von Holger Schatz
Kapitalismus wird gerne als eine sportliche Veranstaltung begriffen, die den Wettbewerb um stetige Verbesserungen ankurbelt. Gerät ein Land, ein Unternehmen oder ein Vorhaben ins Hintertreffen, dann spornt die Diagnose, nicht gut genug gewesen zu sein, dazu an, es „besser“ zu machen, mehr zu trainieren, härter als andere zu arbeiten oder einfach „kreativer“ zu sein. Dieser gleichsam naturgesetzliche Zusammenhang von Anstrengung und Erfolg gehört zum Kern der Vorstellungen, die in Sport und Ökonomie vorherrschen und ganz offensichtlich eine Naturalisierung und damit Legitimierung von Konkurrenz bewirken. Dies allein schon deshalb, weil Konkurrenz durch diesen proklamierten Kausalzusammenhang als gesellschaftlich sinnvolles Organisationsprinzip erscheinen kann. Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es gefällig, führt zu Bestleistungen und Qualitätsprodukten.
Dabei gibt es im Sport und eben auch im Leistungssport Kriterien von „Erfolg“, die sich logisch, aber auch zunehmend empirisch von betriebs- und volkswirtschaftlichen Kriterien unterscheiden, auch wenn freilich das besagte Credo vom „Besserwerden“ einen Gleichklang suggeriert. Genährt wird diese Art von Alltagsideologie vor allem auch von der medialen Präsenz des Wettkampfsports und seiner vielfältigen Wirkung auf den sogenannten Breitensport.
Fit für die Konkurrenz
Hier wie dort, im Wettkampf und auf dem Markt, gewinnt nicht, wer ein bestimmtes von vorneherein bekanntes Ziel erreicht. Ob sich die eigene Anstrengung auszahlt, hängt vor allem davon ab, was andere tun oder getan haben. Die Fähigkeit, schnell zu laufen, hoch zu springen oder eben ein bestimmtes Produkt respektive eine bestimmte Dienstleistung in einer bestimmten Qualität und in einer bestimmten Zeit herstellen und anbieten zu können, garantiert im Wettkampf bzw. auf dem Markt noch keinen Erfolg. All diese konkret-sinnlichen Eigenschaften sind allenfalls notwendige Bedingungen des Erfolgs. Hinreichend sind diese Eigenschaften nur, wenn sie im Vergleich zur Konkurrenz im entscheidenden Moment in bessere Ergebnisse umgesetzt werden können. Während dies im Wettkampf unumstößliche Geltung besitzt – es gewinnt immer der Schnellste –, ist auf dem Markt das „Bessersein“ der Produkte und Dienstleistungen selbst nur eine notwendige Bedingung. Dies hängt zum einen natürlich mit den oftmals diffus erscheinenden Bewertungskriterien zusammen, die den Erfolg eines Produktes auf dem Markt ausmachen, und von den vielen „Zufällen“ wie diversen Moden, von „Verzerrungen“ durch Macht, Monopole, Kartelle etc. ganz abgesehen.
Der Konnex von Leistung und Erfolg bröckelt
Zum anderen aber macht sich auf dem Markt – so es sich nicht um einen Flohmarkt handelt – bei einem Produkt – so es als Ware produziert wurde – immer auch die Differenz von Gebrauchs- und Tauschwert geltend. Zwar hängt der Tauschwert eines Dings wesentlich von dem Tun der Konkurrenz ab, sodass ein Produkt, welches gemessen an der zu seiner Herstellung durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit effizienter produziert wird, ein monetär erfolgreiches Produkt sein kann – wenn auch nicht muss. In dem Maße aber, in dem nun der vielfach beschriebene und hier nur anzudeutende Selbstwiderspruch des Kapitalismus – Steigerung der Produktivität und gleichzeitig sinkende Wertsubstanz des einzelnen Arbeitsprodukts – sich zunehmend empirische Geltung verschafft, scheint auch der Zusammenhang von Leistung und Erfolg vollends auseinander zu brechen.
