In Ungarn betreibt das autoritäre Regime die Ausgrenzung der Unproduktiven
von G. M. Tamás
Eine Stimmung der Angst und des allgemeinen Pessimismus liegt über Ungarn. Das ist nicht nur der ökonomischen Krise und der Politik der Regierung von Viktor Orbán geschuldet. Diese Politik zeugt vom Scheitern der demokratischen Republik und deren marktradikalen Zielen und dem Versprechen, eine gesellschaftliche Ordnung hervorzubringen, die den alten realsozialistischen Verhältnissen deutlich überlegen sei.
Wenn die Menschen in Ungarn das Gefühl hätten, dass sie – im Vergleich zu früher – auch nur ein bisschen freier und sicherer leben oder dass sie zumindest an einem politischen Abenteuer teilhaben und nun persönliche Opfer für eine noble, lohnende und mutige Sache bringen: dann hätten sie alle Entbehrungen geduldig ausgehalten. Aber genau dieses Gefühl können sie nicht haben.
Im Gegenteil: Die Ungarn haben zunehmend den Eindruck, dass das alte Regime, das bis 1989 geherrscht hat – trotz aller Repression und Freiheitsbeschränkungen -, mehr soziale Sicherheit geboten hat, eine bessere Gesundheitsvorsorge und -versorgung, Vollbeschäftigung, billige oder kostenlose Freizeitmöglichkeiten und ein großes kulturelles Angebot, das für alle da und bezahlbar war. Die Kriminalitätsrate war niedriger, und der Lebensstandard nahm spürbar und stetig zu (bei einem allerdings begrenzten Angebot an Konsumwaren). Dieses System hatte jedoch einen hohen Preis: Seine Kehrseite waren Heuchelei, Zensur und erzwungene Konformität.
Trotz des Etiketts „sozialistisch“ oder „kommunistisch“, auf das es sich wegen seiner historischen Wurzeln berief, war es in Wahrheit sowohl in moralischer als auch in kultureller Hinsicht zutiefst konservativ. Dieser autoritäre Wohlfahrtsstaat hatte aber immerhin der ehemals rückständigen, agrarisch geprägten Gesellschaft erstmals „moderne“ zivilisatorische Errungenschaften beschert. Das reichte von Wasseranschlüssen für private Haushalte über die allgemeine Schulpflicht bis hin zur Befreiung aus traditionellen Knechtschaftsverhältnissen.
Es wird gern vergessen, wie weit die Unterwerfung und erzwungene Servilität gegenüber der städtischen und ländlichen Aristokratie ging, gegenüber einem ständisch-autoritären Staat mit seinen einschüchternden Gendarmen, Bürokraten und Offizieren. Handküsse und tiefe Bücklinge, die Rituale der Kastengesellschaft verschwanden im Orkus der Geschichte. Im realen Sozialismus wurde der mystische Nationalismus und die Religion durch eine neue Legitimationsideologie abgelöst, die auf Naturwissenschaften und Technologie setzte und sich auf eine positivistische Philosophie berief.
Die im Westen gängige Ansicht, das Fehlen (bürgerlich-)demokratischer Traditionen in Osteuropa sei gleichbedeutend mit einem Hang zur Autoritätsgläubigkeit, ist barer Unsinn. Die verbreitete Verachtung für den Liberalismus – sowohl in seiner Form als repräsentative Regierungsform wie als anti-egalitäres Marktsystem – bedeutet keineswegs, dass man deshalb besonders gesetzestreu wäre oder traditionelle Moralstandards hochhielte im Hinblick auf Sexualität, Erziehung, Umgangsformen und so weiter.
In den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas gibt es durchaus ein rebellisches Potenzial, das allerdings durch die sozialen Verwüstungen beim Übergang in ein radikales Marktregime zersetzt wurde. In Ungarn zum Beispiel ging nach 1989 binnen zwei Jahren die Hälfte aller Arbeitsplätze verloren. Gleichzeitig schwand in den 1990er Jahren der Wohlfahrtsstaat – als ein entschieden egalitäres System – ebenso dahin wie der Einfluss von Gewerkschaften und Parteien, die für ein Gleichgewicht zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ gesorgt hatten. Mit der Liberalisierung des internationalen Handels und der Entwicklung der neuen Technologien gingen sowohl die Reallöhne als auch die Beschäftigung ständig und manchmal rapide zurück.
