von Emmerich Nyikos
„Der Mensch bewegt sich nur, wenn Notwendigkeit ihn aufruft.“ (Alexander v. Humboldt)
Es hat immer wieder Realisten unter den Denkern gegeben, und zweifellos war Alexander von Humboldt einer von ihnen. Denn nichts könnte richtiger sein als der oben zitierte Satz: Nur die Notwendigkeit bewegt das Subjekt, Subjekt zu sein, also zu agieren.
Nun gibt es freilich zwei Arten von Notwendigkeit: die, welche man unmittelbar spürt, und die, welche nur reflexiv, nur durch das Denken einsichtig wird.
Von der ersteren Art ist die Notwendigkeit, die sich aus den bürgerlichen Lebensumständen, aus der Struktur der aktuellen Gesellschaftsordnung ergibt: Will man konsumieren, so muss man seine Arbeitskraft verkaufen, vorausgesetzt, dass man über sonst nichts verfügt. Das dürfte jeder ohne Umschweife einsehen, ist also ein Grund , der bewegt : ein argumentum ad hominem im klassischen Sinne.
Von einer ganz anderen Art ist die Notwendigkeit, die historische Dimensionen besitzt, d.h. sich aus dem Systemverlauf der kapitalistischen Weltgesellschaft herleiten lässt, nämlich dann, wenn diese Gesellschaft sich anschickt, in eine terminale Instabilitätsphase überzugehen: wenn, mit anderen Worten, nicht nur das Mittel – die Akkumulation des Kapitals – von der Warte der Gesellschaft aus im Hinblick auf den anthropologischen Zweck „nicht mehr notwendig ist“, sodass die bürgerliche Ordnung im Hegelschen Sinne unwirklich wird, noch bevor sie zu existieren aufgehört hat – sie ist unsinnig geworden, würde man sagen –, sondern die „normale“ Reproduktion der kapitalistischen Warengesellschaft – das „Wachstum“ in rein quantitativen Kategorien als Korollarium der Tauschwertorientierung – überhaupt die Grundlagen dieser Gesellschaft auf lange Sicht untergräbt: die externe Umwelt, auf der sie notwendigerweise basiert. Es genügt, hier auf den „Global Overshoot Day“ zu verweisen, der jetzt schon in den August fällt.
In allen diesen Fällen handelt es sich um die „weiteren Konsequenzen“ der Praxis, um die schon die bürgerliche Philosophie seit Giambattista Vico wusste, um die Folgen nämlich, die zwar an und für sich in den Handlungen liegen, von den Akteuren aber nicht intendiert sind, und die, weiterhin, unmittelbar „unsichtbar“ bleiben, d.h. nur reflexiv, nur durch das Denken „wahrnehmbar“ sind. Ebendeshalb setzt die Lösung des Problems – das Stoppen des Zugs, der auf den Abgrund zurast, wie Walter Benjamin es formulieren würde, nachdem er, fügen wir hinzu, die Endstation schon erreicht hat – die flächendeckende Überlegung voraus: den prometheischen, nicht den epimetheischen Modus des Denkens auf großer Stufenleiter.
Wohlgemerkt: so wie die Dinge jetzt liegen, das prometheische Denken der Mehrheit . Ist dies aber realistisch? Offenbar nicht. Denn das Hemd ist für die meisten allemal näher als der Rock, und dies umso mehr, als der Winter zwar unvermeidlicherweise kommt, jetzt aber noch ein laues Sommerlüftchen weht. Wenn der Winter dann einmal da ist, dann freilich ist es zu spät.
Das Problem, dem wir gegenüberstehen, ist dies: Nur wenn man sich auf den Standpunkt der Gesellschaft stellt, also über den Dingen die Dinge „von oben“ betrachtet, nicht aus dem persönlichen Loch durch eine schmale Öffnung hinauf, wird man geneigt sein, die adäquaten Schritte zu setzen, die die aktuelle Situation als notwendig erweist: die Herstellung gesellschaftlichen Eigentums und rationale Planung des Produktionsprozesses vom Standpunkt des Gebrauchswerts , dessen also, was für die integrale Gesellschaft – gestern, heute und morgen – als sinnvoll erscheint. Integral in diesem Sinne: „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (K. Marx, Das Kapital III, in: MEW 25, S. 784) Integral aber auch in diesem anderen Sinn: Werden die Potenzen, die im Laufe der Geschichte akkumuliert worden sind – die Produktivität –, nicht adäquat genutzt, so waren die Mühen der vorangegangenen Generationen, der Toten, buchstäblich umsonst.
Wir sollten daher ein ganz anderes Konzept von „Regierung“ propagieren (auch wenn dessen Durchsetzung wahrscheinlich einer veritablen Katastrophe als „Anreiz“ bedarf), das Konzept der volonté générale , die nichts mit der volonté dieses oder jener – und nichts mit ihrer Summe – zu tun hat, ein Konzept, das darin besteht, dass der Gesichtspunkt, der in der öffentlichen Sphäre als allein maßgeblich anerkannt wird, der des übergeordneten Ganzen, der der Geschichte sein muss. Und das heißt im Konkreten: Nur wer bereit ist (und dazu kann allerdings im Prinzip jeder und jede bereit sein), sich auf den Standpunkt der Gesellschaft als eines Prozesses , d.h. der Geschichte, zu stellen – und sich nicht darauf versteift, von der Warte seines persönlichen Vorteils aus dies oder jenes durchzusetzen –, sollte wirklich regieren, d.h. in diesem Falle befugt sein, die Maßnahmen zu determinieren, die historisch notwendig sind, als Konsequenz des argumentum rationale , das die Geschichte diktiert. Oder wie Platon es so schön formuliert hat: Die Könige sollten Philosophen und die Philosophen Könige sein. Denn die Dummheit – die alleinige Feindin der Menschheit – reitet uns direkt in den Abgrund.
Post scriptum: Wenn es eine Pflicht gibt, der wir alle unterliegen, dann sicherlich die, uns nicht wie die Idioten zu verhalten. Überhaupt wäre es besser, wenn die devoirs de l’homme an die Stelle der droits de l’homme treten würden.