von Maria Wölflingseder
Kolumne Dead Men Working
„Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ – Das schreibt Johann Gottfried Seume in den Aufzeichnungen seines „Spaziergangs nach Syrakus im Jahre 1802“. Also lange vor der Erfindung der Eisenbahn und des Autos. Für jene, die Seume noch nie begegnet sind: seinen Spaziergang nach Syrakus startete er in Leipzig.
Jede Zelle braucht Wärme, Licht und Bewegung. Daher ist Gehen eine umfassende Wohltat. Umso schöner in angenehmer, anregender, aufregender oder beruhigender Umgebung. Wie aber steht es, wie aber geht es 211 Jahre nach Seume mit der Bewegung?
Die herrschenden gesellschaftlichen Vorgaben, die Anforderungen und Empfehlungen sind höchst widersprüchlich. Einerseits werden wir seit Jahrzehnten mehr denn je zum (Still-)Sitzen in die Schule, ins Büro, ins Auto, ins Flugzeug, vor den Fernseher, vor den Computer genötigt respektive gelockt. (In vorauseilendem Gehorsam zwingen wir uns bereits selbst dazu.) Und die, die sich bewegen müssen bei der Arbeit, tun dies meist auf ungesunde Weise oder unter großem Zeitdruck.
Andererseits wird neuerdings körperliche Bewegung vollmundig propagiert. In den zuständigen staatlichen Stellen regt sich Missfallen über die Kosten für Gesundheit, für die Spitalserhaltung und die Krankenkassen. (Ja, als Kostenfaktor, als Humanressource wird der Mensch vornehmlich wahrgenommen. Systemlogisch konsequent.) Mehr zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren wird überdies als Heilmittel gegen die Mensch und Natur schädigenden Auswirkungen von 50 bis 60 Jahren automobilen Individualverkehrs und ausgeweiteten Flugverkehrs dringend empfohlen. Jedoch ist der Platz dafür oft miserabel, gefährlich oder gar nicht vorhanden. Und die öffentlichen Verkehrsmittel, die uns angepriesen werden, sind außer in den Städten und auf den Hauptverbindungen von seltener Frequenz und abends und am Wochenende meist gar nicht vorhanden.
Aber leiden die Menschen nur an mangelnder Bewegung oder nicht in erster Linie an den Lebens- und Arbeitsbedingungen in unseren komplett kruden Gesellschaftsverhältnissen? Gehören nicht diese unverzüglich hinterfragt und verändert, anstatt die Menschen notdürftig an die Gegebenheiten anzupassen? Aber offenbar will man uns die Quadratur des Kreises schmackhaft machen. Je härter und stressiger die Bedingungen, desto erfrischter, entspannter und gestählter sollst du jeden Morgen in der Arbeit oder am Arbeitsamt erscheinen. Je krankmachender die Umstände, desto gesünder musst du werden! Schön geschmeidig, flexibel, ultraelastisch.
Zurzeit ist eine regelrechte staatliche Propagandamaschinerie angelaufen, um alle Bürger und Bürgerinnen zu gesundheitsfördernder Bewegung zu animieren. Keine Kosten und Mühen werden gescheut, um möglichst viele Gemeinden für „Bewegungsevents“ zu gewinnen (www.gemeinsambewegen.at) und um uns alle „Fit für Österreich“ zu machen (www.fitfueroesterreich.at).
Um bestimmte Personengruppen, kümmern sich ganze Kohorten von „Gesundheitsreferent/innen“ und „Casemanager/innen“: Allen voran Ältere und Kranke sollen wieder „fit2work“ werden (www.fit2work.at). Aber auch „die Arbeitsfähigkeit und Gesundheit von Ein-Personen-Unternehmen (EPU)“ – vulgo Ich-AGs – wird „frühzeitig, nachhaltig und ressourcenorientiert gefördert“ (www.gesundundarbeitsfaehig.at).
Und mit „Hilfe des Programms ,Fit für die Zukunft – Arbeitsfähigkeit erhalten‘ soll der Erhalt bzw. die Förderung von Arbeitsfähigkeit bei Berufstätigkeiten in besonders beanspruchenden Branchen unterstützt werden“ (www.arbeitundalter.at).
Schließlich steht noch die Fitness der Schulkinder auf der Staatsagenda. Seit dem schlechten Abschneiden unserer Sportler bei den Olympischen Spielen von London 2012 wird von der „Österreichischen Bundessportorganisation“ die tägliche Turnstunde gefordert. Denn „die Österreichische Jugend ist beim Alkohol- und Nikotinkonsum und bei der Fettleibigkeit europaweit in den Medaillenrängen“. Alle Parlamentsabgeordneten haben die Petition unterschrieben (www.turnstunde.at). Auch die Bildungsministerin begrüßt die tägliche Schulstunde, hat allerdings zu wenig finanzielle Mittel dazu.
Welch tolle staatliche Fürsorge! Jetzt fehlt nur noch die Schaffung gesunder Lebensbedingungen! Wozu herz- und kreislaufbedrohender Stress? Wozu beklemmende Existenzängste? Wozu kopf- und bauchmarternder Konkurrenzdruck von Kindesbeinen an? Obendrein kontaminierte Luft, Nahrung und Materialien, sowie Elektrosmog, um deren Auswirkungen sich niemand ernstlich schert. Wozu, zum Teufel, diese ganz und gar unheilsame ständige Selbstoptimierung nach der fragwürdigen Logik des Marktes und das ewige wie eine Verwertungsmaschine Funktionieren-Müssen? – Warum wird all das nicht umgehend behördlich untersagt? – Anstatt dessen werden die Menschen – von der Wiege bis zur Bahre – immer mehr gemaßregelt.
Alte Leute erzählen oft, was in der Kindheit für ihre Entwicklung von großer Bedeutung war. Das Verbringen von Zeit alleine oder mit anderen Kindern, ohne Aufsicht, ohne jegliche Vorgaben außerhalb des Hauses, außerhalb der Wohnung. Egal ob am Land oder in der Stadt, überall gab es genug Orte, genug Räume, in denen sie sich frei bewegen konnten. In denen sie sich und die Welt phantasievoll entdecken konnten. Heute hingegen herrscht die Vermarktung möglichst vieler menschlicher Bedürfnisse – also nicht nur die Wellness-Branche, sondern auch „Outdoor-Pädagogik“ und „Öko-Pädagogik“.
So bietet auch das „Österreichische Institut für Schul- und Sportstättenbau“ „Hilfestellung zur Entwicklung individueller (sic!) Schulfreiräume“: Die Nutzung von Flächen im Freien erfolgt nach den Kriterien „Beteiligung, Nachhaltigkeit und Sicherheit“. Es sollen „Möglichkeiten zur Erholung und zur multifunktionalen Nutzung“ gegeben sein. Zu den Prinzipien gehören: „Barrierefreiheit, Gender Mainstreaming, Kommunikation, Bewegung, Lernort, Natur und Umwelt, Präsentation und Veränderbarkeit“ (www.schulfreiraum.com).
Ob Seume nach all diesen Reglementierungen noch Lust gehabt hätte, nach Syrakus zu spazieren?