Die Rechtsregierung in Budapest geht auf Konfrontationskurs zu den in Ungarn dominierenden Westkonzernen.
von Tomasz Konicz
Mit einem von konservativen ungarischen Medien initiierten Boykottaufruf gegen etliche Unternehmen gewinnen die steuerpolitischen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung in Budapest und westlichen Großkonzernen an Schärfe. In dem von 34 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterzeichneten Aufruf hieß es, die ungarischen Bürger sollen nicht mehr bei den Unternehmen einkaufen, die „nach Brüssel und zu den westlichen Medien laufen, um ihre eigenen finanziellen Interessen zu schützen.“ Die Unterzeichner des auf dem konservativen Portal polgarinfo.hu veröffentlichen Boykottaufruf – darunter auch der ehemalige Staatsminister und Funktionär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei Imre Pozsgay – erklärten zugleich ihre volle Unterstützung für eine umstrittene Sondersteuer, mit der Budapest Großunternehmen, Banken und Versicherungen zur Kasse bittet.
Die stramm rechte ungarische Fidesz-Regierung um Ministerpräsident Viktor Orban befindet sich nämlich nicht nur wegen ihres umstrittenen Mediengesetzes europaweit unter Beschuss, auch die Steuer- und Wirtschaftspolitik Budapests stößt in Brüssel und Berlin auf zunehmende Kritik. Nachdem sich etliche westeuropäische und deutsche Großkonzerne – wie Allianz, RWE, E.ON und Deutsche Telekom – Mitte Dezember in einem Brandbrief an die EU-Kommission über eine von Budapest eingeführte Krisensteuer beschwerten, kündigten Kommissionssprecher Anfang Januar an, die bis Ende 2012 eingeführte Sondersteuer auf „Vereinbarkeit mit dem EU-Recht“ zu prüfen. Zuvor gab auch Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle den empörten Konzernen Rückendeckung: „Abgaben, die vorrangig ausländische Unternehmen betreffen, sind für den europäischen Binnenmarkt grundsätzlich problematisch.“ Mittels der Krisensteuer würde Ungarn laut klageführenden Konzernen an die 1,3 Milliarden Euro einnehmen. Es war gerade diese Lobbyarbeit der Westkonzerne in Brüssel, die die Betreiber der Internetplattform polgarinfo.hu zu ihrem Boykottaufruf motivierte.
Dabei agierte die ungarische Regierung durchaus geschickt, da von den neuen Sondersteuern nur Großunternehmen aus der Energiewirtschaft, der Telekommunikation, der Finanzbranche und dem Einzelhandel betroffen sind. In diesen Branchen, die fest an den ungarischen Markt gekoppelt sind, ist eine Verlagerung der Unternehmenstätigkeit ins Ausland kaum möglich. So sollen beispielsweise alle in Ungarn tätigen Einzelhandelskonzerne, die einen Mindestumsatz von 360 Milliarden Euro erwirtschaften, eine Sondersteuer in Höhe von 2,5 Prozent des Nettoumsatzes rückwirkend für 2010 entrichten. Telekommunikationskonzerne werden hingegen mit einer Erhöhung der bisherigen Steuerlast um 6,5 Prozent zur Kasse gebeten. Bereits Mitte 2010 führte Budapest eine Bankenabgabe in Höhe von 0,45 Prozent der Bilanzsumme der in Ungarn tätigen Finanzinstitute ein. Ende November ging die Regierung Orban schließlich daran, das 1997 in Ungarn eingerichtete Zwangssystem privater Rentenfonds zu verstaatlichen, das der Versicherungswirtschaft neue lukrative Märkte erschloss. Dieser Schritt brachte vor allem den deutschen Branchengiganten Allianz gegen die Führung in Budapest auf, die mit diesem Kurs eines „wirtschaftlichen Nationalismus“ offen auf Konfrontationskurs zu den im Land dominierenden Westkonzernen geht.
