Stotternder Weltwirtschaftsmotor

Die kapitalistische Systemkrise erreicht nun auch das staatskapitalistische China

von Thomas Konicz

Aus: Telepolis 20.5.2012

Steht China eine weiche oder eine harte Landung bevor? Nach Jahrzehnten eines halsbrecherischen Wirtschaftswachstums mehren sich in der Volksrepublik die Anzeichen für eine ernsthafte konjunkturelle Abkühlung, die allen Spekulationen einen Dämpfer verpassen, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt könne als künftiger globaler Wachstumsmotor fungieren. Derzeit dominieren Prognosen einer „weichen Landung“ der chinesischen Volkswirtschaft, denen zufolge die Verlangsamung der wirtschaftlichen Dynamik langsam und kontrolliert ablaufen werde – und womöglich angesichts einer drohenden konjunkturellen „Überhitzung“ mitsamt ausartender Inflation auch notwendig sei

Dabei scheinen die nach unten revidierten Wachstumsprognosen Chinas die These von dieser „sanften Landung“ der chinesischen Volkswirtschaft zu bestätigen, soll doch die Volksrepublik immer noch eine Wachstumsdynamik erreichen, wie sie in Europa kaum noch vorstellbar ist. So geht der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao noch von einem Wachstum von 7,5 Prozent in diesem Jahr aus. Dies stellt die niedrigste Prognose einer chinesischen Regierung seit rund acht Jahren dar. Im vergangenen Jahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in China noch um 9,2 Prozent, doch sei diese Wirtschaftsdynamik „unausgewogen, unkoordiniert und nicht aufrecht zu erhalten“, mahnte Wen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) korrigierte seine Wachstumsprognosen für das seit Jahren dauerboomende Reich der Mitte ebenfalls von 8,4 auf 8,2 Prozent leicht nach unten, wobei für 2013 wieder ein Anstieg des Wirtschaftswachstums auf 8,6 erwartet wird. Im ersten Quartal dieses Jahres blieb laut vorläufigen Ergebnissen das Wachstum des BIP mit 8,1 Prozent unter den meisten Prognosen, während es im letzten Quartal 2011 noch um 8,9 Prozent zulegte.

Eine Erlahmung des rasanten Wirtschaftswachstums birgt für China vor allem die Gefahr zunehmender sozialer Unruhen, vor denen das Politbüromitglied Zhou Yongkang jüngst öffentlich warnte. Yongkang forderte ein neues „System des sozialen Managements“, das es ermöglichen werde, die „negativen Effekte der Marktwirtschaft“ abzufedern, da im Gefolge der Konjunktureintrübung die Gefahr neuer sozialer Unruhen zunehme.

Nur durch eine mörderisch hohe Wachstumsdynamik können die enormen sozialen Verwerfungen in China überbrückt werden, die Hunderte von Millionen verelendeter Landbewohner und Wanderarbeiter, eine um ihren neu errungenen Lebensstandard besorgte Mittelklasse und die herrschende Staatsoligarchie von politisch gut vernetzten Milliardären hervorgebracht haben. Der halsbrecherische kapitalistische Modernisierungskurs der chinesischen Führung gleicht somit dem Ritt auf den Rücken des Tigers einer entfesselten Wachstumsdynamik – bei deren Erlahmen die Modernisierung an ihren Widersprüchen zu kollabieren droht. China muss somit im Wahnsinnstempo wachsen, da ansonsten politische Instabilität droht.

Diese zunehmenden Widersprüche der brachialen Industrialisierung Chinas dürften auch zu den jüngsten Auseinandersetzungen in der Führungsriege der KP beigetragen haben, bei denen die nationalistischen „Neomaoisten“ unterlagen (China: Parteilinker endgültig abserviert).

Gegenwärtig bemüht sich Peking, den Abschwung mit einer Liberalisierung des Finanzsektors zu bekämpfen, um so die Kreditvergabe an kleinere Unternehmen zu erleichtern. Die aufgrund der trüben Wirtschaftsaussichten erlahmende Kreditvergabe soll – trotz ausartender Inflation – auch durch eine Kürzung der Kreditrücklagen animiert werden, die Banken bei der Vergabe von Krediten zurücklegen müssen.

Historisch einmaliger Rückgang des Binnenkonsums

Dennoch dürften diese Maßnahmen kaum nennenswert zur weiteren Wirtschaftsbelebung beitragen, da die zentralen Ursachen der Konjunkturankurbelung in den wichtigsten Exportmärkten Chinas zu suchen sind – in Europa und in den USA. Der chinesische Dauerboom wurde maßgeblich durch die extreme Exportausrichtung des Landes getragen, das sowohl gegenüber der Eurozone wie auch den USA enorme Handelsüberschüsse erwirtschaftete. Allein in 2009 erwirtschaftete China einen Handelsüberschuss von mehr als 300 Milliarden US-Dollar gegenüber den USA und der Europäischen Union!

Es ist die auf ein Millionenheer von billigen Arbeitskräften zurückgreifende chinesische Exportindustrie, die als maßgeblicher Wirtschaftsmotor Chinas fungiert. Mit den Einnahmen aus dem Export können einerseits die rasant ansteigenden Rohstoffimporte beglichen werden, die inzwischen eine relativ ausgeglichene Handelsbilanz beschert haben. Andrerseits flossen diese Exporteinnahmen auch in die gigantischen Investitionsprogramme, die Peking nach Krisenausbruch im Rahmen von Konjunkturprogrammen auflegte und die als zweite Stütze des chinesischen Dauerbooms wirkten.

