundgang
● Ausgangs- und Endpunkt sind mit dem Raum identisch, z.B. die Belagerung eines bestimmten Ortes (Bahnhof, Geschäftsviertel, Grätzel etc.-).
Es ist zu unterscheiden, ob Streifzüge vorbereitet werden (mit Plänen, Beschreibungen, Büchern und Artikel über diverse Räume) oder ob man sich relativ unvorbereitet in den Raum begibt. Beides hat Vor- und Nachteile. Das Moment der positiven wie negativen Überraschung ist bei der weniger vorbereiteten Variante eher gegeben. Was da an Sinnlichkeit gewonnen wird, geht an Vorkenntnis verloren. Es ist wohl jeweils eine adäquate Mischform zu finden, die sich nicht der Beliebigkeit überantwortet, aber auch nicht nach einem sturen Streben sich Aufgaben setzt, die zu bewältigen wären. Es gilt kein Plansoll zu erfüllen.
Gewöhnlich richten sich die Streifzüge im Alltag der Woche (wobei das Wochenende sowieso zusehends verschwindet) ein, es können aber auch auf Ereignisse bezogene Streifzüge stattfinden, die sich an Aufmärschen, Streiks, Konzerten, Fußballmatches, Begräbnissen, Veranstaltungen unterschiedlichster Natur orientieren.
Streifzüge durch Wien können sich gestalten als Achsenzüge (eine Dirittissima etwa von Nordost nach Südwest), als Grätzelzüge (vom Mexikoplatz über Bacherplatz und Europaplatz zum Elterleinplatz), als Geschäftszüge, als Geleisezüge (von der Nordbahn zur Westbahn), als Winkel- oder Würfelzüge (dreimal rechts, zweimal links, vier Gassen geradeaus, einmal rechts, dreimal links, etc.-), als Industriezüge, als Vorstadtzüge, als Kommandozüge (irgendjemand darf auf bestimmte Zeit unwidersprochen die Richtung vorgeben). Und so weiter und so fort. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Der spielerische Variantenreichtum ist äußerst wichtig, ein Grundzug des Streifzugs. Das einfache Sich-treiben-Lassen ist dabei ebenso möglich wie die strikte Vorgabe einer Route. Samt Abweichungen von dieser und jenem.
V.
Streifzüge haben aber nichts Prozessives an sich. Wir treten nicht auf, wir treten ein. Uns soll etwas auffallen, nicht wir wollen auffallen. (Ausnahmsweise ist freilich wieder alles möglich.) Wir vertreiben uns hier weder die Zeit noch den Raum, sondern versuchen in letzteren einzudringen, nicht aber um primär in ihm aufzugehen, sondern um seine Funktionsweise zu erkunden. Auffälligkeiten werden angesprochen, beredet und notiert.
Vor allem sollen die Teilnehmer der Streifzüge ins ungedrängte Reden kommen, eben weil das enge Korsett der Sitzung, die Tagesordnungspunkte und die dort notwendige Disziplin aufgesprengt sind. Es kann passieren, wozu sonst wenig Zeit ist. Diese soll durch die Ausweitung der Tätigkeit im Raum zurückgeholt werden.
Das Irgendwo-hängen-Bleiben ist Wunsch und Ärgernis in einem. Natürlich ist es hanebüchen zu sagen, Zeit spielt keine Rolle. So sollte zumindest das Kontinuum der Zeit nur für den Streifzug an sich (z.B. ein Tag) vorgegeben sein, nicht jedoch die einzelnen Proportionierungen. Hier sollte Dauer vor Zeit, Hängen vor Drängen gehen.
VI.
Streifzüge sind praktische Übungen der Gesellschaftskritik. Sie sollen den Horizont erweitern, indem wir ihn durchschreiten. Der Schreibtisch wird zeitweilig, aber bewusst verlassen, ohne sich aber in die herkömmliche Praxis (Sitzungen, Informationsstände, Diskussionsveranstaltungen, Demonstrationen) zu begeben. It’s a venture. Ein Experiment, das, sollte es im einzelnen auch scheitern, uns zumindest um einige Herumhirschereien reicher gemacht hat.
Transvolution versteht sich jedenfalls nicht als bloß literarische, sondern als eine wirkliche, eine, die die Welt umwälzen will, nicht bloß eine, die einen Beitrag zu ihren Deutungen leistet. „Was strebt, unwirklich zu bleiben, ist das Geschwätz.“ (Debord, S. 305) Nicht nur deswegen, aber auch daher gehen wir auf Walz.
(2004)