von Tomasz Konicz
Deutschlands Managerkaste reißt beim Thema Griechenland langsam der Geduldsfaden. Inzwischen sprechen sich auch Spitzenvertreter der deutschen Kapitalverbände dafür aus, Hellas aus der Eurozone auszuschließen. Dies forderte etwa der Bosch-Chef Franz Fehrenbach gegenüber dem Manager Magazin Mitte Februar. Griechenland sei „marode und in einer Solidargemeinschaft eine untragbare Belastung“, polterte der Kapitalfunktionär in dem Interview. Fehrenbach steht mit seiner Meinung wahrlich nicht allein dar. Einer Umfrage des Manager Magazin zufolge wünschen sich inzwischen 57 Prozent von 300 befragten Funktionsträgern aus dem deutschen Spitzenmanagement, dass Griechenland aus der Eurozone ausscheidet. In Deutschland gewinnen somit Bemühungen Oberhand, Griechenland möglichst günstig zu „entsorgen“, nachdem das Land aufgrund der kollabierenden Wirtschaft nicht mehr als Absatzmarkt deutscher Exporte fungieren kann.
Ein ganzes Land wird hier von der deutschen Managerkaste „abgeschrieben“, zur Desintegration freigegeben, die den sozioökonomischen Zusammenbruch Griechenlands vollenden wird, der durch den von Berlin und Brüssel oktroyierten Sparterror eingeleitet wurde – und wir können uns sicher sein, dass dieser Reflex des Ausschlusses ganzer Volkswirtschaften auch in Bezug auf die anderen südeuropäischen EU-Staaten in der deutschen Öffentlichkeit überhandnehmen wird, sobald der Krisenprozess auch bei diesen Ländern weiter voranschreitet und sie sich am Rande des Zusammenbruchs wiederfinden.
Eigentlich würde bei der Exklusion Griechenlands aus der Eurozone nur eine ökonomische Krisentendenz auch politisch und institutionell exekutiert. Die gegenwärtige Krise ist letztendlich eine Krise kapitalistischer Lohnarbeit, die zwar die Substanz des Kapitals bildet, aber aufgrund der gigantischen Produktivitätsschübe der mikroelektronischen Revolution immer schneller aus der Warenproduktion verschwindet. Dieser nüchtern betrachtet absurde Charakter der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus, der unter einer selbst hervorgebrachten Produktivität erstickt, brachte eine mörderische Verdrängungs- und letztendlich Vernichtungskonkurrenz mit sich, in der sich die hoch entwickelte und produktive deutsche Industrie – auch dank des Lohnkahlschlags hierzulande – durchsetzen konnte. Die deutschen Wirtschafts- und Exporterfolge sind nur aufgrund der Verschuldung und Deindustrialisierung in anderen Ländern Europas möglich gewesen. Tatsächlich sind insbesondere die Länder Südeuropas und auch Großbritannien in den vergangenen Jahren weitgehend deindustrialisiert worden; eine Kapitalverwertung im nennenswerten Maßstab, die die Reproduktion der gesamten Gesellschaft ermöglichte, ist dort kaum noch drin. Dieser Deindustrialisierungsprozess in vielen Ländern Europas und der Welt wurde nur durch die Verschuldungsprozesse – und die damit einhergehenden Defizitkonjunkturen – der vergangenen Jahrzehnte verschleiert.
Nach dem Platzen der Schuldenblasen schlägt nun die Krise voll durch, und die kapitalistischen Arbeitsgesellschaften der südlichen Peripherie der Eurozone zerbrechen an einem Mangel von Lohnarbeit und dem Verschwinden der industriellen Warenproduktion. In Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien liegt die Industrieproduktion immer noch 20 bis 40 Prozent unter dem Vorkrisenstand. Der Wirtschaftseinbruch in Südeuropa wird nicht mehr von einem späteren Aufschwung abgelöst werden. Diese Einbrüche deuten vielmehr auf eine permanente Deindustrialisierung in diesen Ländern hin. In der Peripherie der EU findet somit ein dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Abstieg statt. Es ist, als ob die „Dritte Welt“ sich von Nordafrika über das Mittelmeer bis nach Südeuropa ausbreiten würde. Es findet derzeit ein neuer Schub des Prozesses des „Abschmelzens“ der relativen Wohlstandsinseln der „Ersten Welt“ im globalen Maßstab statt – und Südeuropa ist hiervon besonders stark betroffen.