Die Folge dieser extremsten Exportorientierung bildet ein historisch einmaliger Niedergang des Konsums in China, der inzwischen bei nur noch 35 Prozent des BIP liegt. Zum Vergleich: In den USA sind es rund zwei Drittel! Somit entstand ein gigantisches ökonomisches Ungleichgewicht, bei dem die Volksrepublik fast elf Prozent des globalen BIP erwirtschaftet, aber nur rund drei Prozent des weltweiten Konsums auf sich vereint.

Chinas Boom kann somit nur aufrechterhalten werden, wenn die Handelsüberschüsse gegenüber der EU und den USA weiter wachsen – und genau dies ist aufgrund der Schuldenkrise in Europa und den USA kaum noch der Fall. So sanken in den ersten beiden Monaten dieses Jahres die chinesischen Exporte in die Eurozone um 1,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, während die Volksrepublik im Februar sogar ein enormes Handelsdefizit von 31,48 Milliarden US-Dollar verzeichnete. Ingesamt sind die Exporte im ersten Quartal mit einem Plus von 7,6 Prozent weit unter dem angestrebten Wachstum von 10 Prozent geblieben.

Diese Verlangsamung des Exportwachstums ließ auch die Gewinne der großen staatlichen Exportkonzerne im ersten Quartal um 13,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum einbrechen. Zudem bahnt sich weiteres Ungemach auf dem überhitzten chinesischen Immobilienmarkt an, auf dem nach jahrelanger Preisrallye ernste Korrekturen anstehen, die zu einer ausgewachsenen Immobilienkrise führen könnten. Die Häuserpreise in den 70 größten Städten der Volksrepublik befinden sich seit Oktober im Sinkflug, sodass im vergangenen März das Preisniveau erstmals auch im Jahresvergleich gesunken ist.

Schließlich sanken auch die ausländischen Direktinvestitionen im Reich der Mitte im vergangenen April im sechsten Monat in Folge, was ebenfalls auf die Eurokrise zurückzuführen ist, da allein die Direktinvestitionen aus der Europäischen Union von Januar bis April um 27,9 Prozent eingebrochen sind.

China kann die Exportabhängigkeit nicht zugunsten des Binnenmarkts abbauen

Die extreme Ausrichtung Chinas auf den Export und der unterentwickelte Binnenmarkt werden schon seit Langem von der chinesischen Führung thematisiert, die in unzähligen Erklärungen und Verlautbarungen versprach, diese Ungleichgewichte zu verringern, den Binnenkonsum mitsamt dem sozialen Netz zu stärken und die verhängnisvolle Abhängigkeit vom Exportsektor zu verringern. Geschehen ist bislang nichts. Die bittere Wahrheit, die sich Chinas Staatskapitalisten nicht eingestehen wollen, liegt aber angesichts des Krisenverlaufs auf der Hand: China kann diese Exportabhängigkeit von Europa und den USA – den Zentren des kapitalistischen Weltsystems – schlicht nicht abbauen. Das Land ist trotz aller „Modernisierungserfolge“ nicht in der Lage, einen selbsttragenden, auf dem Binnenmarkt beruhenden Aufschwung zu initiieren und so als neuer Weltwirtschaftsmotor zu fungieren.

Um einen in Relation zu den Exporten nennenswerten Binnenmarkt in China zu etablieren, müsste das Lohnniveau in der Wirtschaft massiv erhöht werden, sodass die chinesischen Arbeiter zu den Kunden ihrer eigenen Produkte würden, wie es etwa während des Booms der 50er und 60er Jahre in Europa und den USA der Fall war. Doch genau dies ist aufgrund des global in der Warenproduktion erreichten enormen Produktivitätsniveaus – das übrigens für die gegenwärtige Systemkrise ursächlich ist – nicht möglich, da Chinas Arbeiterschaft nur bei Hungerlöhnen konkurrenzfähig bleibt.

Die Lohnabhängigen in der Volksrepublik befinden sich in einem Konkurrenzverhältnis mit den modernsten Errungenschaften der Produktionsautomatisierung, das sie nur bei elendiger Entlohnung bestehen können. Sobald das Lohnniveau in der chinesischen Industrie übermäßig ansteigt, greifen dann automatisch Tendenzen zur Rationalisierung der Produktion. Die Arbeiter werden dann durch Industrieroboter ersetzt, wie das Beispiel des chinesischen Auftragsfertigers Foxconn illustriert, der bis 2014 rund eine Million Roboter in seinen Fabriken einsetzen will, um so steigenden Lohnkosten sowie schlechter Presse aufgrund unmenschlicher Arbeitsbedingungen zu entkommen. Eine weitere Option besteht darin, die Fabriken in andere Regionen zu verlagern, in denen ein noch niedrigeres Lohnniveau als in China herrscht.

In beiden Fällen würde dies zum raschen Anwachsen der Arbeitslosigkeit führen. Im Rahmen der hyperproduktiven kapitalistischen Wirtschaftsweise kann China nur zwischen verelendeter, für den Export produzierender Arbeiterschaft wählen – und einem Heer von verelendeten Arbeitslosen. Aufgrund des durch den Weltmarkt global durchgesetzten Produktivitätsniveaus ist somit eine Erhöhung der Löhne für die Masse der chinesischen Arbeiterschaft auf ein ausreichendes Niveau, um eine durch den Binnenkonsum getriebene Wirtschaftsstruktur zu etablieren, schlicht nicht möglich.

Wie halten aber Europa und die USA ihre durch den Binnenkonsum getriebene Wirtschaftsstruktur aufrecht, der ja im Fall der Vereinigen Staaten fast zweit Drittel des BIP umfasst? Die Antwort ist evident: Durch die Schuldenberge, unter denen beide Währungsräume gerade zusammenzubrechen drohen. Sobald dieser transatlantische Schuldenturmbau zusammenbricht, wird auch das chinesische Wirtschaftswunder ein jähes Ende finden.

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