Von Maria Wölflingseder
# Anstellungen und Verstellungen
„Wenn auch nur ein Mensch sein Leben voll und ganz ausleben würde, wenn es ihm gelänge, seinen Gefühlen Form zu geben, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen und seine Träume zu verwirklichen – die Welt bekäme einen neuen Antrieb zur Freude.“ (Oscar Wilde)
Ja, wenn unsere Vorstellungen vom Leben wirklich wären und wir uns nicht permanent verstellen müssten! – Wählen können wir nur zwischen zwei Extremen: Entweder wir rotieren im Hamsterrad, genannt Job, und sind finanziell gut oder zumindest halbwegs abgesichert. Oder wir wagen uns mehr oder weniger zu verwirklichen und werden ständig von Existenznöten geplagt. Heute wird vielen diese Entscheidungsmöglichkeit auch noch genommen: Sie sind gezwungen, unter verschärften Bedingungen zu überleben.
Im Projekt WÜST mit Lohnarbeitslosen, für das ich ein Jahr lang angestellt war, herrschte die einhellige Erkenntnis: Joblosen darf es gar nicht gut gehen. Sogenannte Arbeitslose sind überdies alles andere als untätig: Jobsuche und Kurse, das Betreuen von Kindern oder Alten, geringfügige Jobs, die gelegentliche Streichung des Bezugs halten auf Trab. Vielleicht bleibt zwischendurch auch einmal Zeit und Muße für persönliche Vorlieben und um gesünder zu leben: Sich mehr zu bewegen, in Ruhe zu kochen und zu essen. Aber trotz der finanziellen Notlage und dem Zwang zur ständigen Verfügbarkeit wird ihnen ihre Lage geneidet. Gesellschaftliche Erniedrigung folgt auf dem Fuß – trotz offensichtlicher „Schuldlosigkeit“ der „Verdächtigten“. Ebenfalls einhellig stellten alle fest: Ums Geld kann es wohl nicht gehen. Für die Summe, die Unterstützung plus Kosten der Verwaltung und „Kasernierung“ von Joblosen ausmacht, wären die „Überflüssigen“ gerne sinnvoll tätig. Aber dann würde für die „bessere Hälfte“ die abschreckende Wirkung wegfallen. Die „Leistungsträger“ sollen sich doch gut und richtig fühlen dürfen, wenn sie schon nicht auskönnen aus dem Hades.
# Vorstellungen und Darstellungen
„Nichts ist ernst zu nehmen außer der Leidenschaft. Der Intellekt ist keine ernst zu nehmende Sache und war es auch nie. Er ist ein Instrument, auf dem man spielt.“
„Ich habe keine Lust, mich meinen Gefühlen zu unterwerfen. Ich möchte sie auskosten, sie genießen und über sie bestimmen.“ (Oscar Wilde)
Manchmal wundere ich mich über mich selbst. Mein Drang zu Kreativität und Eigenständigkeit war offenbar stets stärker als der Unterwerfungszwang. Im Zuge meiner Arbeit beim Projekt WÜST ist mir wieder einmal klar geworden, wofür ich mich glücklich schätzen darf: Mitnichten bin ich geknickt, psychisch und gesundheitlich beschädigt wie viele andere durch jahrelange Joblosigkeit. Obwohl auch ich oft unter Getriebenheit bei gleichzeitiger Lähmung litt. Meine Fülle an Selbstverwirklichungen ist dennoch groß. Meine Erkenntnisse, meine interessanten, hauptsächlich selbst gewählten Tätigkeiten, all die Menschen, mit denen ich Schönes, Intensives, Inniges erlebe, und erst recht all die Kunstgenüsse. „Du gibst dich hin…!“, erkannte ein Gegenüber sogleich, als wir neulich über meine Herzensangelegenheiten inklusive das Wasser sprachen – die „sinnlichste Substanz der Welt“ (Huhki Henri Quelcum). Und eine Osteopathin, sie ist nicht die erste, die aus dem Häuschen war über meine außergewöhnliche Beweglichkeit, Leichtigkeit und Durchlässigkeit und über mein „Nur-so-Sprühen-vor-Kreativität“. Diese erkannte sie, ohne etwas über mich zu wissen, an bestimmten körperlichen Merkmalen. Da staunte ich nicht schlecht und fühlte mich in meinen nächsten Vorhaben bestätigt. Im Reich der Kunst sind die Leidenschaften doch viel besser aufgehoben. Das Intellektuelle hingegen ist ein Instrument, um sich im Reich der Notwendigkeiten zu behaupten. Schule, Studium, Arbeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse reizten mich stets zu Analyse und Kritik. Zu nicht viel anderem taugen sie.
Mit steigendem Alter werden nicht nur meine Ziele klarer, sondern das Erkennen meiner selbst wird zunehmend sonnenklarer. Ein interessantes Gefühl. Wie hieß der Titel eines Programms von Marie-Thérèse Escribano: „Umso älter desto ich“. Ja, mit 50+ ändert sich das Leben, aber ich habe noch nichts Nachteiliges bemerkt.