Drängelei auf der Titanic
Letztendlich verwandelt sich die Peripherie der Eurozone in eine Region, die für das Kapital „verbrannte Erde“ darstellt, bei der kaum noch Akkumulationsprozesse ablaufen. Dies ist aber auch nur die neueste Phase eines langfristigen, dekadenlangen Prozesses. Die Krise frisst sich von der Peripherie ins Zentrum des kapitalistischen Weltsystems durch. In den späten 70er Jahren waren es die Entwicklungsdiktaturen der „Dritten Welt“, die mit ihren Modernisierungsversuchen scheiterten. Diese Regionen – etwa das subsaharische Afrika – spielen in der hiesigen Öffentlichkeit nur noch in puncto Flüchtlingsabwehr eine Rolle. Der ökonomische Zusammenbruch dort ist längst im öffentlichen Diskurs zur – oftmals mit rassistischen Stereotypen angereicherten – „Normalität“ geronnen. Ab den 90ern desintegrierte sich der Staatskapitalismus des Ostblocks, wo etliche Regionen den totalen Absturz mitsamt brutalen Bürgerkriegen erlebten (wie etwa im ehemaligen Jugoslawien), und einige Länder zur Peripherie westlichen Kapitals – hier insbesondere Deutschlands – zugerichtet wurden.
Beim gegenwärtigen Krisenschub greift die Krise auf die Zentren über, und die europäische Krisenpolitik besteht im Grunde darin, diejenigen Staaten mit der vollen Last der Krisenfolgen zu konfrontieren, die von der Krisendynamik voll erfasst wurden. Für diese Politik kann die Allegorie der sinkenden Titanic gewählt werden, bei der die Passagiere der ersten Klasse diejenigen der zweiten und dritten über Bord werfen, um noch etwas Zeit zu gewinnen – bis sie selbst an die Reihe kommen. Es handelt sich hierbei schlicht um das berüchtigte „Rette sich, wer kann“, das vom Zentrum auf Kosten der Peripherie der Eurozone durchgesetzt wird.
Die objektiv aus dem Krisenprozess resultierende Exklusion immer größerer „überflüssiger“ Teile der Menschheit aus der Kapitalverwertung findet ihre ideologische Legitimierung in den entsprechenden rechtsextremen Diskursen, die den Bewohnern der betroffenen Länder eine rassisch oder kulturalistisch grundierte Minderwertigkeit andichten. An Deutschlands Stammtischen will man ja wissen, dass die „Südländer“ schlicht zu anständiger Arbeit unfähig sind und sich deswegen verschuldet hätten, um auf Kosten der hart arbeitenden Deutschen ein Lotterleben zu führen. Die Opfer des Krisenprozesses werden so zu den Verursachern der Krise ideologisiert, indem die Krisenursachen zu Eigenschaften einer bestimmten Personengruppe halluziniert werden.
