Ein Überblick über die krisenbedingten globalen Abhängigkeiten und Ungleichgewichte.
Krise des Kapitalismus – Teil 7
von Tomasz Konicz
Die Eurokrise scheint die chinesische „Werkstatt der Welt“ immer stärker in Mitleidenschaft zu ziehen. Auch im August 2012 blieb der chinesische Einkaufsmanagerindex mit 47,8 Zählern unter der Wachstumsschwelle von 50 Punkten. Die Absenkung dieses Frühindikators, der konjunkturelle Entwicklungen relativ zuverlässig vorwegnimmt, setzt sich somit seit acht Monaten fort – wobei seit Mitte 2012 die Werte unter die entscheidende Schwelle von 50 Punkten gefallen sind.
Die Ursachen für diese zunehmende konjunkturelle Eintrübung sind in der rückläufigen Nachfrage im schuldengeplagten Europa zu suchen, das den wichtigsten Absatzmarkt der chinesischen Exportindustrie darstellt. Der Teilindex für Neuaufträge der chinesischen Industrie aus Europa sank auf 44,7 Zähler, was auf einen fortgesetzten deutlichen Nachfrageeinbruch hindeutet. So sank der bilaterale Warenumsatz zwischen China und der EU allein im Juli um 8,9 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, wobei hierbei insbesondere die chinesischen Exporte dramatisch um 17 Prozent einbrachen. Dieser Exportrückgang führte inzwischen zu einer sehr schwachen Auslastung der chinesischen Industrie, deren Fabriken nur noch 60 Prozent ihrer Fertigungskapazitäten nutzen – vor Beginn der Krise waren es 80 bis 90 Prozent.
Längst werden deswegen die Wachstumsprognosen für China nach unten korrigiert. Zuletzt setzte die Weltbank ihre Wachstumsprognose für 2012 von 8,4 auf 8,2 Prozent herab. Dies wäre der geringste Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) seit drei Jahren. Die chinesische Führung geht sogar nur von 7,5 Prozent Wachstum in diesem Jahr aus. Jüngste Daten scheinen diese Prognose zu bestätigen, da Chinas BIP im zweiten Quartal um 7,6 Prozent zulegte.
Für das in Stagnation befindliche Europa scheinen diese Werte traumhaft. Doch für China, das jahrelang zweistellige Wachstumsraten aufwies, stellt ein Wachstum von sechs bis acht Prozent die sozioökonomische Untergrenze dar, deren Einhaltung notwendig ist, damit die Widersprüche der kapitalistischen Modernisierung des Landes nicht zu großflächigen sozialen Unruhen führen. Um die für China so wichtige Exportindustrie zu stützen, die ein Millionenheer von Arbeitern beschäftigt, kündigte Ministerpräsident Wen Jiabao Ende August weitreichende Maßnahmen zur Stützung des chinesischen Exportwachstums an, das im Juli nur noch um ein Prozent zulegte.
Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.
Kurt Tucholsky
China ist nicht das einzige exportabhängige Land, das unter der Eurokrise leidet. Die Ausfuhren Japans gingen im Juli im Jahresvergleich um 8,1 Prozent zurück. Auch hier ist dieser deutliche Rückgang maßgeblich auf den Einbruch der Exporte in die Eurozone zurückzuführen, die um mehr als 25 Prozent zurückgingen. „Das Abwärtstempo ist erschreckend. Die Lage erinnert an die Zeit nach der Lehman-Pleite“, zitierte das Handelsblatt die Einschätzung des Ökonomen Masayuki Kichikawa von der Bank of America. Ähnlich dramatische Entwicklungen sind im südkoreanischen Exportsektor zu beobachten, dessen Ausfuhren im Juli um 8,8 Prozent zurückgingen – dies war der größte Einbruch seit drei Jahren.
Währungsverfall und Kapitalflucht in allen Schwellenländern außer China
Nicht nur das jahrelang im Dauerboom verfangene China, auch andere, einstmals als Konjunkturlokomotiven der Weltwirtschaft gefeierte Schwellenländer sind inzwischen vom Eurovirus befallen. Der russische Analyst Sergej Karychalin beschrieb gegenüber der Zeitung „Nowyje Iswestija“, wieso diese als Hoffnungsträger gehandelten Volkswirtschaften von dem einsetzenden globalen Abschwung getroffen werden. Der russische Rubel und auch der brasilianische Real seien „Rohstoffwährungen“, die schnell abwerteten, da fallende Rohstoffpreise eine massive Kapitalflucht aus diesen Währungsräumen in „sichere Häfen“ wie die USA auslösen würden. Von einem massiven Währungsverfall und Kapitalflucht sind inzwischen – mit Ausnahme Chinas, das strenge Währungskontrollen aufrechterhält – alle als BRIC (Brasilien, Russland, Indien, China) bezeichneten, führenden Schwellenländer betroffen. Noch vor kurzem schien „die Zukunft der globalen Wirtschaft von der dynamischen Entwicklung der BRIC-Länder“ anzuhängen, schrieb die russische Nachrichtenagentur RIA-Novosti, doch mit dem Einsetzen einer „zweiten Krisenwelle hat sich die Situation grundlegend verändert“.