In Ungarn fielen in dieser Phase viele Leute aus dem System heraus, die sich zuvor auf ihren Arbeitsplatz hatten verlassen können – und auf einen Wohlfahrtsstaat mit unbegrenztem Zugang zum Bildungswesen und zu Gesundheitsleistungen. Der Staat musste seine Ausgaben ausgerechnet in einer Zeit einschränken, da ihn viele Menschen nötig hatten. Das waren vor allem solche, die kein für ein würdiges Leben ausreichendes Einkommen mehr erzielen konnten: Arbeitslose, Migranten, Alte und Kinder.
Ein Wirbelsturm neuer Gesetze
Insbesondere Arbeitslose gelten inzwischen zunehmend als minderwertig. Sozialhilfeempfänger ist ein Schimpfwort, staatliche Transferzahlungen zu erhalten gilt als typisch für faule Migranten, ledige Mütter, Behinderte, Beamte, Studenten, Künstler, Intellektuelle … wen auch immer. Der mörderische Kampf vieler Gruppen um schwindende öffentliche Ressourcen hat dazu geführt, dass über die Verteilung in Begriffen wie „moralische Vorzüge“, „biologische Tauglichkeit“ und „intellektuelle Überlegenheit“ diskutiert wird.
Wer in diesem System bestehen will, muss jung, belastbar und flexibel sein. Wer nicht mithalten will oder kann, bekommt es alsbald mit staatlichem Zwang zu tun, oder gar mit Polizeimethoden. Währenddessen werden Gegner der freien Marktwirtschaft als Utopisten oder Anhänger totalitärer Systeme denunziert, die „unsere hart erkämpfte Freiheit“ bedrohen.
Genau hier kommt die neue rechte Mehrheit ins Bild, die im ungarischen Parlament über zwei Drittel der Sitze verfügt und damit über die Macht, die Verfassung zu ändern oder gleich neu zu schreiben. Ministerpräsident Orbán war, bevor er an die Macht kam, ein unverdrossener, rastloser und wirkungsvoller Kritiker der Vorgängerregierung, der unpopulären, unfähigen und korrupten Koalition aus Sozialisten und Liberalen. Als Oppositionspolitiker hatte er das von den Gewerkschaften gegen die Einführung von Gesundheits- und Studiengebühren initiierte Referendum unterstützt. Das Referendum war erfolgreich, aber die Regierung Orbán hat inzwischen beide Gebühren dennoch eingeführt, ohne dass die Bevölkerung auch nur einen Mucks gemacht hätte. Im Wahlkampf hat er nicht einen einzigen seiner politischen Pläne offengelegt. Das heißt: Die meisten der folgenschweren Maßnahmen, die er dann als Regierungschef durchsetzte, hatte er zuvor bewusst geheim gehalten.
Das abenteuerliche Tempo, das die ungarische Legislative nun vorlegt, macht es ungeheuer schwierig, bei den jeweils neuesten Gesetzen auf dem Laufenden zu bleiben. Am 23. Dezember 2011, einen Tag bevor das Parlament in die Weihnachtsferien ging, verabschiedete die Regierungsmehrheit ein Gesetz, das 219 Gesetzesänderungen enthielt (wie sich später herausstellte, waren es tatsächlich 307). Diese wurden am 30. Dezember im amtlichen Gesetzblatt publiziert und traten am 31. Dezember 2011 beziehungsweise am 1. Januar 2012 in Kraft, damit sie zu geltendem Recht wurden, bevor die neue Verfassung in Kraft trat. Denn die entzieht dem Verfassungsgericht einige seiner früheren Befugnisse und gewährleistet so, dass die vor 2012 verabschiedeten Gesetzesänderungen nicht verfassungsrechtlich überprüft werden können.
Dieser Gesetzgebungstaifun hat ein simples Ziel: Die Macht der herrschenden Partei soll verewigt werden. Zu diesem Zweck werden hohe staatliche Posten nun für neun bis zwölf Jahre vergeben. Die meisten kommunalen Parlamente – obwohl heute bereits 93 Prozent von ihnen von den Rechten beherrscht sind – werden entweder durch eine Regierungsbehörde ersetzt oder sie bekommen einen Großteil ihrer Kompetenzen entzogen. Einige öffentliche Körperschaften werden nicht mehr wie bisher per Wahl, sondern durch Ernennung besetzt, damit sie durch die Regierung (und mit ihr verbündete Unternehmen) kontrollierbar sind. Auch Gerichte, Staatsanwaltschaften, staatliche Rechnungshöfe, Medienräte, Universitäten, kulturelle und alle möglichen anderen Institutionen werden mithilfe diverser Tricks mit Leuten bestückt, die die Regierung auf unbestimmte Zeit ernennt.