„Es reicht nicht mehr für alle“
Dieser verheerende ideologische Mechanismus der Personifizierung oder Verdinglichung von Krisenursachen baut nicht nur die „faulen Südländer“ zu Feindbildern auf. Einer soziologischen Studie der Uni Jena (Dörre, Klaus u.a.: Guter Betrieb, schlechte Gesellschaft? Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein im Prozess kapitalistischer Landnahme. In: Koppetsch, Cornelia (Hrsg.): Nachrichten aus den Innenwelten des Kapitalismus. VS Verlag, Wiesbaden 2011, S. 21–50) zufolge, sind ähnliche Haltungen auch innerhalb der abschmelzenden Arbeiterklasse verbreitet. Insbesondere innerhalb der Stammbelegschaften entwickle sich eine Art Wagenburgmentalität: „Die eigenen Chancen auf Beschäftigungssicherheit steigen, wenn man den Club der Festangestellten einigermaßen exklusiv hält.“ Als Feindbilder sind innerhalb dieser Schicht die Arbeitslosen beliebt. Rund 50 Prozent der befragen westdeutschen Facharbeiter stimmten der Aussage zu, „auf Arbeitslose solle größerer Druck ausgeübt“ werden, ein weiteres Drittel stimmte der Intensivierung der Schikanen gegen Erwerbslose „teilweise“ zu. Nahezu die Hälfte der westdeutschen Arbeiter bekannte sich auch zum unverblümten Sozialdarwinismus, indem sie folgende Aussage unterstützten: „Eine Gesellschaft, in der jedermann aufgefangen wird, ist nicht überlebensfähig.“ Es herrsche innerhalb der Belegschaften das Gefühl vor, dass „es nicht mehr für alle reichen“ würde, so die Interpretation der Umfrageergebnisse durch die Autoren der Studie. Generell können also alle, die aus dem Prozess der Kapitalverwertung herausfallen, für die Krise verantwortlich gemacht werden. Wobei die reaktionäre Krisenideologie der Personifizierung von Krisenursachen inzwischen sehr weit verbreitet, nahezu mehrheitsfähig ist.
Doch zugleich scheinen viele Menschen tief in den Eingeweiden zu ahnen, dass dieses Gerede von den „faulen Südländern und Arbeitslosen“ nur zur Legitimierung der Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppen dient. Die Ahnung, dass irgendwas fundamental schief läuft, ist durchaus weit verbreitet – doch daraus folgt keineswegs der Impuls zur Überwindung des bestehenden Systems. Stattdessen werden die Ideologeme des in Auflösung übergehenden kapitalistischen Systems in einer Art Abwehr- und Beißreflex ins Extrem getrieben. Es soll mehr Druck auf Arbeitslose, mehr Druck auf Griechenland ausgeübt werden. Die Exklusion als zentrales Mittel der kapitalistischen Krisenpolitik wird so zementiert.
Dabei wird die massive Zustimmung vor allem in der BRD zu solchen letztendlich sadistischen Terrormaßnahmen gegen die Opfer der Krise in erster Linie nicht durch den ideologisch verblendeten Glauben an die Wirksamkeit solcher Maßnahmen motiviert. Es geht hier eher um einen unbewussten psychischen Mechanismus, der dem deutschen Untertanencharakter eigen ist. Der Ruf nach Bestrafung, nach knallhartem Sparterror gegenüber den südeuropäischen „Schuldenländern“ ist vor allem deshalb so laut vernehmbar, weil die Lohnabhängigen in Deutschland spätestens mit den Hartz-IV-Gesetzen zu Lohnverzicht und umfassender Prekarisierung des Berufslebens genötigt wurden, was ja erfolgreich als ein notwendiges Opfer auf dem Altar des „Wirtschaftsstandorts Deutschland“ legitimiert wurde. Im Zuge dessen ist die Ökonomie zur zentralen Legitimationsinstanz des öffentlichen Diskurses erhoben wurden. Dieser dominante Ökonomismus lässt den Hass auf alle hochkochen, die das unter großen Opfern aufrecht gehaltene Funktionieren der Wirtschaftsmaschinerie scheinbar behindern, was die Studie „Die Mitte in der Krise“ so formulierte: „Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele – präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen – verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.“ (http://library.fes.de/pdf-files/do/07504.pdf)
Es handelt sich hierbei um schlichtes Untertanendenken, bei dem die Wut sich gegen alle Menschen richtet, die sich den Prämissen der gerade Amok laufenden „Ökonomie“ nicht beugen wollen oder können – und etwa in Griechenland Generalstreiks durchführen, anstatt sich duckmäuserisch in Lohnraub und Hartz-IV-Zwangsarbeit zu fügen. Für alle Menschen, die die Prämissen der Ökonomie verinnerlicht haben und deswegen Verzicht üben, muss die Rebellion gegen die wirtschaftlichen „Sachzwänge“ unerträglich scheinen. Es ist der Hass auf das halluzinierte Glück der imaginierten „Leistungs- und Arbeitsverweigerer“, angetrieben durch ungeheuren Triebverzicht, der aus der Unterordnung unter das eiserne und beständig sich verhärtende Regime der kontrahierenden Kapitalverwertung resultiert, der die übriggebliebenen Monaden vor Wut schäumen lässt. Der beständig zunehmende Druck von oben auf die im Dauerstress irregehenden Einzelnen in der Burnout-Republik Deutschland sucht sich beständig neue Hassventile, Sündenböcke und Opfer.