Bei der Ausgestaltung ihrer Krisensteuer scheinen sich Ungarns Rechtsausleger auch an der Unterscheidung zwischen dem „guten, schaffenden“ und dem „bösen, raffenden“ Kapital orientiert zu haben, wie sie auch in faschistischer Propaganda üblich ist: nur „der produktive Kapitalismus“ sei wertvoll, die Spekulanten hingegen, „die an ihr Geld auf eine Art und Weise gelangen, die notwendigerweise anderen schadet“, seien unnütz, tönte Orban während einer Grundsatzrede Mitte 2010. In der Tat ist beispielsweise die in Ungarn tätige Automobilbranche von der Krisensteuer ausgenommen. Die deutschen Autobauer, die erst im vergangenen September Neuinvestitionen in Milliardenhöhe in Ungarn ankündigten, können in der Regel mit Staatssubventionen in Höhe von fünf bis zehn Prozent der Investitionssumme rechnen, wie das Handelsblatt anlässlich der Bekanntgabe einer milliardenschweren Investition des Autobauers Audi in ein ungarisches Motorenwerk berichtete:
„Der Staat wird bei Audi wie bei den meisten anderen Autoherstellern mit Subventionen parat stehen. Ministerpräsident Orban nannte gestern zwar noch keine konkrete Zahl, Industrieunternehmen können in Ungarn jedoch mit einer Hilfe zwischen fünf und zehn Prozent der Investitionssumme rechnen. Opel wird für die Erweiterung seines Motorenwerkes mehr als 25 Mio. Euro vom ungarischen Staat bekommen. Daimler kann für die neue Fabrik in Kecskemet mit Subventionen in Höhe von gut 80 Mio. Euro rechnen. Mit der Erweiterung des Audi-Werkes in Györ wird der Einfluss der deutschen Automobilhersteller in Ungarn noch größer. Schon jetzt geht ein Drittel aller ungarischen Exporte nach Deutschland. Auch die Zulieferer sind in Ungarn stark vertreten. Zu den wichtigsten Unternehmen gehört die Bosch-Gruppe mit vier eigenen Produktionsstätten. Für dieses Jahr hatte Bosch bereits angekündigt, dass tausend neue Mitarbeiter eingestellt werden sollen.“ („Audi bekennt sich zu Ungarn“, Handelsblatt vom 24.09.2010)
Die Nationalisten um Regierungschef Viktor Orban sind also durchaus bemüht, Ungarn weiterhin als eine „verlängerte Werkbank“ insbesondere deutscher Maschinenbau- und Automobilkonzerne zu fördern. Diese Industriezweige entsprechen dem – leider nicht nur in rechtsextremen Zirkeln geläufigen – ideologischen Wahnbild des „guten“ und „schaffenden“ Kapitals; die Autokonzerne und deren Zulieferer könnten aber auch einen Standortwechsel in Erwägung ziehen, sollte ihnen die Steuerlast in Ungarn zu hoch werden. Dazu sind etwa die von der Sondersteuer betroffenen westlichen Einzelhandelskonzerne naturgemäß nicht in der Lage. Die werden innerhalb der nationalistischen Ideologie ebenfalls als „parasitär“ wahrgenommen, da sie nur Kaufkraft absorbieren und ihre Gewinne ins „Ausland“ transferieren würden.
Dabei spiegelt der ungarische Nationalismus die Wirklichkeit ideologisch verzerrt wieder. Ungarns Wirtschaft befindet sich – ähnlich wie nahezu alle mittelosteuropäischen Volkswirtschaften – weitgehend unter der Kontrolle westlichen Kapitals. Tatsächlich sind fast nur westliche Großkonzerne von diesen Sondersteuern betroffen, da in Ungarn in den betroffenen Branchen schlicht kaum Großunternehmen tätig sind, die sich im Besitz ungarischer Unternehmer befänden. Die Medien in Budapest berichteten, dass es im ganzen Land nur 14 Großunternehmen mit „jährlichen Einkünften“ über 71,7 Millionen Euro gebe, die ausschließlich im Besitz ungarischer Staatsbürger seien. Die Maßnahmen der ungarischen Regierung könnten somit auch als ein nationalistischer Versuch gewertet werden, Handlungsspielräume zu gewinnen und eine eigenständige nationale Bourgeoisie zumindest in einzelnen Wirtschaftssegmenten zu etablieren. In dieses Bild passt auch ein von 19 Prozent auf 10 Prozent verminderter Körperschaftssteuersatz für Kleinunternehmen mit einem Jahresgewinn bis 1,8 Millionen Euro.
Diese Strategie vollzieht sich auch auf Kosten der ärmsten Bevölkerungsschichten, die sich nach der Einführung eines einheitlichen Einkommensteuersatzes – einer sogenannten Flat Tax – auf erhebliche Mehrbelastungen einstellen müssten. Die Regierung Orban setzt somit auch originär neoliberale Politikkonzepte durch. Offiziell wurden die bisher gültigen Einkommensteuersätze von 17 und 32 Prozent durch einen einheitlichen Steuersatz von 16 Prozent zum Jahresanfang abgelöst, doch bildet nun dessen Berechnungsgrundlage der Bruttolohn inklusive der „Lohnnebenkosten“ der Unternehmer, sodass der effektive Steuersatz nun bei 20,3 Prozent liegt. Während Spitzenverdiener massiv entlastet werden, müssen die Bezieher des ungarischen Mindestlohns sich auf Mindereinnahmen von umgerechnet 7,26 Euro pro Monat einstellen. Beziehern des ungarischen Durchschnittslohns, der bei circa 733 Euro liegt, dürften 14,52 Euro monatlich auf ihren Konten fehlen. Dagegen hilft nur, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzten, da die ungarische Rechtsregierung ihre Landsleute vermittelst Steuernachlässen zu einer höheren Gebärtätigkeit animieren will. Ungarns Strategie des „Nationalen Neoliberalismus“, der die Herausbildung einer nationalen Bourgeoisie befördern soll, vollzieht sich also auch auf Kosten der ärmsten Teile der Bevölkerung – die rechte Polemik gegen Westkonzerne und Banken soll nicht zuletzt von dieser Tatsache ablenken.