Aus der Verfassung getilgt wurde der Artikel, der „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ garantiert. Dagegen ist durch mehrere Maßnahmen sichergestellt, das bestimmte Gesetze nicht geändert werden können – wie das Gesetz, das eine Flatrate von 16 Prozent bei der Kapitalertragssteuer festschreibt. Im Übrigen wird durch ein neues Wahlrecht abgesichert, dass der Regierungspartei mit lediglich 25 Prozent Stimmenanteil zwei Drittel der Parlamentssitze zufallen.
Die Europäische Union – wie auch die liberale Presse im Westen – protestiert zwar heftig dagegen, dass die neue Verfassung auch die Autonomie der Zentralbank einschränkt. Die Einwände des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) gegen die harte neue Arbeitsgesetzgebung werden nur selten erwähnt, desgleichen die Tatsache, dass kommunistische Parteien und ihre Nachfolgeorganisationen – das bedeutet vor allem die heutigen Sozialisten als wichtigste Oppositionspartei – nach der neuen Verfassung als „kriminelle Organisationen“ definiert werden. Dazu passt, dass Regierungschef Orbán seinen persönlichen Leibwächter an die Spitze der überaus mächtigen Geheimdienstzentrale berufen hat.
Das Erziehungswesen soll vollständig umgekrempelt und in ein sozial diskriminierendes Auslesesystem transformiert werden, das ideologisch dominiert wird von der katholischen Kirche. Straßen, die an ermordete Antifaschisten oder an jemanden wie den New-Deal-Präsidenten Franklin D. Roosevelt erinnern, werden umbenannt. Dafür gibt es jetzt ein Ronald-Reagan-Denkmal.
Einige „populistische“ Maßnahmen der Regierung Orbán haben den Zorn westlicher Finanzkreise hervorgerufen. Dazu gehören etwa die Nationalisierung der privaten Pensionskassen, Sondersteuern auf einige ausländische Banken und Supermarktketten wie Tesco und die partielle Umwandlung von Hypothekenkrediten, die in Fremdwährung aufgenommen wurden, in den ungarischen Forint. Davon profitieren allerdings nicht viele Menschen, sondern vor allem Teile der oberen Mittelschicht.
Was Orbán im Sinn hat, ist eine Art nationaler Wiedergeburt. Damit meint er nicht nur das Streben nach neuer nationaler Größe, sondern auch den ökonomischen Erfolg und einen grundsätzlichen Umbau eines Staates, den er – nicht ohne Grund – für eine ineffektive, chaotische, übermäßig komplizierte und von niemandem respektierte Institution hält.
Er glaubt an den neoliberalen Gemeinplatz, dass es einer starken und großen Mittelklasse bedürfe, die mit ihren unternehmerischen, mutigen, sparsamen und fleißigen Menschen das Rückgrat der Nation zu bilden hätte. Alle Steuerreformen und öffentlichen Subventionen kommen daher dieser vorwiegend jungen Mittelklasse zugute – zu der natürlich er selbst und seine Freunde gehören. Weil das Ideal der ungarischen Rechten der patriotische, staatsloyale, religiöse Kleinunternehmer oder großbürgerliche Freiberufler ist, der die Tradition und die Autoritäten respektiert, unterstützt sie den Erwerb von privatem Immobilienbesitz durch diese Mittelklasse – was einer der Gründe für die Hypothekenschuldenkrise in Ungarn ist.
Die ungarische Rechte glaubt, wie konservative Kräfte in Mitteleuropa auch, dass ihre ideale Mittelklasse zwei Feinde hat: zum einen den Block der transnationalen Konzerne, der internationalen Institutionen und des „Finanzkapitals“, zum anderen die Proletarier, die Armen, die „Kommunisten“, mitsamt dem bildungsunfähigen und nutzlosen Pöbel. Dabei sind die ungarischen Rechten keineswegs plumpe, altmodische Rassisten. Was sie zuvorderst ablehnen, ist die Subventionierung der Armen: öffentliche Gelder für Arbeitslose (die sie in ihrer Mehrheit für Roma halten, was natürlich nicht stimmt) und überhaupt alle „unproduktiven“ Teile der Gesellschaft, die sie als „die Inaktiven“ bezeichnen. Zu dieser Gruppe zählen sie auch die Rentner, was für Ungarn ziemlich neu ist und einen starken, besonders unangenehmen Hass gegen die Alten zum Ausdruck bringt.