Freilich ist der Konnex von Leistung – verstanden als Anstrengung und Arbeit, die den jeweilig vorherrschenden Qualitätsnormen entspricht – und ökonomischem Erfolg unter Marktbedingungen schon aus logischen Gründen ein äußerst fragiler. Was auf der Ebene einer universellen Alltagsideologie – ob als Rechtfertigung von Ungleichheit oder als Forderung im Rahmen von Demokratisierungs- und Emanzipationsbestrebungen – plausibel erscheint, findet im Alltagsgeschehen nur schwer Entsprechung. Historisch betrachtet hat dabei die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung sowohl auf der Ebene des Produktions- wie auch des Zirkulationsprozesses diese Auszehrung gefördert. Mit Blick auf die Arbeit in der fordistischen Massenproduktion hatte Jürgen Habermas schon 1968 treffend konstatiert: „Das Maß des gesellschaftlichen Reichtums, den ein industriell entfalteter Kapitalismus hervorbringt, und die technischen wie organisatorischen Bedingungen, unter denen dieser Reichtum produziert wird, machen es immer schwieriger, die Statuszuweisung auch nur subjektiv überzeugend an den Mechanismus der Bewertung individueller Leistung zu binden.“ In nachfordistischen Arbeitsprozessen hat diese Entwicklung weiter an Tempo und Dichte gewonnen.
Gleiches gilt aber gerade auch für die Ebene der Zirkulation, also auch für die Märkte, auf denen Erfolg realisiert wird oder auch nicht. Märkte sind heute mehr denn je global ausgerichtet und die auf ihnen entstehenden Preise sind Ergebnisse hochkomplexer Prozesse, an denen eine Vielzahl von Akteuren wie Banken, Fonds, Versicherungen, aber eben auch Unternehmen in wechselseitiger Abhängigkeit beteiligt sind. Der „Erfolg“ von Produkten und Dienstleistungen, die sich auf den Weltmärkten behaupten müssen, ist auf diese Weise vielfach von Börsen- oder Währungskursen respektive den auf sie stattfindenden Wetten und ihren Absicherungen (Derivaten) abhängig. Aus Sicht der im unmittelbaren Arbeitsprozess Beteiligten, wahrscheinlich aber auch darüber hinaus, gleicht jedenfalls eine Unternehmensbilanz heute einem Buch mit sieben Siegeln. Was Erfolg oder Misserfolg im Einzelnen letztlich ausmacht, scheint immer weniger darstellbar zu sein. Umso notwendiger die orwellsch anmutenden Durchhalteparolen, wonach sich Individuen und „Standorte“ fit machen können und sollen für den globalen Wettbewerb. Und umso nachvollziehbarer der Wunsch nach Überschaubarkeit und Transparenz, eine Illusion, die sich offenbar im Wettkampfsport noch bedienen lässt, was meiner Meinung nach auch die heuchlerische Antidopinghysterie erklärt: Es soll Chancengleichheit herrschen, der Bessere soll gewinnen!
Fit for Work?
Aber nicht nur als ideeller Jungbrunnen eines anachronistischen Leistungsprinzips, sondern ganz direkt als kostengünstige, in Eigenregie durchführbare Maßnahme zum Erhalt und zur Verbesserung des Humankapitals scheint der Sport vom Kapitalismus mittlerweile in Dienst genommen zu sein. Flankiert von entsprechenden Kampagnen der Politik und der Krankenkassen, umgesetzt auch von Unternehmen mit „Angeboten“ zur Mittagspause, erreicht die Lohnabhängigen heute die andauernde Aufforderung zur Körperoptimierung: Sporteinheiten oder bezeichnenderweise „Workouts“ vor, während oder nach der Arbeit sollen die von entfremdeter und immer dichterer Arbeit Gestressten wieder belastbarer machen. Generell wächst der Druck zur gesunden Lebensführung, sei es durch Appelle, Propaganda und sanften Zwang oder durch finanzielle Sanktionen, wenn etwa Krankenkassen Prämiensenkungen an die Bereitschaft der Versicherten knüpfen, „etwas“ für ihre Gesundheit zu tun.