Die stärksten Bremsspuren verzeichnet inzwischen die brasilianische Volkswirtschaft. Man habe die Auswirkungen der Eurokrise auf Brasilien „unterschätzt“, erklärte der Ökonom Carlos Langoni gegenüber dem Wall Street Journal Ende Juni. Die zunehmende „internationale Unsicherheit“ habe zu einem Rückgang der Investitionstätigkeit geführ. Das Wirtschaftswachstum Brasiliens erreichte im selben Zeitraum 0,2 Prozent, wobei die Prognosen für das Jahr 2012 inzwischen massiv von 3,5 Prozent auf nur noch 2,18 Zähler korrigiert wurden. Eine Reihe von Konjunkturmaßnahmen der brasilianischen Regierung – wie Steuererleichterungen und Investitionsprogramme – könnten laut Langoni einen begrenzten positiven Effekt auf die Wirtschaftsentwicklung in der zweiten Jahreshälfte haben, doch hätten sich die globalen Rahmenbedingungen gegenüber der Wirtschaftskrise in 2009 verschlechtert. Damals hätten „China und Indien mit ihrem starken Wachstum ein Gegengewicht zur Krise in den entwickelten Ökonomien dargestellt, nun spüren wir die Effekte der Abkühlung in China“.
Auch in Indien mehren sich die Zeichen einer Ansteckung mit dem europäischen Krisenvirus. So wuchs die indische Wirtschaft im ersten Quartal nur noch um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, was den niedrigsten Wert seit nahezu neun Jahren darstellt. Auf den G20-Gipfeltreffen forderte der Ministerpräsident Manmohan Singh die Europäer auf, Konjunkturprogramme aufzulegen, um so die rasch zunehmenden negativen Auswirkungen der Eurokrise auf Indien zu minimieren, die sich nicht nur auf den Konjunkturverlauf begrenzen. Die rasch verebbende Investitionstätigkeit in Indien lässt auch die Rupie auf Talfahrt gehen, die gegenüber dem Dollar seit Jahresanfang um rund sieben Prozent nachgab. Dies ist der größte Wertverlust unter allen asiatischen Währungen. Aufgrund der im Vergleich zu anderen BRIC-Staaten relativ hohen Staatsverschuldung von 68 Prozent des BIP droht Neu Delhi zudem die Abwertung der Bonität auf das Ramsch-Niveau.
Die Eurokrise strahlt in zweierlei Weise auf die Weltwirtschaft aus. Am offensichtlichsten sind die Effekte einbrechender Nachfrage im Euroraum, der einen der größten Absatzmärkte der Welt darstellt. Mit rund 18 Prozent der Weltwirtschaftsleistung stellt der europäische Währungsraum die nach den USA zweitwichtigste Wirtschaftsregion dar. Für China ist Europa – wie schon bemerkt – inzwischen der wichtigste Exportmarkt. Auch für die Vereinigten Staaten bildet Europa einen wichtigen Markt; die USA exportieren nur nach Kanada mehr als in die Eurozone. Die amerikanischen Ausfuhren nach Europa sanken schon im April um 4,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
Somit leiden sowohl rohstoffexportierende Entwicklung- und Schwellenländer, wie auch die exportorientierten Industrieländer Südostasiens unter den Nachfrageeinbrüchen in Europa. Ausgelöst wird dieser europäische Nachfrageeinbruch durch die Sparpolitik, mit der die europäische Schuldenkrise eingedämmt werden sollte – und die auf Drängen Berlins in Gestalt des „Fiskalpaktes“ in der Eurozone institutionalisiert wurde (Europa als Krisenzentrum). Die Krise des europäischen Finanzsektors lässt zudem Befürchtungen nach einer „Kreditklemme“ aufkommen, wie sie im Gefolge der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers 2008 einsetzte. Hiervon wäre vor allem Osteuropa betroffen, da dort westeuropäische Banken eine dominante Stellung innehaben. Aber auch in Lateinamerika, wo rund 60 Prozent der ausländischen Kredite von europäischen Banken stammen, drohen bei einer Eskalation der Eurokrise ernsthafte Verwerfungen.
Der Versuch der Europäer, ihren Schuldenberg vermittels rigoroser Sparpolitik abzutragen, führt die Weltwirtschaft an den Rand einer handfesten Weltwirtschaftskrise
Die Weltwirtschaft sei nun mal verflochten, könnte unter Rückgriff auf das berühmte Zitat Tucholskys zur Erläuterung dieser globalen „Ansteckungseffekte“ der Eurokrise konstatiert werden. Der Einbruch in der europäischen Nachfrage lasse die Exporte nach Europa in Südostasien, den Schwellenländern und den USA einbrechen, was wiederum auch auf den europäischen Exportsektor zurückstrahlt, der sich ebenfalls mit einer sinkenden Nachfrage jenseits der Eurozone konfrontiert sieht.
Entscheidend aber ist, wie die Nachfrage in Europa generiert wurde, die nun aufgrund der europäischen Sparpolitik wegbricht und zu den weltweit sinkenden Exporten in die Eurozone führt. Offensichtlich geschah dies durch Defizitbildung, also durch Verschuldungsprozesse, die gekappt worden sind und nun zu der europäischen wie globalen Konjunkturabkühlung führen. Der Versuch der Europäer, ihren Schuldenberg vermittels rigoroser Sparpolitik abzutragen, lässt somit nicht nur Europa in die Rezession schlittern, er führt auch die „verflochtene“ Weltwirtschaft an den Rand einer handfesten Weltwirtschaftskrise.
Die in der hiesigen Presse permanent beklagten Verschuldungsprozesse bildeten somit das wichtigste Schmiermittel der Wirtschaftsmaschinerie des kapitalistischen Weltsystems, die ohne diese Defizitbildung sofort zu stottern beginnt und in Rezession übergeht. Ein empirisch verifizierbares Paradebeispiel für diese Abhängigkeit des Kapitalismus von schuldengenerierter Nachfrage stellt die Reaktion der Wirtschaftspolitik auf den Ausbruch der Finanzkrise 2008 dar, als die wichtigsten kapitalistischen Staaten und Währungsräume gigantische schuldengenerierte Konjunkturprogramme in Umfang von nahezu fünf Prozent des Welt-BIP auflegten, um den einsetzenden Konjunktureinbruch abzufangen. Letztendlich haben die Staaten nach dem Platzen der Spekulationsblasen auf den Immobilienmärkten Amerikas und Europas die permanenten Verschuldungsprozesse „verstaatlicht“ (Hurra, der (Pseudo-) Aufschwung ist da!), die zuvor vermittels der Finanzmärkte generiert wurden – und so im Rahmen des spekulationsbefeuerten Baubooms die Wirtschaft ankurbelten (eine kurze Erläuterung der Ursachen dieser Abhängigkeit des Spätkapitalismus von schuldengenerierter Nachfrage findet sich unter: Die Krise kurz erklärt oder Wer ist schuld am Krisenausbruch?).
Die Leistungsbilanzüberschüsse einer Volkswirtschaft entsprechen den Defiziten anderer Volkswirtschaften
Diese Politik war eine kurze Zeit lang erfolgreich, bis die Wirkungen dieser schuldengenerierten Konjunkturspritzen nachließen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass auch die exportorientierten Volkswirtschaften, die keine exzessiven Defizite auftürmten, von diesen Verschuldungsprozessen abhängig sind – hier muss an erster Stelle die Bundesrepublik genannt werden. Da die Schuldenmacherei das wichtigste Schmiermittel bei der zunehmenden „Verflechtung“ der Weltwirtschaft bildete (die neumodischerweise in hippen Krisen als „Globalisierung“ bezeichnet wird) und sich nicht alle Staaten gleichmäßig stark verschuldeten, bildeten sich folglich die berühmten globalen „Ungleichgewichte“ in den Leistungsbilanzen.
Diese Leistungsbilanz- oder Handelsungleichgewichte bilden somit eine direkte Folge der besagten Verschuldungsprozesse. An der unterschiedlichen Intensität dieser Überschüsse in der Leistungsbilanz lässt sich auch die Intensität der Abhängigkeit der exportorientierten Länder von der Defizitbildung ablesen. Dies ist elementare Mathematik: Die Leistungsbilanzüberschüsse einer Volkswirtschaft entsprechen nun mal den Defiziten anderer Volkswirtschaften.