Sport für das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit
Für die Durchsetzung dieser neuen Ordnung braucht der neoautoritäre Staat sehr viel Geld. Um das aufzutreiben, greift die Regierung zu dem immergleichen Mittel: Ausgabenkürzungen, neue Kürzungen, weitere Kürzungen und noch mehr Kürzungen. Es gibt kein Geld für die Schönen Künste, für die Archäologie und die Denkmalpflege, für die Literatur, für die Forschung. Es gibt kein Geld für das öffentliche Verkehrswesen, für den Schutz der Umwelt, für Krankenhäuser und Kliniken, für Universitäten und Volksschulen. Es gibt keine Unterstützung für Blinde, Schwerhörige, Gehbehinderte und Kranke. Geld gibt es nur für den Sport, denn der dient der Stärkung des Kampfgeistes und der mannhaften Tugenden, dem Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Loyalität zur Nation.
Diese Politik kultiviert auch eine recht klassische Vorliebe für die Aktion, für Taten statt bloßer Worte (die als „kritisches Denken“ verdächtig sind). Das bedeutet, dass die bildungsbürgerlichen Intellektuellen, die „quasselnden Klassen“ (so genannt und gehasst von Donoso Cortés und in seinem Gefolge von Carl Schmitt), nicht besonders hoch im Kurs stehen. Schon immer wurden intellektuelle Kaffeehauszirkel von den Konservativen gehasst – zumal von solchen, die noch vor nicht allzu langer Zeit überzeugt waren, dass selbst die Französische Revolution in philosophischen Salons und Freimaurerlogen ausgebrütet wurde.
Orbán proklamiert eine Gesellschaft, die „auf Arbeit gegründet ist“. Feierlich hat er das Ende des Sozialstaats ausgerufen. Auch das unterscheidet ihn nicht wesentlich von den meisten Regierungen im Westen (auch wenn die über einen solchen Vergleich entsetzt wären). Der ungarische Regierungschef ist allerdings kühner und konsequenter und schert sich weit weniger um die demokratische Etikette und um Formalitäten.
Deshalb konnte er es wagen, eine radikale Form von Arbeitsdienst einzuführen: Ein Arbeitsloser erhält seine staatliche Unterstützung nur, wenn er zu jedweder Arbeit bereit ist, die ihm die Behörden unter der Kontrolle des Innenministeriums vorschreiben. Und das bei einer Entlohnung, die weit unter dem Existenzminimum liegt. Die meisten der unter strikter polizeilicher Aufsicht stehenden „öffentlichen Arbeiter“ sind Roma; sie werden unentwegt schikaniert und gedemütigt und müssen sich dazu noch von den reißerischen rechtsradikalen Medien als arbeitsscheues Gesindel beschimpfen lassen.
Das Paradoxe an dieser ganzen Situation ist, dass Orbán und seine Regierung von der Europäischen Union attackiert wird, die doch mit einer solchen Politik im großen Ganzen einverstanden ist; lediglich Orbáns Beharren auf nationaler Unabhängigkeit und seine rhetorischen Angriffe auf die Banken stoßen auf wirkliche Ablehnung. Derweil behauptet die offizielle ungarische Propaganda, Budapest sei dem Terror der internationalen Linken ausgesetzt. Denn für die extreme Rechte Zentraleuropas sind Finanzkapital und Kommunismus seit jeher irgendwie das gleiche, weil gleichermaßen kosmopolitisch, modernistisch, laizistisch und republikanisch.
Die Angriffe der westlichen Presse haben in Ungarn starke nationalistische Gegenreflexe ausgelöst: Neonazis im ungarischen Parlament haben öffentlich EU-Fahnen verbrannt. Die nationale Empörung ist groß und stärkt das Selbstbewusstsein der Orbán-Regierung, die ja vom Volk gewählt wurde, gegenüber der Union. In dieser Atmosphäre fühlt sich die Rechte ermutigt, noch stärker gegen demokratische und soziale Proteste vorzugehen. Die Linke dagegen muss sich an zwei Fronten wehren: gegen die Sparauflagen der Europäischen Union und gegen die Politik der eigenen rechten Regierung.
Die Demokratie kann auf unterschiedlichste Weise untergraben werden. Zum Beispiel durch Erpressung. Wenn etwa Brüssel droht, den Ungarn das Geld aus EU-Strukturfonds oder andere Finanzmittel zu verweigern, so liefe das auf einen erzwungenen Regimewechsel hinaus. Das wäre die falsche Politik, übrigens auch nach anständigen liberalen Kriterien. Wie in den meisten anderen Fällen auch dürfte in Ungarn eine öffentliche Drohkampagne – durch Politiker und Medien – eher kontraproduktiv wirken. Die Ungarn selbst müssen die Aufgabe anpacken, sich einer autoritären Regierung zu entledigen, die höchst beunruhigende und teilweise wirklich erschreckende Tendenzen entwickelt.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
aus: Le Monde diplomatique Nr. 9724 vom 10.2.2012