No Sports?
Angesichts solcherlei Zumutungen ist man geneigt, dem Sport jegliche Elemente von Leistung austreiben zu wollen, sofern man ihm nicht sowieso schon den Rücken gekehrt hat, etwa weil einem jeglicher Spaß bereits zur Schulzeit ausgetrieben wurde, als Sport mehr oder weniger offen der Einübung fieser Sekundärtugenden wie Fleiß, Siegeswillen, Durchhaltevermögen und eben Konkurrenzdenken diente. Ist also Sport nur als gemütliches, solidarisches Treiben denkbar, bei dem Tore, Punkte, Höhen und Weiten nichts, Mitmachen jedoch „alles“ ist?
Im Rahmen meiner persönlichen Verstrickung in Wettkampf- und Leistungssport und den damit verbunden Selbst- und Fremdbeobachtungen würde ich zumindest zwei Aspekte im Sport und gerade auch im Leistungssport identifizieren wollen, die sich durchaus gegen die genannten Indienstnahmen sperren können. Es ist dies zum einen jene Praxis des Trainierens für ein konkretes Ziel wie etwa eine persönliche Bestzeit oder etwa das Erlernen einer bestimmten Turnübung. Solcherlei Ziele müssen sich nicht an anderen messen und erfordern dennoch manchmal hartes Training, Ehrgeiz usw. Wer einmal an einem Marathon teilgenommen hat, weiß, dass hier für die allermeisten Teilnehmenden Platzierungen zumindest gegen Ende der Veranstaltung so ziemlich egal sind. Natürlich ließe sich einwenden, dass Ziele wie das bloße Durchkommen bzw. das Erreichen einer persönlichen Bestzeit nicht im luftleeren Raum entwickelt werden. Man trifft bei solcherlei Veranstaltungen jedoch immer wieder auch auf Menschen, die sichtlich glücklich damit sind, entweder einfach in einer Gruppe sportlich tätig zu sein oder eben ihre gewählten Ziele erreichen zu können. Bei älteren Sporttreibenden ist bisweilen in diesem Zusammenhang gar eine gelassene Akzeptanz des Schwindens eigener Leistungsfähigkeit zu bemerken. Es geht dann eben nicht mehr um „die“ Bestzeit, sondern um das Erreichen neuer, nunmehr eben altersgerechter Zielmarken. Ganz offensichtlich wird es im Sport manchmal als etwas Befreiendes erlebt, dass es ausreicht, eine Sache einfach „gut“ zu machen, während doch die alltägliche Erfahrung im kapitalistischen Wettbewerb eben die ist, dass gut nie gut genug ist bzw. dass selbst das Bessersein als andere nichts (mehr) garantiert.
Der zweite Aspekt einer möglichen Widerspenstigkeit von Leistung kommt mir in den Sinn, wenn ich an jene, manchmal etwas eigenbrötlerisch anmutenden Freaks gerade in der Welt des Ausdauer- und Extremsports denke, die quasi umgekehrt proportional zu jener Besessenheit, die sie bei der Ausübung „ihres“ Sports an den Tag legen, sich völlig leidenschaftslos beruflichen Ambitionen versagen. Sei es, weil sie nach einer bewegenden Tour den Sinn und Zweck bestimmter „Arbeiten“ noch weniger erkennen können als ohnehin schon, oder weil sie einfach zu müde dafür sind. In der Mehrheit sind solche Zeitgenossen wahrlich nicht, dafür allemal sympathischer als die vielen verbissenen Sportarbeitenden.