Die deutsche Leistungsgemeinschaft
Das zentrale Transmissionsband, das die herrschende kapitalistische Ideologie ins Extrem treibt und den Prozess der Exklusion legitimiert, bildet der totalitäre Ökonomismus, die „Identifikation mit der Ökonomie“, der längst einen konsensartigen Charakter im öffentlichen Krisendiskurs errungen hat. In der Epoche des Zusammenbruchs der kapitalistischen Ökonomie ist die korrespondierende Ideologie ein letztes Mal bestrebt, die gesamte sich desintegrierende Gesellschaft in ihren eisernen Griff zu pressen. Die gesamte Gesellschaft, die menschliche Geschichte, ja die Existenz als solche wird durch den Wahnblick der betriebswirtschaftlichen Logik wahrgenommen. Die Krise soll dadurch überwunden werden, dass die der Kapitalverwertung entstammende betriebswirtschaftliche Logik der maximalen Effizienz und Kostenreduzierung ins Extrem gesteigert und auf die Gesamtheit der Existenz angewendet wird. Alles und jeder wird auf seine Verwertbarkeit und Nützlichkeit geprüft, überall wird nach „Schmarotzern“ und „Parasiten“, nach Kostenfaktoren Ausschau gehalten, alle haben unter Beweis zu stellen, der Deutschland-AG nicht zur Last zu fallen und eine produktive Funktion im Wirtschaftsstandort Deutschland einzunehmen.
Die Nation wird zusehends als eine „Leistungsgemeinschaft“ wahrgenommen, die gegen „unproduktive“ Elemente und „Kostenfaktoren“ vorgehen müsse: von den renitenten Griechen über faule Arbeitslose bis zu den arabischen Migranten, denen ein Thilo Sarrazin genetisch bedingte Leistungsunfähigkeit andichtete. An der Sarrazin-Debatte, die einem zivilisatorischen Dammbruch in Deutschland gleichkam, lässt sich sehr gut diese zunehmende Dominanz des Ökonomismus auch innerhalb rechtsextremer Ressentiments belegen. Die rassistische Hetze gegen Migranten aus dem arabischen Raum, die Sarrazin entfaltete, diente ja vor allem dazu, diese Gesellschaftsgruppe als einen ökonomisch unproduktiven Kostenfaktor zu brandmarken. Während der Sarrazin-Debatte verschmolzen die rechtsextremen Feindbilder des Ausländers und des Sozialschmarotzers, wie anhand der folgenden Zitate Sarrazins offenbar wird: „In Berlin leben zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, von Hartz-IV und Transfereinkommen. … Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. … Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht.“
An diesen Zitaten wird eine „Rationalisierung“ des Ressentiments deutlich, das die Imperative der Kapitalverwertung zu seiner Maxime hat. Bei dem korrespondierenden Ökonomismus wird also die gesamte Gesellschaft konsequent den kapitalistischen Rentabilitätskriterien unterworfen. Hier wird also tatsächlich das liberal-kapitalistische Rentabilitätsdenken aus der „Mitte“ der Gesellschaft von Sarrazin konkret ins Extrem getrieben. Eine Existenzberechtigung hat nur das, was zur Kapitalverwertung beiträgt. Hier kommt der Begriff des Rechtsextremismus ganz zu sich: Es ist die Ideologie der „Mitte“, die in ihrer mörderischen Konsequenz zu Ende gedacht wird. Der demokratische Lack blättert ab, und der barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung – Konkurrenz und Selektion – kommt offen zum Vorschein.