Angesichts der hiesigen einseitigen Exportorientierung dürfte es nicht sonderlich verwundern, dass Deutschland etwa im vergangenen Jahr den höchsten Leistungsbilanzüberschuss aller wichtigen Industrieländer verzeichnet hat, der sich auf 5,7 Prozent des deutschen BIP summierte. Selbst China (2,8 Prozent des BIP) und Japan (2,0 Prozent) haben weitaus niedrigere Überschüsse erzielt. Nochmals: dieser Überschuss von 5,7 Prozent des deutschen BIP entspricht Defiziten (also einer Schuldenaufnahme) in der gleichen Höhe außerhalb Deutschlands. Wer weist die korrespondierenden Defizite auf? Das sind vor allem die Vereinigten Staaten, die in 2011 ein Defizit von 3,1 Prozent ihres gigantischen BIP auftürmten. Diese Defizitbildung in den USA wird auch bis Ende 2012 die Weltwirtschaft vor einem stärkeren Einbruch abhalten, da Washington im Wahlkampf alle Hebel in Bewegung setzten wird, um vermittels Konjunkturpaketen und Gelddruckerei zumindest die Fassade einer einigermaßen funktionsfähigen Wirtschaft aufrechtzuerhalten.
Die Leistungsbilanz- und Handelsdefizite der europäischen Krisenstaaten, die bis zum Ausbruch der Eurokrise mitunter mehr als 10 Prozent des BIP umfassen, sind hingegen teilweise deutlich gesunken, was vor allem ein Ausdruck des rigorosen Sparkurses und des Lohnkahlschlags in diesen Ländern ist – was wiederum ihren Binnenmarkt schrumpfen lässt. Dieser Einbruch der Nachfrage stellt aber auch für Deutschland ein Problem dar, dessen Exportindustrie vor allem in der Eurozone ihre Überschüsse absetzte. Vor Krisenausbruch gingen zwar „nur“ 40 Prozent der deutschen Ausfuhren in die Eurozone, aber hierbei wurden 60 Prozent aller deutschen Handelsüberschüsse erzielt. Die Krise der Eurozone hat zwar die deutschen Absatzmärkte in Europa beschädigt, aber zugleich die Möglichkeiten für neue Exportoffensiven jenseits der Eurozone verbessert. Der deutsche Staat profitiert seit Krisenausbruch nicht nur von dem niedrigen Zinsniveau seiner Anleihen, deutsche Unternehmen ziehen zudem aus dem krisenbedingt sehr niedrigen Euro-Kurs ihren Vorteil, der die Exporte aus der Bundesrepublik in Länder jenseits der Euro-Zone konkurrenzlos günstig macht.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die jüngste geografische Verschiebung des deutschen Exportwachstums. Wegen der Stagnation in Europa konnte Deutschlands Exportindustrie vor allem im außereuropäischen Ausland enorme Zugewinne verzeichnen. In der gesamten EU gingen Deutschlands Ausfuhren im Juni 2012 um 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurück, was maßgeblich auf den Exporteinbruch in den 17 Euro-Staaten zurückzuführen ist, der bei drei Prozent lag. In die übrige EU konnte die Bundesrepublik ihre Exporte hingegen um 4,5 Prozent steigern. Ein enormes Wachstum von elf Prozent konnte Deutschlands Exportindustrie hingegen bei den Ausfuhren in Drittländer erreichen. Im Juni übertrafen sie laut dem Statistischen Bundesamt mit 41,1 Milliarden Euro sogar die Exporte in die Euro-Zone, die sich auf 35 Milliarden Euro summierten.
Der deutschen Exportindustrie ist es somit gelungen, die Absatzeinbußen in der Euro-Zone zumindest partiell durch eine Handelsoffensive außerhalb Europas zu kompensieren. Dabei konnten vor allem die Exporte von Investitionsgütern nach China zulegen, das im vergangenen März sogar ein Handelsdefizit mit der Bundesrepublik verzeichnete. Deutsche Konzerne fungieren somit im wachsenden Maße als Ausrüster der chinesischen „Werkstatt der Welt“. Für die deutschen Maschinenbauer und die Autobranche – die eine umfangreiche Investitionstätigkeit in China entfaltet – stellt die Volksrepublik bereits den wichtigsten Exportmarkt dar.
Trotz dieser deutschen Exportoffensiven in Fernost wird die Eurokrise die Bundesrepublik bald über den Umweg Chinas voll erreichen, da die Volksrepublik bereits – wie eingangs dargestellt – unter der Eurokrise leidet. Die Weltwirtschaft ist nun mal verflochten.