Im Endeffekt erkennt Sarrazin die „Überflüssigen“ des Kapitalismus nicht mehr als Menschen an – und ihm tuen es Millionen anderer Monaden gleich, die sich in der zerfallenden Tretmühle der Lohnarbeit einem immer stärkeren Druck ausgesetzt sehen. Gerade hierin liegt das implizit mitschwingende massenmörderische Potenzial dieser an Kontur gewinnenden Ideologie. Und selbstverständlich trifft diese Krise der Arbeitsgesellschaft zuerst die Arbeitsmigranten, die ja in die BRD angeworben wurden, um die einfachen Dreckarbeiten zu erledigen, die während des Booms der 50er und 60er Jahre kaum ein Deutscher mehr verrichten wollte. Es sind aber gerade diese einfachen Tätigkeitsfelder, die in den letzten Dekaden von den Rationalisierungsprozessen besonders stark erfasst wurden. Jetzt, da die billigen Arbeitskräfte aus der Türkei nicht mehr gebraucht werden, erklärt ein Sarrazin diese Menschen für genetisch minderwertig und leistungsunwillig – sie sollen verschwinden.
Dieser Amok laufende Ökonomismus kann perspektivisch alle „unproduktiven“ Gesellschaftsgruppen treffen. Was da in vielen Mördergruben in der Mitte der Gesellschaft heranreift, offenbarte beispielsweise ein Skandal um Jan Dittrich, den ehemaligen Bundesvorsitzenden der FDP-Jugendorganisation Junge Liberale, der Rentner aufforderte, endlich „den Löffel abzugeben“. Solche Tendenzen zur Exklusion von Opfern des Krisenprozesses sind vielfach bereits mehrheitsfähig, wie die Umfragen über weitere „Hilfspakete“ für Griechenland unter Beweis stellten, die von der überwiegenden Mehrheit abgelehnt werden. Ob nun auf nationaler Ebene, im Betrieb oder in der Reihenhaussiedlung: Eine Art „Bunkermentalität“ greift um sich, bei der die eigene soziale Stellung dadurch behauptet werden soll, dass die Krisenopfer für die Krise verantwortlich gemacht werden, um vermittels dieser Personifizierung der Krisenursachen die daraus folgenden Maßnahmen der Marginalisierung und Abstrafung zu legitimieren. Die unproduktiven Kostenfaktoren (wie Griechen, Arbeitslose, Alte), deren bloße Existenz die nationale Leistungsgemeinschaft belastet, sollen weg.
Dies ist letztendlich ein absurdes, aus dem Warenfetischismus entspringendes und ins Magische tendierendes Denken, das die Krisenursachen zu Eigenschaften von Menschen halluziniert. Diese irre Krisenideologie reflektiert dabei nur den irren Charakter der Krise. Die Ausgrenzung und Marginalisierung immer größerer Menschengruppen vollzieht sich gerade deshalb, weil das System an seiner Produktivität erstickt, die kaum mehr in das Korsett der Kapitalverwertung gezwungen werden kann. Das Elend breitet sich also gerade deswegen aus, weil die Produktionspotenzen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen immer weiter anwachsen. Die Wahnvorstellung „Es reicht nicht für alle“ kann nur deshalb um sich greifen, weil die absurden fetischisierten Reproduktionsformen des Kapitalismus – bei denen die ganze Gesellschaft nur als eine Voraussetzung der selbstzweckhaften Kapitalreproduktion ihre Daseinsberechtigung hat – nicht mental durchbrochen werden. Das „Es“, dass da nicht mehr für „alle“ reicht, ist der kollabierende Prozess der Kapitalverwertung, die materiellen und technologischen Voraussetzungen eines guten Lebens für alle Erdenbewohner sind aber gegeben – und sie verbessern sich permanent mit dem Fortschritt der Produktivkräfte, der gegenwärtig die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengt.