Über imperiales Denken und sozial-ökologische Fakten
von Andreas Exner
[zuerst erschienen auf www.social-innovation.org]
Dieser Tage erfuhr man im „Standard“, einem österreichischen Massenmedium linksliberaler Orientierung, das Qualität beansprucht, dreierlei: Erstens, in Afrika wüte eine Hungersnot. Zweitens, Afrika sei ein Opfer der globalen Landnahme und leide unter dem Klimawandel. Die dritte Aussage lautet: der Hunger habe nichts mit dem Klimawandel und der Landnahme zu tun. Im Folgenden eine Analyse des imperialen Massenbewusstseins.
Die Nachrichten der Tageszeitungen bilden so etwas wie den Stream of Consciousness der öffentlichen Meinung. Ähnlich James Joyce „Ulysses“ reihen sich darin Gedanken bruchstückhaft und widersprüchlich aneinander. In diesem Strom des Bewusstseins erscheint die Realität fragmentiert, ohne einen inneren Zusammenhang. Dass unterschiedliche Phänomene der Ausdruck ein- und derselben wandelbaren Realität sein könnten, liegt ihm so fern wie der Gedanke, dass diese Realität in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und ihrer politischen Verfasstheit besteht, kurz gesagt: in Kapital, Markt, Patriarchat und Staat. Oder, ver-kürzt gesagt: im Kapitalismus.
Der alltägliche Strom der Gedanken über die Gesellschaft sichert, so wie er beschaffen ist, unter anderem den Fortbestand der ihr eigenen Art des Zusammen- und Gegeneinanderlebens. Das für sie typische Unglück wird auf diese Art in eine Serie von tragischen Zufällen verwandelt oder es erscheint als das Resultat von Naturgesetzen.
Zwei Artikel in der Tageszeitung „Der Standard“ (Online-Ausgabe), die sich dem Land Grab und der jüngsten Zuspitzung der Hungerkatastrophe in Afrika widmen sind ein gutes Beispiel für diesen Mechanismus. Im Folgenden will ich diese beiden Texte analysieren und vor allem zeigen, was sie sagen, indem sie bestimmte Dinge nicht sagen.
Demgegenüber skizziere ich Eckpunkte einer realitätsnäheren Analyse der Ursachen des Hungers in Ostafrika. Weiters möchte ich illustrieren, in welche Diskurse sich die in den beiden „Standard“-Artikeln dargestellten Debatten um Landnahme, Klimawandel und Hunger einordnen. Abschließend entwerfe ich ein grobes Bild des übergreifenden Zusammenhangs der gegenwärtigen Mehrfachkrise, die sich vor allem im weltweit anwachsenden Hunger äußert.
Dürre in Ostafrika: kapitalistisch induzierter Klimawandel oder nicht?
Am 12. Juli titelt der erste Artikel im „Standard“ in einer Serie von Texten zur Hungerkatastrophe „Hunderttausende Menschen auf der Flucht“ und hält fest:
Die Dürre am Horn von Afrika gilt als die schwerste der vergangenen 60 Jahre.
Nach weiteren, über mehrere Tage verteilten Beiträgen zur Dürre in Ostafrika kommt Bernhard Pospichal, ein 32 Jahre junger „Juniorprofessor für Fernerkundung der Atmosphäre am Institut für Meteorologie der Universität Leipzig“ zu Wort. Sein einschlägiger fachlicher Hintergrund zur Beurteilung der Lage in Ostafrika, so heißt es im Text, bestehe in einem Klimaprojekt in Westafrika. Der Titel des Interviews mit Pospichal lautet fast schon programmatisch:
Dürre in Ostafrika kein Effekt des Klimawandels
Auf das einleitende Statement des Interviewers, wonach in zahlreichen Medien davon gesprochen werde, die Dürre am Horn von Afrika stelle die erste erkennbare Folge des Klimawandels dar und man frage sich daher
Kann man das so pauschal beurteilen?
führt Pospichal aus:
Auf keinen Fall. Es hat in dieser Gegend auch in der Vergangenheit immer wieder Dürrekatastrophen gegeben. Was man sagen kann: 2010 hat global ein starkes La-Nina-Phänomen geherrscht und das hatte auch Auswirkung auf Ostafrika. Aber dieser Zusammenhang wurde bereits vor 20 Jahren wissenschaftlich herausgefunden und ist nicht erst seit heuer bekannt.
und hält fest:
Konkrete Klimavorhersagen für einzelne Jahre sind nicht möglich.
Auf Nachfrage des Interviewers
Berichten zufolge soll es in Somalia in den vergangenen fünf Jahren nur in einem einzigen Jahr normale Niederschläge gegeben haben und das bereits die sechste Dürre seit der Jahrtausendwende sein.
führt der Meteorologe aus:
Das muss man relativieren: 2010 hat es viel zu viel geregnet und es war deutlich zu feucht. 2009 war ein extrem trockenes Jahr, das Jahr davor war ziemlich ausgeglichen. 2007 war auch ein eher trockenes Jahr. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Klimaszenarien, die im Klimareport 2007 des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, Anm.) veröffentlicht wurden, sogar einen Niederschlagszuwachs für das Horn von Afrika zeigen. Allerdings geht es dabei um einen Mittelwert für einen längeren Zeitraum und nicht um einzelne Jahresprognosen. Generell lässt sich sagen, dass mit den prognostizierten höheren Temperaturen auch die mittleren Niederschläge steigen – allerdings dürften auch die Extreme (sowohl Dürre als auch Starkregen) zunehmen.
Einige Passagen weiter nähert sich der Interviewer der Konklusio:
Auch wenn das blöd klingt: Gehört das Phänomen Dürre also fix zu Afrika?
Dazu Pospichal:
Ja, das klingt blöd, ist aber in einigen Gegenden so. Dürren und trockene Jahre gibt es immer wieder und in verschiedenen Ländern. Gerade die Sahelzone – also jener Bereich zwischen feucht-tropischem Klima und der Sahara – bildet eine Grenze, wo Landwirtschaft gerade noch möglich ist. Und dort besteht immer die Gefahr, dass durch Niederschlagsausfälle Probleme entstehen. Dieser Bereich zieht sich quer über den Kontinent, betrifft also etwa Niger, den Tschad, Mali und im Moment eben sehr stark Ostafrika.
Bemerkenswert ist daran zum einen, wie der Artikel die Aussagen des Meteorologen in suggestiver Weise unter einen apodiktischen Titel stellt. Genau betrachtet teilt der Meteorologe erstens mit, eine exakte Aussage hinsichtlich des Zusammenhangs von (anthropogenem) Klimawandel und Dürre sei auf einzelne Jahre bezogen nicht möglich und zweitens könnte laut Klimareport des IPCC 2007 in Ostafrika der Klimawandel zu höheren Durchschnittsniederschlägen führen. Damit sagt Pospichal also erstens: das gegenwärtige Ereignis ist weder sicher dem Klimawandel noch sicher nicht dem Klimawandel zuzurechnen; und zweitens: Ostafrika unterliegt einem Klimawandel. Der „Standard“ macht daraus jedoch die Headline, „Dürre in Ostafrika kein Effekt des Klimawandels“.
Zum anderen ist an diesem Artikel bemerkenswert, dass auch der Meteorologe in einer ziemlich suggestiven Weise formuliert. Fast scheint es so als zielte die Frage des Interviewers darauf ab, die Headline „Dürre in Ostafrika kein Effekt des Klimawandels“ bestätigt zu sehen. Seine einleitende Frage
In zahlreichen Medien wird davon gesprochen, dass die Dürre am Horn von Afrika die erste erkennbare Folge des Klimawandels darstellt. Kann man das so pauschal beurteilen?
– soviel lässt sich jedenfalls sicher sagen – soll indirekt die These darstellen, wonach der Klimawandel zu vermehrten Dürren in Ostafrika führe.
Doch formuliert der Interviewer sie auf eine offensichtlich falsche Weise – ob absichtlich oder nicht muss dahingestellt bleiben. Denn die „Dürre am Horn von Afrika“ ist vom Standpunkt jener, die den anthropogenen, kapitalistisch induzierten Klimawandel in Afrika thematisieren, mit Sicherheit nicht „die erste erkennbare Folge des Klimawandels“. Und „pauschal beurteilen“ kann man ein einzelnes Wetterereignis oder die kurzfristige Witterung vom Standpunkt der Klimaforschung, die sich per definitionem mit den langfristigen Veränderungen von Niederschlag, Temperatur und anderen Zustandsvariablen der Atmosphäre befasst, von Haus aus nicht.
Der Meteorologe kann daher mit gutem Gewissen verneinen und sagt damit zugleich implizit etwas, was er explizit nicht sagt, weil es wissenschaftlich nicht ausgesagt werden kann: Der anthropogene, durch die kapitalistische Produktionsweise bewirkte Klimawandel spiele für die gegenwärtige Dürre keine Rolle.
Die Vergangenheit: Dürre in der Sahelzone
Vergleichen wir die Meinung von Pospichal mit anderen Positionen in der wissenschaftlichen Literatur über den Klimawandel und die Land- bzw. Viehwirtschaft in Ostafrika. Nehmen wir die folgende Aussage von Pospichal zum ersten Startpunkt unserer kurzen Rundschau:
Gerade die Sahelzone – also jener Bereich zwischen feucht-tropischem Klima und der Sahara – bildet eine Grenze, wo Landwirtschaft gerade noch möglich ist. Und dort besteht immer die Gefahr, dass durch Niederschlagsausfälle Probleme entstehen. Dieser Bereich zieht sich quer über den Kontinent, betrifft also etwa Niger, den Tschad, Mali und im Moment eben sehr stark Ostafrika.
Somalia zählt zwar nicht mehr zur Sahelzone im eigentlichen Sinn, großräumig gesehen allerdings durchaus zur Übergangszone „zwischen feucht-tropischem Klima und der Sahara“. In einem Review-Artikel aus dem Jahr 2001 für die Fachzeitschrift „Global Environmental Change“ mit dem Titel „Climatic perspectives on Sahelian desiccation: 1973-1998“ stellt Mike Hulme diesbezüglich fest (eigene Übersetzung):
Der afrikanische Sahel bietet das dramatischste Beispiel einer viele Jahrzehnte langen Klimavariabilität, die sowohl quantitativ als auch direkt gemessen worden ist. Der Jahresniederschlag in dieser Region fiel zwischen 20 und 30 Prozent zwischen den Jahrzehnten, die zur politischen Unabhängigkeit für die Nationen der Sahelzone führten (1930er bis 1950er Jahre) und den darauf folgenden Jahrzehnten (1970er bis 1990er Jahre). Die Perspektiven der Klimaforschung auf Natur und Ursachen dieser Periode zunehmender Trockenheit haben sich verändert, und reiften in einigen Fällen im Verlauf der Zeit und der andauernden Dürre.
Hulme erläutert die wesentlichen Eigenschaften des Sahelklimas und der daran angepassten Gesellschaften und stellt dies dem lang andauernden Unverständnis der westlichen Forschung gegenüber:
Es gibt nicht so etwas wie einen „normalen“ Niederschlag in der Sahelzone. Was im Grunde zählt ist nicht, ob der mittlere Niederschlag bei 200, 400 oder 600 mm liegt, sondern die Bandbreite der Variabilität des Niederschlags in Zeit und Raum. Während das den indigenen afrikanischen Gesellschaften wohl bekannt war (Mortimore and Adams, 1999), brauchte die formale westliche Wissenschaft den größten Teil des 20. Jahrhunderts dazu um dies zu verstehen: zuerst die europäischen Regierungseliten der Kolonialära, dann, in jüngerer Zeit, die aufkommenden nationalen Regierungen der Sahelstaaten und internationalen Finanzinstitutionen der postkolonialen Zeit.
Normal sei für die Sahelzone eine enorme Variabilität des Niederschlags in Zeit und Raum. Durchschnittswerte sind folglich unbrauchbar, das Klima befinde sich nicht in einer Bedingung des Gleichgewichts, wie die westliche Klimaforschung lange Zeit in eurozentrischer Weise angenommen hat. Hulme resümiert:
Es ist daher diese Variabilität der Niederschlagsmenge, und nicht ihr Durchschnitt, woran sich die meisten ökologischen und sozialen System traditionell angepasst hatten, zum Beispiel durch den Pastoralismus, eine Diversifizierung des Einkommens und die Mobilität (Mortimore, 1989). Die zunehmend trockene Periode, die in der Sahelzone in den späten 1960er Jahren begann und in den schweren Dürren von 1973, 1984 und 1990 kulminierte, erlegte diesen adaptiven Systemen, die bereits die Verschlechterung der regionalen politischen und globalen ökonomischen Bedingungen unter Stress gebracht hatte, eine Last auf, mit der sie nicht mehr fertig wurden (Warren, 1995).
Die Perspektive der Klimawissenschaft verschob sich im Lauf der lang anhaltenden Dürre Schritt für Schritt. Hulme beschließt das Review der unterschiedlichen Theorien zur langen Dürreperiode in der Sahelzone mit der These, dass in einer langfristigen Betrachtung eher die feuchten 1920er, 1930er und 1950er Jahre nach einer Erklärung zu verlangen scheinen als die „Dürre“ seit den späten 1960er Jahren. Die Frage, welche langfristige Dynamik das Klima der Sahelzone zeigt, bleibt laut Hulme jedoch offen. Zwar ist klar, dass die Dürre in der Sahelzone im Kontext des 20. Jahrhunderts sowohl ihrer Intensität als auch ihrer Dimension nach weltweit einzigartig ist. Allerdings ist unsicher, ob diese Dürre auch im Kontext des Holozäns, der Periode seit den letzten etwa 12.000 Jahren, einen einzigartigen Charakter hat. Sicher ist nur, man kann keine genaue Aussage treffen:
Unser Scheitern, die Schwere und Dauer der Dürren des Holozäns zu quantifizieren und die Unfähigkeit der globalen Klimamodelle, solche mehrere Jahrzehnte überspannende Trends der Austrocknung zu reproduzieren [die langfristige Trockenperiode im Sahel seit den späten 1960er Jahren, Anm. A.E.] hindert uns daran, die Ursachen dieses Phänomens des späten 20. Jahrhunderts zu verstehen.
Allerdings, so Hulme, hat das Kausalverständnis durchaus Fortschritte gemacht. Er unterscheidet dabei zwei Gruppen von Paradigmen: das eine Paradigma macht Faktoren einer weitreichenden Interaktion von Ozeanen und der Atmosphäre verantwortlich; das andere sieht die Ursachen in sich selbst verstärkenden Prozessen der Veränderung der Landbedeckung und ihrer Rückwirkung auf das regionale Klima. Die Erforschung des weltweiten Klimawandels, den die kapitalistische (das heißt auf Lohnarbeit beruhende, „marktwirtschaftliche“) Produktionsweise induziert hat, gehört zum ersten Paradigma. Die zwei Paradigmen schließen sich nicht aus. Allerdings ist die Frage, welches wichtiger ist.
Hulme zieht den Schluss:
Letztlich bedeutet die Erfahrung im Sahel der letzten drei Jahrzehnte eine Herausforderung für alle, die weiter voraus zu blicken suchen und danach trachten, den Einfluss künftiger globaler Erwärmung auf die menschliche und ökosystemare Wohlfahrt zu evaluieren und zu quantifizieren. Die jüngst beobachtete Austrocknung in der Sahelzone (ein 20- bis 30-prozentiger Rückgang des Niederschlags) ist größer als in fast jeder Vorhersage einer durch die globale Erwärmung induzierten Niederschlagsveränderung in dieser Region auf Basis globaler Klimamodelle (Hulme et al., 2000). Das legt nahe, dass für die zukünftigen Niederschlagsmengen im Sahel entweder die natürliche Variabilität oder der Einfluss von Veränderungen in der Landbedeckung auf das regionale Klima ebenso wichtig oder wichtiger sind als die globale Erwärmung per se.
Kurz gesagt heißt das also: Der genaue Beitrag des Klimawandels zur Klimadynamik der Sahelzone ist derzeit (2001) nicht feststellbar. Die Veränderung der Landbedeckung spielt jedenfalls vermutlich ebenso eine Rolle wie die natürliche Variabilität des Klimas. Die Gesellschaften der Sahelzone sind grundsätzlich an eine hohe Variabilität des Klimas angepasst. Die regionalen politischen und die globalen ökonomischen Entwicklungen seit den 1970er Jahren haben jedoch die Anpassungsfähigkeit an die verschärfte Trockenheit untergraben.
Die Zukunft: der Einfluss des menschengemachten Klimawandels auf die Land- und Viehwirtschaft in Ostafrika
Aus dem Umstand, dass erstens im Sahel nicht die Durchschnittswerte des Niederschlags, sondern seine Variabilität die entscheidende Rolle für die dort lebenden Menschen spielt und aus der so gesehen zweitens eher anekdotischen Vermutung, es könnte aufgrund der globalen Erwärmung für Somalia im Durchschnitt zu einer Zunahme der Niederschläge kommen, macht der Autor des „Standard“-Artikels den folgenden Teaser:
Meteorologe Bernhard Pospichal: Warum Dürren zu Afrika gehören und der Niederschlag in Somalia sogar zunehmen könnte
Unterschlagen wird in diesen beschwichtigenden Zeilen nicht zuletzt, dass der Klimawandel aller wissenschaftlichen Voraussicht nach in der Tat negative, zum Teil verheerende Konsequenzen für die Land- und Viehwirtschaft in Ostafrika haben wird.
William R. Cline errechnete 2007 in der Studie „Global Warming and Agriculture. Impact Estimates by Country“ auf Basis von Funktionen für den Zusammenhang zwischen Klimawandel und finanziellen Erträgen der Landwirtschaft in Afrika (die ein Weltbank-Projekt erstellt hat) einen hohen Netto-Verlust der Landwirtschaft bis in die 2080er Jahre. Bezieht man die mögliche Düngewirkung einer erhöhten CO2-Konzentration mit ein, wird die Einbuße geringer, bleibt jedoch bestehen.
Bewässerungsfeldbau profitiert insgesamt gesehen vom Klimawandel. Allerdings beschränken sich die Zugewinne vor allem auf Ägypten. Nimmt man Ägypten, das aufgrund des Nils über besonders günstige Bedingungen verfügt, aus der Analyse, so ergibt sich auch für den Bewässerungsfeldbau in Afrika ein Verlust. Gewichtet man die Ergebnisse nach der aktuell bewässerten Fläche, inkludiert den möglichen Düngereffekt von CO2 und schließt Ägypten als Ausreißer aus der Analyse aus, so beträgt der finanzielle Verlust der Landwirtschaft in Afrika aufgrund des Klimawandels rund 19%. In einem Artikel aus dem Jahr 2010 für den Sammelband „Climate Change and Food Security“ halten Lobell und Burke bis 2050 landwirtschaftliche Ertragseinbußen von mehr als 20% in vielen afrikanischen Ländern für wahrscheinlich.
Zwischen 11,7 und 14,2 °C mittlerer Jahrestemperatur liegt ein Wendepunkt, oberhalb dessen eine weitere Temperaturerhöhung negative Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Ertragspotenziale hat (Cline 2007). Äthiopien liegt mit ca. 23 °C (1961-1990) und künftig ca. 26 Grad (2070-99) Jahresmitteltemperatur deutlich über dieser Schwelle. In der Ländertabelle von Cline ist Somalia nicht extra ausgewiesen sondern unter „Other Horn of Africa“ subsumiert, das 1961-1990 eine mittlere Temperatur von ca. 26 °C, 2070-2099 jedoch von ca. 30 Grad aufweist. Zwischen Temperaturerhöhung und landwirtschaftlichem Ertragsrückgang besteht zudem ein nicht-linearer Zusammenhang: je größer die Erwärmung, desto stärker geht der Ertrag zurück.
Auf Grundlage eines Vergleichs verschiedener Klimamodelle und zweier unterschiedlicher methodischer Zugänge zur Modellierung des Effekts des Klimawandels auf den landwirtschaftlichen Ertrag kommt Cline zu folgendem Schluss: Ein mittleres Klimawandelszenario wird den finanziellen Ertrag der Landwirtschaft in Tanzania um 12,8% bzw. um 595 Mio. 2003 USD reduzieren. Darin ist der mögliche Düngereffekt von CO2 mit einer durchschnittlichen Ertragserhöhung von 15% schon inkludiert. Für die Region „Other Horn of Africa“ (inklusive Somalia) gibt Cline eine Reduktion von 4,1% und 1 Mio. 2003 USD an, für Äthiopien ein Minus von 20,9% und 585 Mio. 2003 USD, für Kenya ein Plus von 8,8% und 203 Mio. 2003 USD.
Daran ist zu erkennen, dass trotz des überwiegend negativen Impacts des Klimawandels auf die Landwirtschaft in Afrika durchaus eine regionale Variabilität besteht. So könnte Kenya eher Ertragszuwächse verzeichnen. Für Somalia, Tanzania und Äthiopien ist jedoch ein Verlust wahrscheinlich.
Der mögliche Düngereffekt von CO2 könnte die negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Pflanzenproduktion bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Dieser Effekt ist allerdings in Afrika geringer als in anderen Weltregionen, weil die dominierenden Nahrungspflanzen dem C4-Stoffwechseltypus angehören. Dessen Ertrag spricht auf erhöhte CO2-Konzentrationen nur schwach an (Lobell und Burke 2010).
Eine Studie zum Einfluss des Klimawandels auf Mais, Finger- und Perlhirse, Erdnüsse und Cassava im subsaharischen Afrika bis 2050 zeigt statistisch signifikante Ertragseinbußen, mit Ausnahme von Cassava. Deren Erträge zeigen keinen signifikanten Zusammenhang mit Temperatur- oder Niederschlagsdaten, vermutlich aufgrund der unzureichenden Datenlage. Für das klimatisch vergleichsweise günstig gelegene Tanzania, wo Unterernährung allerdings aufgrund gesellschaftlicher Ursachen weit verbreitet ist – 2005-2007 waren 34% der Bevölkerung unterernährt -, führt der Klimawandel bis 2050 zu einer Ertragseinbuße von etwa 20% beim Hauptnahrungsmittel Mais, schätzen Lobell und Burke (2010).
Solche Modellierungen sind sicherlich mit Vorsicht zu betrachten, wie das auch ihre Autorinnen und Autoren tun. Extremwetterereignisse und die von Hulme für die Sahelzone hervorgehobene Variabilität des Niederschlags sind schwer oder gar nicht zu modellieren. Gerade die Abweichungen vom Durchschnitt sind für die natürlichen Produktionsvoraussetzungen der subsistent, zu einem großen Teil für ihren eigenen Konsumbedarf Produzierenden in Ostafrika jedoch von großer Bedeutung.
Der Klimawandel wird nicht nur aufgrund der abnehmenden Niederschläge und zunehmenden Dürreperioden, sondern voraussichtlich auch durch die Zunahme von Unkrautdruck sowie Pflanzenschädlingen und -krankheiten eine Reduktion der Erträge im Ackerbau bewirken. Diese Effekte sind jedoch ebenfalls schwer oder gar nicht modellierbar. Aufgrund der in Afrika generell schlecht ausgebauten Bewässerungssysteme ist auf absehbare Zeit keine Pufferung von Dürreperioden möglich. Die durch den Klimawandel abnehmende Wasserführung limitiert eine solche Strategie grundsätzlich. Die regionsweise prognostizierte Zunahme von Überschwemmungen würde den Abtrag von Boden und Austrag von Nährstoffe erhöhen. Überschwemmungen zerstören zudem das Straßensystem und beeinträchtigen den Transport agrarischer Produkte.
Was die spezifischen Auswirkungen auf die Viehwirtschaft angeht, hält die NGO Oxfam in ihrem Report „Survival of the fittest. Pastoralism and climate change in East Africa“ (2008) fest (eigene Übersetzung):
Pastoralistische Gemeinschaften in ganz Ostafrika beginnen mit der Realität des Klimawandels zu leben, indem sie sich an seine Folgen anpassen so gut es geht. In den nächsten 10-15 Jahren wird das eine Fortsetzung der gegenwärtigen Trends bedeuten, darunter: anhaltende schwache Regenfälle, eine Zunahme dürrebedingter Schocks, und eine reduzierte Vorhersagbarkeit von zum Teil schweren Regenfällen. Nach dieser Zeit zeigen die Klimamodelle des Intergovernmental Panel on Climate Change für Ostafrika eine Zunahme der Temperatur von 2-4 ºC in den 2080er Jahren, mit intensiveren Regenfällen in der Periode der „Kurzregen“ (Oktober-Dezember) in großen Teilen Kenyas, Ugandas und im Norden Tanzanias bereits in den 2020er Jahren, mit einer stärkeren Prononcierung in den folgenden Dekaden. Pastoralisten könnten daraus Nutzen ziehen: mehr Regen könnte in größeren Weidegründen während der Trockenzeit resultieren, ebenso in einer längeren Nutzungsdauer von Weidegründen in der Regenzeit. Der Klimawandel könnte auch zu einer geringeren Häufigkeit von Dürre führen, was bedeuten könnte, dass die Menschen mehr Zeit haben, um ihre Vermögensbestände zwischen den mageren Jahren wieder aufzubauen. Allerdings gibt es auch bedeutende negative Konsequenzen, darunter den Verlust von Vieh durch Hitzestress, den Verlust von Land an ackerbauliche Nutzungen aufgrund der Ausweitung des Ackerbaus, sofern das landwirtschaftliche Potenzial arider Regionen sich durch steigende Regenfälle erhöht, eine Zunahme der Häufigkeit von Überschwemmungen, und die Ausbreitung von Krankheiten bei Mensch und Vieh, die während der Regenzeit gute Bedingungen vorfinden.
Landnahme und der Mythos vom „ungenutzten Land“
In einer Reportage von Philipp Hedemann mit dem Titel „Riesenfarmen: Hunger und Langrabbing in Äthiopien“, ebenfalls in der Online-Ausgabe von „Der Standard“ (20. Juli), wird die globale Landnahme, die in Afrika ein hauptsächliches Zielgebiet hat, thematisiert. Während Hedemanns Artikel zutreffend den Zusammenhang zwischen Landverteilung und Hunger anspricht, verkürzt jedoch auch er das Problem um wesentliche Dimensionen.
So verbreitet Hedemanns Artikel den Mythos vom „ungenutzten Land“. Man liest:
Im Land am Horn von Afrika gibt es keinen privaten Landbesitz, alles Land – insgesamt 111,5 Millionen Hektar – gehört dem Staat. Dreiviertel davon sind für die Landwirtschaft geeignet, doch bislang werden nur 15 Millionen Hektar bestellt. 3,6 Millionen Hektar hat die Regierung jetzt für Investoren ausgezeichnet.
Demnach sind in Äthiopien 83,5 Mio. Hektar für die Landwirtschaft geeignet, 15. Mio. Hektar bestellt und folglich rund 68 Mio. Hektar für Investoren verfügbar, ohne mit bestehenden Nutzungen in Konflikt zu kommen. Sensibilisiert durch meine Analyse von Daten zur Flächennutzung in Tanzania sehe ich solche Zahlen mit größter Skepsis. Tanzania ist aufgrund seiner weitläufigen semiariden Regionen und dem bedeutenden Pastoralismus mit Äthopien grob vergleichbar. Eine eingehende Untersuchung der für Tanzania verfügbaren Angaben zur aktuellen Nutzungsverteilung und zu den Potenzialen landwirtschaftlicher Flächenexpansion ergibt: die aktuell genutzte Fläche wird in den offiziellen Statistiken, auch jenen der FAO, durchgehend zu gering eingestuft.
Erstens wird in fast allen verfügbaren Statistiken zur Flächennutzung die Shifting Cultivation (Rotationsfeldbau) unterschlagen. Tatsächlich entspricht die in einem Jahr genutzte Fläche nicht der insgesamt für die notwendigen Brachezeiten erforderten landwirtschaftlichen Fläche. Letztere übersteigt die jährlich genutzte Fläche um ein Vielfaches. Zweitens wird der Pastoralismus, eine dem semiariden Lebensraum aufgrund ihrer Flexibilität und Mobilität optimal angepasste Nutzungsweise, systematisch diskriminiert und statistisch nicht adäquat erfasst. Drittens gibt es eine Vielzahl an Nutzungen, die weder der Landwirtschaft noch dem Pastoralismus zuzurechnen sind, insbesondere für die arm gemachten Gruppen im ländlichen Raum jedoch eine überlebensentscheidende Bedeutung haben: das Sammeln von Brennholz, Medizinalpflanzen und wild wachsenden Nahrungspflanzen. Schließlich ist viertens immer auch zu fragen, ob die Angaben für „ungenutzte Flächen“ nicht ökologisch sensible bzw. wertvolle Lebensräume beinhalten. Für Tanzania jedenfalls ergibt sich, dass vermutlich keine Flächenreserven für den Ausbau der Exportlandwirtschaft bestehen.
Davon abgesehen sind Investoren nicht an marginalen und deshalb vielleicht „ungenutzt“ aussehenden Flächen interessiert, sondern an fruchtbarem Ackerland. Selbst wo „ungenutzte“ Flächen tatsächlich existieren sorgt das Profitmotiv also dafür, dass die landwirtschaftlichen Investitionen Nutzungskonflikte verschärfen.
Für Äthiopien wäre jedenfalls kritisch zu überprüfen, ob es überhaupt „Flächenreserven“ in Form angeblich „ungenutzten Landes“ gibt. Die Evidenz in anderen Teilen Afrikas, nicht zuletzt in Tanzania, stimmt jedenfalls in hohem Maße skeptisch. Diese Skepsis bestätigt ein neuer Report von FIAN (2011, eigene Übersetzung):
In Äthiopien zum Beispiel wurden alle Landallokationen durch die nationale Investment-Agentur als Allokationen von „Ödland“ ohne vorgängige Nutzer klassifiziert; Hinweise legen jedoch den Schluss nahe, dass einige dieser Flächen für Rotationsfeldbau und Weidewirtschaft während der Trockenzeit genutzt worden sind.
FIAN kommt zum Schluss:
…vorausgesetzt, dass alle ausländischen Investitionen große Flächen betreffen, würde der Anteil der großen landwirtschaftlichen Güter (>10ha) in Äthiopien von 1,4% (Zensus 2001-2002) auf eine Zahl von 17-20% in den nächsten Jahren anwachsen, wenn die Pläne der äthiopischen Regierung realisiert würden. Allerdings bedeutet dies, wie schon zuvor erläutert, empirisch gesehen kaum einen besseren Zugang zu Nahrung für die lokale Bevölkerung.
Hedemanns Artikel zu Äthiopien stellt die große Zahl hungernder Menschen der boomenden Exportlandwirtschaft entgegen. Doch belässt er es bei dem bloßen Kontrast. Ansonsten referiert er lediglich die Regierungsposition, wonach große Flächen „ungenutzt“ seien und, so wird suggeriert, die ausländischen Investitionen ja lediglich das „ungenutzte“ Land für die Landwirtschaft aufschließen – mit etwaigen „Jobchancen“ und einer Erhöhung der inländischen Nahrungsmittelproduktion im Gefolge.
Zwar wird die skeptische Haltung eines Bauern zitiert, doch bleibt der eigentliche Zusammenhang verschleiert: dass für die Mehrheit der Menschen in Ostafrika der direkte Flächenzugang für die eigene Lebenserhaltung ausschlaggebend ist und es keine Hinweise gibt, dass vom Profit motivierte landwirtschaftliche Investitionen die Ernährungssicherheit der lokalen Bevölkerung verbessern.
Hunger: Resultat von Landkonflikten, staatlicher Politik, modernem Patriarchat und kapitalistischer Ökonomie
Ein komplexes Phänomen hat viele Ursachen. Die konkrete Realität ist eine komplexe Realität. Das Konkrete ist, um es in der Sprache von Karl Marx zu sagen, eine „Zusammenfassung vieler Bestimmungen“.
Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen.
stellt Marx in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1857 fest.
Aus einer Sicht, die sich an der menschlichen Emanzipation orientiert, an der Befreiung aus gesellschaftlich bewirktem Leiden, sind unbedingt die gesellschaftlichen von den natürlichen Ursachen eines Problems zu unterscheiden. Auf die Dürre in Ostafrika bezogen ist zu fragen: Geht es um Faktoren der Klimadynamik, die vom Menschen nicht beeinflussbar sind, oder handelt es sich um Faktoren des Umgangs mit der Klimadynamik und der Klimadynamik selbst, die gesellschaftlich sehr wohl beeinflusst und daher auch anders gestaltet werden könnten? Letzteres ist Gegenstand der Debatte um den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel.
Dass nicht bloß die gegenwärtige Dürre die Ursache der Hungerkatastrophe sein kann, ist schon allein daran zu ersehen, dass zum Beispiel in Kenya bereits 2009 10 Mio. Menschen unter Hunger litten, wie man der Studie „Land Grabbing in Kenya and Mozambique“ von FIAN 2010 entnehmen kann.
Die weltweit gesehen größte Zahl an Hungernden hat übrigens Indien, das ausreichend Nahrungsmittel produziert bzw. produzieren könnte: 237 Mio. Menschen waren in Indien 2005-2007 unterernährt.
In Indien hungern Menschen, weil sie sich Lebensmittel nicht leisten können, stellt der Global Hunger Index Report fest (eigene Übersetzung)
berichtet „Japan Time“.
Global gesehen führte wesentlich der Preissprung bei Nahrungsmitteln 2008 dazu, dass die Zahl der weltweit Hungernden plötzlich dramatisch stieg: von 800 Mio. Menschen 1995-1997 auf über 1 Mrd. 2009. Für 2010 schätzte die FAO die Zahl der weltweit Hungernden auf 925 Mio. Menschen. Die Hauptursachen für den Anstieg der Nahrungsmittelpreise seit 2008 sind erstens die Verteuerung von fossilen Inputs für die Landwirtschaft (was vermutlich bereits mit Peak Oil zu tun hat) und zweitens die zunehmende Beanspruchung der landwirtschaftlichen Flächen zur Produktion von Biomasse für Agrotreibstoffe.
Die Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen und natürlichen Faktoren des Hungerproblems drückt auch der Meteorologe Bernhard Pospichal aus. So referiert er Resultate eines Forschungsprojekts zur Dürre in Westafrika, an dem er mitgewirkt hat, und meint, man hätte dabei „Bewusstsein bei der lokalen Bevölkerung“ geschaffen, wonach „Subsistenzlandwirtschaft nicht ausreicht“ und „auch auf Vorrat produziert werden muss“.
Weiters stellt Pospichal fest:
Der Süden Äthiopiens ist von der Dürre ebenfalls schwer getroffen worden. Dort hat sich in den vergangenen Jahren die Landwirtschaft grundlegend geändert. So wurde etwa aufgrund ausländischen Investitionen zusehends von einer kleinräumigen auf großflächige Landwirtschaft umgestellt. Das bringt in Summe aber geringere Flächen, die noch der lokalen Bevölkerung zur Verfügung stehen. Ein generelles Problem in der Gegend ist auch das starke Bevölkerungswachstum: Weil mehr Nahrungsmittel nötig sind, gibt es mehr Viehherden, die auch versorgt werden müssen und viel Land brauchen usw.
Dabei sind mehrere gesellschaftliche Ursachen angesprochen, die laut Pospichal dazu führen, dass aus einer Dürre eine Hungerkatastrophe wird: fehlende Vorratshaltung, ausländisch finanzierte Großlandwirtschaft, Bevölkerungswachstum. Allerdings folgt dieses Ursachenbündel einer naturalisierenden und moralisierenden Schablone. Die eigentlichen Ansatzpunkte für eine langfristige Verbesserung der Lage bleiben unsichtbar.
So ist die Vermehrung der Menschen an sich keine Ursache für Hunger. (Laut UN-Prognosen erreicht die Weltbevölkerung 2050 einen Peak von etwa 9 Millarden und wird danach zurückgehen.) Wenn man von dieser globalen auf die regionale Ebene hinabsteigt und sich den Möglichkeiten der Produktion vor Ort widmet, so muss man feststellen: Die Debatte um die „Carrying Capacity“, die ökologische „Tragfähigkeit“ der semiariden Landstriche in Afrika für die Ressourcenansprüche der dort lebenden Menschen ist weitläufig und kontrovers.
Schon die kolonialen Regierungen machten die Hypothese, die Rinderherden der Afrikanerinnen und Afrikaner seien zu groß, die einheimische Landwirtschaft ökologisch destruktiv und das Bewusstsein der indigenen Bevölkerung der Aufklärung bedürftig zu ihrer politischen Maxime. Die britischen und andere Kolonialregierungen führten einen regelrechten Kampf gegen die afrikanischen Methoden des Landbaus und der Viehwirtschaft, der vorrangig ökologisch, mit dem Schutz vor Erosion begründet wurde. Zu dieser Zeit – bei weit geringerer Bevölkerungsdichte als heute – wurde das in bestimmten Kreisen gängige Bild der „Überbevölkerung“ und damit angeblich einhergehender „Übernutzung“ zu einem wichtigen Moment des herrschaftlichen Diskurses.
Ein Blick auf die Weltkarte des ökologischen Fußabdrucks pro Land für das Jahr 2007 (siehe unten) zeigt, dass in Afrika mit Ausnahme Libyens, von Zimbabwe und Mauretanien kein Land im Durchschnitt betrachtet auf „großem Fuß“ lebt. Je dunkler der Rotton in der Karte, desto größer ist nämlich der ökologische Fußabdruck pro Kopf. Es ist vielmehr der globale Norden, der die Biokapazität der Erde übermäßig beansprucht – darunter die Ressourcen Afrikas. Anzumerken ist, dass es in Libyen und den wenigen anderen Ländern in Afrika, die einen etwas größeren Fußabdruck aufweisen, nicht die breite Mehrheit ist, die über ihre Verhältnisse lebt, sondern dass es die wenigen Reichen sind, die den durchschnittlichen „Fußabdruck“ dieser Länder nach oben treiben – relativ geringfügig allerdings, wenn man den globalen Norden im Vergleich dazu betrachtet.
Die Karte im Anschluss (siehe links) zeigt, wie groß der ökologische Fußabdruck im Verhältnis zur Biokapazität eines Landes aussieht. Je grüner eine Region, desto weiter ihr ökologischer Spielraum. Die fast transparent bis hellbraunen Regionen bilanzieren ausgeglichen. Regionen mit dunklen Brauntönen und hellen bis dunklen Rottönen sind dagegen im ökologischen Defizit, darunter Österreich und Deutschland.
In einer von den naturräumlichen Voraussetzungen her betrachtet hochproduktiven Region (gute Böden, optimaler Niederschlag, optimale Temperatur) können mehr Menschen auf „großem Fuß“ leben als in einer geringproduktiven – sofern man den Austausch von Stoffen und Energie zwischen Regionen mit unterschiedlicher Biokapazität aussschließt (was nur aus methodischer Sicht in der Art einer gedanklichen „Laborsituation“ Sinn macht; ein gutes Leben für alle erfordert dagegen einen mehr oder weniger weit gehenden Stoffwechsel zwischen Regionen und Kooperation).
Man sieht hier wiederum, dass es der globale Norden ist, Österreich, Deutschland und andere Länder, die ein ökologisches Defizit aufweisen, das heißt, über ihre Verhältnisse leben. Sie beziehen Ressourcen aus Ländern im globalen Süden, die Ressourcen jedoch weder freiwillig abgeben noch im Gegenzug den gleichen Zugang zu Wissen und Technologien des Nordens haben. Im Unterschied zu einer emanzipierten Weltgesellschaft ist dieser Austausch (1) nicht kooperativ, sondern konkurrenzistisch und von Herrschaft geprägt. Und er speist (2) einen insgesamt zu großen Konsum, den der globale Norden, insbesondere das dort stationierte Kapital und sein enormer Bedarf an „produktiver Konsumption“ (Investition), verursacht.
Der Kampf der Kolonialregierungen gegen die indigene Produktionsweise entwickelte sich im Rahmen der Ideologie kultureller (oder rassischer) Überlegenheit der westlichen Mächte. Der kolonialistische Diskurs behauptete: Die Afrikanerinnen und Afrikaner agierten irrational, würden aus Unwissenheit gegen ihre eigenen Interessen handeln und könnten daher nur durch Eingriff der Europäer und westliche Aufklärung dazu gebracht werden, ihre selbst verschuldete Armut zu überwinden und „nachhaltig“ zu wirtschaften.
Dass gerade die Kolonisation nicht nur zur physischen Vernichtung von Millionen Menschen führte, sondern für die Überlebenden eine dramatische Verschlechterung der Ernährung und ihrer Lebensgrundlagen bedeutete, blendete die Ideologie der Kolonisatoren freilich aus. So ermordete die deutsche Kolonialregierung im heutigen Tanzania allein im Zuge der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes 1905-1907 schätzungsweise 200.000 bis 300.000 Menschen. Wieviele Menschenleben die damals praktizierte „Politik der verbrannten Erde“ (Verbrennen von Feldern, Zerstörung von Brunnen etc.) kostete ist nicht genau zu rekonstruieren.
Andrew Coulson resümiert 1982 im Buch „Tanzania. A Political Economy“ die historische Evidenz zur Kolonisierung in Tanzania (eigene Übersetzung):
Im Jahre 1920 waren die Menschen wahrscheinlich rückständiger als sie es 1850 gewesen waren. Sie waren schlechter ernährt, industrielle und landwirtschaftliche Fertigkeiten waren verloren gegangen, sie hatten weniger Vieh, und große Gebiete des Landes waren entvölkert. Allen voran hatte die Tse-Tse-Fliege begonnen, sich in jenen Gebieten auszubreiten, wo zuvor Vieh geweidet hatte. In den entvölkerten Regionen nahm die dichte Buschvegetation ungehindert zu, und die Wildtierpopulationen, auf denen die Tse-Tse-Fliege parasitierte, wuchsen.
Tanzania soll hier nur als ein Beispiel für die Folgen der Kolonisierung in Ostafrika dienen.
Der Versuch der kolonialen Regierungen, die mit ökologischen Argumenten begründeten Bewirtschaftungsvorschriften mit Zwang umzusetzen, gerieten zu einem wichtigen Auslöser vieler nationaler Befreiungsbewegungen, etwa in Tanzania und in Kenya. Die postkolonialen Regierungen führten den Kampf gegen die kleinbäuerliche Produktionsweise und das indigene Wissen allerdings in der Regel weiter.
In Tanzania und Äthiopien – um nur zwei Beispiele aus der Region zu nennen – kam es in den 1970er Jahren zu umfangreichen Umsiedlungsprogrammen, wiederum mit entsprechenden Bewirtschaftungsvorschriften. Diese unterbrachen das soziale und ökologische Gewebe der land- und viehwirtschaftlichen Produktion. In Tanzania war das Programm der Zwangsumsiedlung unter dem Banner eines „afrikanischen Sozialismus“ – und in einer Linie mit der Ideologie der Weltbank und anderer „Geber“, die allesamt eine Zusammenfassung der verstreut lebenden Menschen in Dörfer als notwendige Voraussetzung von „Entwicklung“ ansahen – eine der Ursachen für die wachsende Abhängigkeit des Landes von Lebensmittelimporten in den 1970er Jahren und eine rückläufige Produktivität der Landwirtschaft. Die großräumigen Umsiedlungen in Äthiopien, die James Scott in seinem Buch „Seeing Like a State“ beschreibt, waren nicht weniger destruktiv.
Ein von der Kolonialzeit bis heute durchgängiger Konflikt besteht des weiteren zwischen dem Pastoralismus, der nomadisierenden Viehwirtschaft, die in Ostafrika von großer Bedeutung ist, und dem Staat. Die gegenwärtige Landnahme, die seit 2008 eingesetzt hat, verschärft diesen Konflikt weiter. Der Staat versucht, die Pastoralistinnen und Pastoralisten zur Sesshaftigkeit zu zwingen, manchmal mit bloßem Druck, manchmal mit offener Gewalt. Menschen ohne festen Wohnort und auf permanenter Wanderschaft entziehen sich der politischen Kontrolle. Die „Autonomie der Migration“ ist daher jedem Staat ein struktureller Dorn im Auge.
Auch die zuerst unter sozialistischem, dann unter neoliberalem Banner betriebene Ausweitung großflächiger Produktion in der Land- und Viehwirtschaft behindert die Mobilität der pastoralistisch lebenden Menschen. Sie unterbindet die Nutzung von Wanderkorridoren, Wasserstellen und Rückzugsgebieten für die Trockenzeiten und verhindert die flexible, den jeweiligen klimatischen Bedingungen angepasste Verlagerung der Viehbestände. Sofern sich die Viehbestände in der Folge räumlich stärker konzentrieren, kann dies schließlich in der Tat zu Bodenerosion führen und das Infektionsrisiko steigt. Damit führen die staatliche Politik und der Versuch, eine kapitalistische Land- und Viehwirtschaft auszuweiten zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Dürre.
Die erzwungene Sesshaftigkeit der nomadisierenden Pastoralisten bewirkt (trotz mancher Vorteile der Sesshaftigkeit bzw. der Landwirtschaft) vermehrte Unterernährung und verschlechtert den menschlichen Gesundheitszustand, wie Elliot Fratkin in einem Artikel für die „African Studies Review“ 2001 mit dem Titel „East African Pastoralism in Transition“ feststellt:
Unsere Studien der Rendille zeigen, dass die Sesshaftwerdung von Pastoralisten zu einem Niedergang der Gesundheit und der Ernährung von Frauen und Kindern führt, sogar wenn sie Landwirtschaft aufnehmen.
Der höhere Milchkonsum (und damit insbesondere die höhere Proteinzufuhr) der nomadisierenden Gruppen sichert laut Fratkins Untersuchung sogar bei Dürre eine ausreichende Ernährung, auch für die Kinder, während die sesshaften Gruppen selbst bei Aufrechterhaltung ihrer Herden schon allein durch die große Distanz zwischen den ortsfesten Haushaltsmitgliedern (vorwiegend Frauen und Kinder) und den mobilen (männlichen) Hirten einen schlechteren Milchzugang hatten und daher vermehrt an Unterernährung litten (vor allem Frauen und Kinder).
Dass für diesen Zusammenhang auch das patriarchale, in der Ausrichtung auf den Markt und zunehmende Sesshaftigkeit „modernisierte“ Geschlechterverhältnis ausschlaggebend ist, lässt eine Studie von Elizabeth Edna Wangui vermuten, die unter dem Titel „Development interventions, changing livelihoods, and the making of female Maasai pastoralists“ zu Maasai-Frauen in Tanzania 2008 erschienen ist (in der Fachzeitschrift „Agriculture and Human Values“) (eigene Übersetzung):
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Entwicklungsinterventionen zur Abkapselung der Landnutzung, zu Sesshaftigkeit, neuen Arten des Zugangs zu Weidegründen in der Trockenzeit, neuen Landnutzungsformen, neuen Viehrassen und zu einem erhöhten Schulbesuch der Kinder geführt haben. Im Kontext dieser Veränderungen im Lebensunterhalt und zunehmender Dürre kam es zu einem grundsätzlichen Wandel in den Gender-Rollen der Viehwirtschaft. Im Untersuchungsgebiet tragen Maasai-Frauen mehr zur Viehwirtschaft bei als Männer. Die verschiedenen Versuche, den Sektor der Viehwirtschaft zu moderniseren haben zu einem Verlust der Kontrolle der Milchressourcen durch die Frauen geführt.
Kommen wir schließlich zum Punkt der „ausländischen Investitionen“, die Pospichal als Hungerursache anspricht.
Dass „aufgrund ausländischen Investitionen zusehends von einer kleinräumigen auf großflächige Landwirtschaft umgestellt“ worden ist, was Pospichal als eine Ursache der Hungerproblematik in Äthiopien ansieht, ist als solche noch keine zureichende Erklärung. Ob eine Investition von Kapital ausländischen oder inländischen Charakters ist, spielt für die Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise: die Enteignung der Produzierenden, Krisenhaftigkeit, soziale Ungleichheit und die strukturell bedingte Bewusstlosigkeit gegenüber den natürlichen Produktionsbedingungen keine Rolle. Auch die Dimensionierung landwirtschaftlicher Betriebe ist als solche kein Kriterium für eine sozial und ökologisch wünschenswerte Produktionsweise.
Erneut bleibt in dieser Perspektive unsichtbar, worum es eigentlich geht: ob nämlich die Produzierenden selbst auf gleicher Augenhöhe über ihre Produktion bestimmen, nach Maßgabe konkreter Ziele der Bedarfsdeckung – oder ob das herrschaftliche Management des Kapitals darüber bestimmt, was Lohnabhängige auf Plantagen oder Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Vertragsverhältnissen (Contract Farming) produzieren müssen, um den Profit eines Unternehmens zu vermehren.
Ein wesentlicher Faktor des langfristigen Hungerproblems in Afrika ist die Ausbildung eines modernen Patriarchats, das mit der Ausweitung der Marktbeziehungen in Verbindung steht. Diese Hungerursache ist auch in der entwicklungspolitischen Literatur kaum beleuchtet, jedoch offenbar wesentlich. Die Analyse statistischer Daten etwa in Tanzania ergibt, dass Unterernährung keinen engen statistischen Zusammenhang mit dem Einkommen zusammenhängt (Geier 1992, Leach und Kilama 2009). Lediglich in den obersten Einkommensgruppen sinkt die Unterernährung signifikant. Sie hängt auch nicht mit der lokalen Nahrungsmittelproduktion zusammen: in Tanzania sind die Regionen mit Nahrungsmittelüberschüssen auch jene mit einem relativ hohen Anteil an Unterernährung.
Einfache und im ersten Moment scheinbar einleuchtende Erklärungen, dass schlicht zuwenig Nahrung produziert werde oder die Menschen über zu geringe Einkommen verfügen, wie etwa in diesem „Standard“-Artikel „Rechnen gegen die Hungersnot“ (27.7.) anklingt, verfehlen den eigentlichen Ursachenkomplex. (Der besagte Artikel setzt noch dazu einen positiven Bezug auf den Anbau von Biofuels, die angeblich den Hunger reduzieren, wo doch tatsächlich das Gegenteil der Fall ist.)
Das moderne Patriarchat als Hungerursache
Eine hervorragende, detaillierte Fallstudie zu den Ursachen des Hungers in Tanzania veröffentlichte Gabriele Geier 1995 unter dem Titel „Food Security Policy in Africa between Disaster Relief and Structural Adjustment“. Sie zeigt, wie die traditionelle patriarchale Arbeitsteilung der bäuerlichen Haushalte in Tanzania im Verlauf der Ausweitung der Marktwirtschaft überprägt wird und (im Zusammenspiel mit makroökonomischen Faktoren) zu einer Ausbreitung von Unterernährung führt.
In Tanzania spielt die kapitalistische Produktionsweise (die auf Lohnarbeit beruht) keine entscheidende Rolle. Diese Produktionsweise dominiert jedoch global und prägt daher die nicht-kapitalistischen Verhältnisse in Tanzania indirekt, insbesondere über den vermehrten Zwang zu Geldeinkommen (unter anderem durch den Staat bedingt) sowie eine Reihe von weiteren Faktoren wie etwa den Verlust von Flächen an die kommerzielle Landwirtschaft und (in Tanzania ausgesprochen flächenwirksam) „Natur“-Schutzgebiete für den Tourismus.
Dies gilt für den größten Teil des subsaharischen Afrika mit Ausnahme von Südafrika, wo die kapitalistische Produktionsweise relativ stark entwickelt ist. Afrika insgesamt erfährt der Tendenz nach eine Vermarktwirtschaftlichung ohne dass die kapitalistische Produktionsweise in einem größeren Umfang expandiert. Lohnarbeit stellt einen zwar zunehmenden, aber nach wie vor untergeordneten Teil der gesellschaftlichen Tätigkeiten dar. Vor allem entstand bislang kein Proletariat in größerer Dimension. Nur relativ wenige Menschen sind bisher dauerhaft und vollständig vom Zugang zu Produktionsmitteln wie Land und Saatgut abgeschnitten worden. (Das droht sich im Zuge des globalen Land Grab nun zu ändern.)
Die Ausweitung der Produktion für den Markt wird erstens durch die Notwendigkeit erzwungen, Steuern abzuliefern, Schuldgeld zu bezahlen sowie andere Ausgaben für lebens- und statuswichtige Güter und Dienstleistungen, insbesondere auch Gesundheitsausgaben zu tätigen (Medikamente, ärztliche Behandlung sowie Versorgung und Pflege von Angehörigen), die im Zuge von HIV/AIDS und der Liberalisierung des Gesundheitswesens steigen.
Zweitens führt die zunehmende Verarmung im Zuge der neoliberalen Strukturanpassung dazu, dass die Landwirtschaft unter Arbeitskräfteknappheit leidet und sich zugleich marktorientierte Aktivitäten außerhalb der Landwirtschaft ausweiten. Diesen im Ganzen gesehen ziemlich komplexen Zusammenhang hat Sara Berry in ihrem Buch „No Condition is Permanent. The Social Dynamics of Agrarian Change in Sub-Saharan Africa“ (1993) eindrucksvoll analysiert: Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen und sich gegen zunehmende politische und ökonomische Risiken abzusichern führt zu einer Diversifizierung des Lebensunterhalts, vor allem zu einer Zunahme der auf Geldeinkommen (anstelle von Subsistenzproduktion) ausgerichteten Aktivitäten außerhalb der Landwirtschaft.
Familienmitglieder, die etwa in der Stadt Lohnarbeit suchen oder als Kleinhändler arbeiten, stehen dann nicht mehr für die landwirtschaftlichen Arbeitsspitzen zur Verfügung. Die durch die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise und die neoliberale Restrukturierung zunehmende ökonomische Unsicherheit führt dazu, dass die Menschen immer mehr in die Aufrechterhaltung zunehmend volatiler und prekärer sozialer Netzwerke und ihrer Optionen des Überlebens investieren müssen – an Zeit, Geld und anderen Ressourcen. Die an sich knappen Ressourcen können so nicht in eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität rückgeleitet werden.
Die zunehmende Kommerzialisierung der sozialen Beziehungen unterminiert weiters die traditionellen Formen der Kooperation in der Arbeit, etwa die früher bedeutenden „work parties“ und „beer parties“. Dabei kommt eine größere Zahl an Menschen zusammen, um ein Feld zu bestellen und Arbeitsspitzen gemeinschaftlich zu bewältigen. Diese Institutionen befinden sich heute in Auflösung, auf sie greifen zusehends nur mehr die arm Gemachten zurück, womit das frühere Netz der Reziprozität zwischen besser und schlechter gestellten Haushalten zerreißt. (Dies stellt überblicksmäßig an ausgewählten Beispielen für den subsaharischen Raum Sara Berry fest; eine Detailstudie gibt Seppälä 1998 im Buch „Diversification and Accumulation in Rural Tanzania“; eine Fallstudie mit regionalem Bezug ist bei Ponte 2000 unter dem Titel „From Social Negotiation to Contract“ in der Fachzeitschrift „World Development“ nachzulesen.)
Arbeitsknappheit bedeutet in einer arbeitsintensiven (geringproduktiven) Landwirtschaft wie sie in Tanzania (und im ganzen subsaharischen Raum) dominiert, eine absolute Begrenzung der Menge an Nahrung, die produziert werden kann. Vorratshaltung, wie sie der Meteorologe Pospichal empfiehlt, ist den afrikanischen Bäuerinnen und Bauern – wie man ohne eurozentrischen Blick ja auch erwarten kann – sehr wohl bekannt. Es ist jedoch ein hartes Faktum der niedergehenden afrikanischen Gesellschaften, dass sich die arm gemachten Schichten eine Vorratshaltung schlicht nicht leisten können. (Es bestünde zwar der Spielraum, die Ausgaben des männlich-patriarchalen Status- und Geselligkeitskonsums zu reduzieren; siehe dazu unten. Die Problematik der patriarchalen Arbeitsteilung kann damit jedoch nicht bearbeitet werden.).
Sie müssen gleich nach der Ernte einen Teil ihres (geringen) Ertrags verkaufen, um notwendige Geldausgaben zu tätigen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Angebot, da sich viele Produzenten in einer solchen angespannten Situation befinden, freilich groß und der Preis daher relativ niedrig. Die reicheren, verstärkt kommerziell orientierten Haushalte beginnen zunehmend, in dieser Phase spekulative Käufe zu tätigen. Arm gemachte Haushalte müssen zu späteren Zeitpunkten im Jahr in der Folge Nahrungsmittel zukaufen, zu höheren Preisen. Dieser Mechanismus der Marktwirtschaft kann bis zu intensiven schuldenbedingten Abhängigkeitsbeziehungen führen.
Sobald ein armer Haushalt dazu übergehen muss, auf den Feldern reicherer Haushalte im Austausch für Geld oder Naturalien zu arbeiten – was gerade das Überleben sichert, wenn überhaupt – kann er sich allerdings noch weniger als schon zuvor der eigenen Landwirtschaft widmen. Eine Vernachlässigung der Felder bei der Vorbereitung (Pflügen), der Aussaat (suboptimaler Zeitpunkt) oder dem Unkrautjäten bestraft den Produzierenden unweigerlich mit geringeren Erträgen und der Gefahr des Hungers. Damit verstärkt sich die Notwendigkeit, Arbeitskraft zu verkaufen, was wiederum dazu führt, dass die armen Haushalte ihre eigenen Felder nicht optimal bewirtschaften können. An eine Investition von Überschüssen an Zeit oder Geld in eine Erhöhung der Produktivität der eigenen Arbeit ist unter solchen Bedingungen bei der Mehrheit der Bäuerinnen und Bauern ohnehin nicht zu denken.
Dieses Problemmuster der Knappheit von Arbeitskraft in einer arbeitsintensiven Produktionsweise mit zahlreichen ökologischen Risiken wird entscheidend durch die patriarchale Geschlechterspaltung bestimmt.
Erstens konsumieren die Männer zwar, tragen jedoch nicht im selben Ausmaß wie die Frauen zur Produktion und Reproduktion bei. So stellt etwa Shimba als ein Beispiel für viele andere im Artikel „Women, weeding and agriculture in Iringa Region, Tanzania“ fest:
Frauen leisten 60-80% der Arbeit in der Landwirtschaft.
An diesem sozialen Faktum besteht angesichts der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur kein Zweifel. (Die Überlastung der Frauen in der Landwirtschaft hat übrigens, das sei anekdotisch erwähnt, auch der charismatische Präsident Julius Nyerere, der Tanzania in die Unabhängigkeit führte, betont.). Die hochgradig asymmetrische Arbeitsaufteilung in der agrarischen Produktion muss man ins Verhältnis mit einem zweiten Faktum setzen, dass nämlich rund 80% der Menschen in Tanzania von der Landwirtschaft abhängen. (In den meisten anderen Regionen Ostafrikas befindet sich das Ausmaß der Abhängigkeit von der Landwirtschaft in einer ähnlichen Größenordnung.)
Der wesentliche Teil der Reproduktion und Produktion der Gesellschaft wird folglich von den Frauen geleistet, und zwar bis an die Grenzen ihrer physischen Belastungsfähigkeit. Die Überbelastung der Frauen durch die Männer ist eines der Kernprobleme der vergleichsweise geringen und angesichts des steigenden Drucks politischer, ökonomischer und gesundheitlicher Stressoren weiter absinkenden Produktivität der Arbeit.
Zweitens verfügen die Männer entweder über alle Geldeinkommen oder über den größten Teil bzw. dominieren die Entscheidungen über die Geldausgaben. Die modern-patriarchale Aufspaltung des Lebens in „Wert“ und „Nicht-Wert“, „Geld“ und „Subsistenz“ und die Verknüpfung der Geldsphäre mit dem männlichen Geschlecht zeigt hier ihr hässlichtes Gesicht. Die Prioritäten der Männer sind in dieser patriarchalen Struktur – dem Imperativ von Konkurrenz, Männerbündelei und monetär bestimmtem Status folgend – deutlich andere als die Ernährung der Kinder und die Erleichterung der landwirtschaftlichen Arbeit der Frauen, das heißt der Steigerung der Produktivität der Arbeit in der Landwirtschaft und der Erhöhung von Ernährungssicherheit.
Geiers Untersuchung, die den patriarchalen Zusammenhang eingehend analysiert, ergibt (eigene Übersetzung):
Diese Studie bestätigt, dass in einer Gesellschaft, die sich im Übergang von einer subsistenzdominierten zu einer mehr marktorientierten Produktionsweise befindet, die Geldeinnahmen nicht für den Kauf von Nahrung verfügbar sind. Es ist festzustellen, dass bei einem höheren Niveau von Geldeinkommen sich die Entscheidungsstruktur anfänglich zu Ungunsten der Nahrungskonsumption der Familie verschiebt.
(Geier unterstellt, dass sich die subsistenzgeprägte Produktionsweise im Zeitverlauf in eine vollgültige Marktwirtschaft mit vorherrschender Lohnarbeit wandelt bzw. die Einkommen der Haushalte im Zeitverlauf zunehmen. Deshalb meint sie, entgegen einer realistischen Einschätzung der in der Mehrfachkrise des Kapitalismus zu erwartenden Entwicklungsoptionen Afrikas, dass die oben genannte Einkommensallokation nur „anfänglich“ zu Ungunsten der Nahrungskonsumption erfolgt.)
Das ebenso schlichte wie brutale Resultat: Die Frauen haben aufgrund ihrer Überbelastung keine Zeit und keine Kraft, ausreichend Nahrung für die Kinder zuzubereiten. Oftmals reicht es bei Arbeitsspitzen in der Landwirtschaft nur für eine Mahlzeit am Tag. Zudem wird meistens keine eigene Mahlzeit für die Kinder gekocht. Für sie ist die Ernährung der Erwachsenen jedoch suboptimal. Insbesondere für Kinder unter 5 Jahre ist dies die Hauptursache für Unterernährung (die sich in späteren Lebensabschnitten aufgrund der gesundheitsschädigenden Wirkung als eine weiter verringerte Produktivität der Arbeit niederschlägt). Während Männer eine in bestimmten Jahresabschnitten unzureichende Kalorienzufuhr mit Bier kompensieren, tragen die Kinder unausweichlich den Hauptschaden der patriarchalen Konsumweise. Die Arbeitsüberlastung der Frauen führt darüberhinaus dazu, von der ernährungsphysiologisch günstigeren, jedoch arbeitsintensiveren Hirse auf Mais umzustellen.
Geier fasst zusammen:
Nachdem die längere Arbeitszeit der Frauen in der Landwirtschaft weder durch arbeitssparende technische Innovationen noch durch einen adäquaten Anstieg der Teilnahme von Männern bei bestimmten Arbeitsschritten kompensiert worden ist, gibt es für die Frauen keine andere Alternative als die Arbeitslast und den Zeitaufwand für Herstellung und Zubereitung der Nahrung zu reduzieren.
– und stellt fest:
In der Regel werden die Bedürfnisse der Männer zuerst befriedigt, wobei der Bierkonsum einen wichtigen Teil einnimmt. Investitionen in Vieh, die Reparatur der Pflüge und der Ankauf landwirtschaftlicher Inputs sind zweitrangig. Die Frage nach Investitionen zur Erleichterung der Arbeitslast der Frauen wird nicht gestellt. Investitionen in nicht-landwirtschaftliche Aktivitäten (die Eröffnung eines Geschäfts oder einer „pombe“-Bar (Bier-Bars) oder der Ankauf einer Mühle) haben Vorrang.
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt Sara Berry in ihrem Review von Fallstudien zum Wandel der Landwirtschaft im subsaharischen Raum („No Condition is Permanent“). Sie zeigt weitere Facetten der Problematik der patriarchalen Arbeitsteilung, die durch die Kommerzialisierung verschärft („modernisiert“) wird, auf.
So erfordern ertragreiche, moderne Sorten auch mehr Arbeit, insbesondere wenn vermehrt gepflügt werden muss um das höhere Ertragspotenzial der modernen Hochleistungssorten auch zu realisieren oder um – dem kommerziellen Motiv folgend – eine möglichst große Fläche mit den ertragreicheren Sorten zu bebauen. (Dazu kommt, dass die Hochertragssorten sehr empfindlich auf suboptimale Aussaatzeitpunkte reagieren – im Unterschied zu den weniger arbeitsintensiven und flexibleren, den volatilen sozialen Verhältnissen daher angemesseneren traditionellen Sorten.) Im Kontext der patriarchalen Arbeitsteilung wird die für den erfolgreichen Anbau der Hochleistungssorten notwendige Zusatzarbeit den Frauen aufgebürdet.
So kommt es, dass die durch den Einsatz von modernem Hochertragssaatgut vermehrten Erträge mit einer Zunahme der Unterernährung einhergehen. Sara Berry stellt auf Basis von Studien zu drei Regionen in Zambia fest (eigene Übersetzung):
Bauern, die Ochsen und Pflüge kauften, bebauten mehr Land mit Mais und benötigten daher mehr Arbeitskraft um das Unkraut zu jäten und die Ernte einzubringen (Francis, 1988: 39). Insoweit die Last der Zusatzarbeit in den bäuerlichen Haushalten überproportional den Frauen aufgebürdet wurde, führte die Ausbreitung des Hybridmais vermutlich auch zur Zunahme von Wohlfahrtsdifferenzen innerhalb der Haushalte. Studien des IRDP in Serenje, Mpika und Chinsali ergaben, dass die Unterernährung bei Kindern positiv mit der Menge an Mais korreliert war, die die Haushalte verkauften (zitiert in Moore und Vaughan, 1986: 536-37; siehe auch Geisler, 1985: 19). In anderen Worten, die Einführung von Ochsen und Pflügen hat offenbar die Bedingungen wiederhergestellt, die Richards (1939) während der weltweiten Rezession in den 1930er Jahren festgestellt hat, als die ländlichen Haushaltsmitglieder während der Hirse-Ernte häufig Hunger litten, weil die Frauen schlichtweg zu erschöpft waren um Mahlzeiten zuzubereiten (Moore und Vaughan, 1987: 538).
Der buchstäblich todbringende Charakter des modernen, das heißt: des kommerzialisierten, zusehends an der Produktion für den Markt ausgerichteten Patriarchats verschärft sich noch einmal mit der fortlaufenden neoliberalen Strukturanpassung seit den 1980er Jahren. Nicht nur durch eine Erhöhung der notwendigen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und andere Posten, sondern auch durch die steigenden Preise früher subventionierter landwirtschaftlicher Inputs und einen in der um sich greifenden Konkurrenz wachsenden Prestigekonsum (der Männer) (siehe Ponte’s Artikel, Zitat oben).
Dies führt zu einem deutlichen Shift von langsam wachsenden Feldfrüchten zu rasch reifenden Kulturen, die einen größeren und ausgeglicheneren cash flow ermöglichen. Rasch reifende Feldfrüchte benötigen jedoch mehr Arbeit in kürzerer Zeit. Die intensivierten Arbeitsspitzen der vermehrt am Markt orientierten Produktion verschärfen noch die Überlastung der Frauen und die Differenzierung der Haushalte in arm und reich. Während die reicheren sich Arbeitskräfte leisten können, sind die ärmeren gezwungen, sich für die Arbeit auf den Feldern anderer zu verkaufen (gegen Geld oder Naturalien) und vernachlässigen notgedrungen ihre eigenen Felder, was die Spirale der sozialen Polarisierung, Verarmung und zunehmender Gefährdung durch Hunger verstärkt.
Hungernde Viehzüchter: Kommerzialisierung und staatliche Mobilitätsbeschränkungen
Gerade in Somalia und Äthiopien, aber auch in Kenya oder Tanzania spielt der Pastoralismus eine große Rolle. In Somalia leben schätzungsweise 60% der Menschen als Nomaden, nur etwa 25% als Bauern. Der oben zitierte Bericht von Oxfam (2008) fasst die große Bedeutung dieser Produktions- und Lebensweise so zusammen (eigene Übersetzung):
Die trockenen und pastoralistisch genutzten Regionen in Ostafrika nehmen über 70% des Horns von Afrika ein. Der entsprechende Flächenanteil beträgt 90% der gesamten Landesfläche von Somalia und Djibouti, mehr als 80% in Kenya, 60% in Uganda, und 30-60% in Tanzania. Kenya ist Heimat von geschätzt 4 Mio. Pastoralisten, das sind mehr als 10% der Bevölkerung. In Uganda stellen Pastoralisten 22% der Einwohner, etwa 5,3 Mio. Menschen. In Tanzania, so wird geschätzt, ist die pastoralistische Ökonomie die Basis des Lebensunterhalts von fast 4 Mio. Menschen, das sind 10% der Gesamtbevölkerung. Der Pastoralismus ist das effektivste System des Lebensunterhalts in dieser Trockenregion und somit ohne Zweifel von entscheidender Bedeutung für den größten Teil der Landmasse Ostafrikas und den Wohlstand von Millionen Menschen, die dort leben.
In einem erhellenden Aufsatz „The impact of environmental and political influences on pastoral conflicts in Southern Ethiopia“ hat Temesgen 2010 dargestellt, wie im Leben der Pastoralistinnen und Pastoralisten aus Dürre Hungerkatastrophen, Verelendung und Gewalt werden. Es ist nicht allein die Dürre, die zu Hunger führt.
Eingangs hält Temesgen in seinem Artikel fest (eigene Übersetzung):
Obwohl Konflikt schon immer Teil des Lebens der Menschen in ariden und semi-ariden Gebieten war, hat die Häufigkeit, Intensität und Zerstörungskraft der Konflikte zugenommen wie nie zuvor.
Temesgen zufolge sind für die anwachsenden Konflikte zwei Faktoren ausschlaggebend: einerseits der Klimawandel, der zu vermehrten Trockenperioden führt; andererseits der politische und ökonomische Kontext, der eine fortschreitende Kommerzialisierung der sozialen Beziehungen, ihre Ausrichtung auf den Markt, bedingt. Private Investoren hegen Gemeingüter ein, von denen die Pastoralisten traditionell leben und verschärfen damit die Konkurrenz um Land und Wasser. Als Investoren treten beileibe nicht nur staatliche Akteure oder ausländische Unternehmen auf, sondern die Eliten der pastoralistischen Gruppen selbst. Die treibende Kraft der Ausweitung privater Investitionen in der Gestalt von Ranches – entweder in privater oder in kooperativer Form – die den Pastoralisten Land streitig machen, ist übrigens der steigende globale Fleischkonsum, der aus der Orientierung am Ernährungsstil der kapitalistischen Zentren resultiert.
Für die anwachsende Fleischnachfrage spielt übrigens wiederum die patriarchale Gesellschaftsstruktur eine wichtige Rolle; vgl. dazu etwa Jeremy Rifkins „Das Imperium der Rinder“. Fleisch ist mit marktwirtschaftlichem Erfolg und „Männlichkeit“ konnotiert; Frauen werden auch im globalen Norden symbolisch weniger stark mit Fleischkonsum assoziiert als Männer und konsumieren auch weniger Fleisch, obwohl Frauen rein biologisch gesehen am ehesten einen gewissen physiologisch bedingten Fleischbedarf hätten. Dem Wikipedia-Eintrag zu „Fleisch“ ist zu entnehmen:
Der durchschnittliche Verzehr von Fleisch-/erzeugnissen und Wurstwaren bei Männern lag laut Umfragen des Max-Rubner-Instituts 2005-2006 bei geschätzten 103 g pro Tag und bei Frauen bei 53 g pro Tag
Ein weiterer wichtiger Faktor für die Intensivierung der Konflikte ist, um die Liste komplett zu machen, die ethnisierte Politik in Äthiopien. (Darauf wird weiter unten noch eingegangen.)
Die Borana, eine pastoralistisch zwischen Südäthiopien und Nordkenya lebende Gruppe, die Temesgen in einer Fallstudie untersucht hat, verfügen über eine mündlich tradierte Geschichte von Dürren, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Die Borana meinen, dass Dürren in der Gegenwart häufiger als früher vorkommen. Darüberhinaus sind die Regenfälle kürzer geworden. Wissenschaftliche Klimamessungen aus denm 20. Jahrhundert bestätigen einen Trend langfristig zunehmender Dürreperioden. Dies führt zu anwachsendem Umweltstress für die nomadisierenden Viehzüchter.
Allein im Jahr 2006 führte eine anhaltende Dürre zum Verlust von rund 70 Prozent des Viehbestands der Pastoralisten am Horn von Afrika.
Sobald der Viehbestand einmal dezimiert ist und sonstige Puffer aufgebraucht worden sind, bringt eine zeitlich begrenzte Dürre einen lang anhaltenden Verlust an Wohlstand mit sich. Die Folgen einer Dürre sind weit über ihr klimatologisches Ende hinaus für die Menschen fühlbar.
Der Vergleich zwischen Klimadaten und der Anzahl von Konflikten erlaubt eine Antwort auf die Frage, ob Dürren mit zunehmenden Konflikten einhergehen. Tatsächlich gibt es bei den Borana keinen solchen Zusammenhang. Dennoch sind abnehmende Ressourcen ein wichtiger Auslöser von Konflikten.
Trotz der oben genannten Beispiele für Konflikte, die aus der Konkurrenz um Ressourcen resultieren, gibt es lokale Faktoren, die das Auftreten von Konflikten aufgrund von Ressourcenverknappungen abschwächen. Traditionelle Institutionen, die sich über Jahrhunderte der Anpassung an eine rauhe Umwelt entstanden, sichern den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Beziehungen zwischen Gemeinschaften, die in verschiedenen ökologischen Zonen über große Distanzen hinweg leben. So wird das Risiko, Dürre und Krankheiten ausgesetzt zu sein, verteilt. Die Beziehung zu einem benachbarten Clan oder einer benachbarten ethnischen Gruppe sichert das Überleben der Gemeinschaft.
fasst Temesgen zusammen und gibt den folgenden Überblick über die traditionellen Institutionen der Konfliktregelung im Fall knapper Ressourcen bei den Borana und ihren Nachbargruppen:
Die Institution der Konfliktlösung ist eng mit der Institution des Ressourcenmanagements verknüpft. Wann immer zwei Gruppen für dieselbe Ressource konkurrieren und in Konflikt kommen, wird das Gadaa-System angewandt, um ihn zu lösen. Insoweit anhaltende Dürren und Umweltdegradation die Verfügbarkeit guter Weiden reduziert haben, kommt es in Perioden der Knappheit von Ressourcen zu Spannungen. In Situationen unzureichender Weideflächen führen die Viehzüchter ihre Herden traditionell in die Gebiete mit ausreichenden Wasser- und Weideressourcen und verhandeln Weiderechte. Die Entscheidungen werden auf Basis des verfügbaren Futters und der Stückzahl an Vieh getroffen, die diese Gebiete bereits nutzen.
Es gibt verschiedene Formen des institutionellen Arrangements, wodurch die Borana Ressourcen mit benachbarten ethnischen Gruppen teilen. Einige dieser Institutionen helfen den Borana bei kovariaten Schocks (die die ganze Gemeinschaft betreffen), indem sie Beziehungen zwischen Gemeinschaften aktivieren, die in unterschiedlichen ökologischen Zonen angesiedelt und nicht durch das gleiche ungünstige Klima oder die gleiche Krankheit betroffen sind. Andere Institutionen wiederum fungieren als Sicherheitsnetze für einzelne Haushalte, wenn Schocks idiosynkratisch auftreten (also auf bestimmte Haushalte einer Gemeinschaft beschränkt bleiben), indem Vermögensbestände von den relativ gut situierten Haushalten zu den mit dem Überleben kämpfenden umverteilt werden. Die Bereitstellung von Vieh durch die reicheren Haushalte an jene ohne Vieh erhält Frieden und Stabilität innerhalb der Gemeinschaft.
Temesgen beschreibt detailliert, wie die Borana bei Dürre traditionell die Unterstützung anderer Gruppen aus benachbarten ökologischen Zonen anfragen und damit ihr Risiko abfedern können. Umgekehrt erlauben die Borana den Nachbargruppen unter bestimmten Bedingungen ihre Weidegründe und Wasserstellen zu benutzen. Sie leisten auch Verteidigungsdienste. Solche Beziehungen der Reziprozität zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen in benachbarten ökologischen Zonen bestehen zum Teil auch noch in der Gegenwart. Wenn Konflikte zwischen Gruppen ausbrechen, die üblicherweise reziproke Beziehungen pflegten, so ist dies somit ein Zeichen, dass die traditionellen Institutionen des Ressourcenmanagements und der Konfliktregelung angesichts überwältigender Stressoren zu zerbrechen beginnen.
Ein solcher Stressfaktor ist der Staat. Er fördert private Investitionen in die Fleischproduktion und betreibt eine ethnisierte Politik. Die staatlichen Versuche, die Pastoralisten sesshaft zu machen, sind ein weiteres politisches Moment, das die traditionellen Modi des Ressourcenmanagements, die gerade auf der Mobilität beruhen, unterminierte. Die Schaffung fixer ethnischer Identitäten, zuerst durch den Kolonialismus, dann die postkolonialen Staaten, schwächt die traditionellen Institutionen. So erläutert Temesgen:
Der politische Faktor, der dazu führte, dass der inter-ethnische Konflikt eskalierte, war die Politik des ethnischen Föderalismus. Im Bemühen, die Gleichheit aller Nationen und Nationalitäten in Hinblick auf ihr „Recht auf Selbstbestimmung“ anzuerkennen, befeuerte sie den Wettlauf um die Kontrolle der Schlüsselressourcen. Schon das Konzept, ein bestimmtes geographisch definiertes Gebiet einer bestimmten ethnischen Gruppen zuzuweisen, zeigt klar das fehlende Verständnis für die pastoralistische Lebensweise, die auf reziproken Weiderechten beruht (Dida 2008). Obwohl Land immer noch der Regierung gehört, wird eine solche ethnisierte Abgrenzung von Land von den Pastoralisten als das exklusive Zugangsrecht für die relevanten Flächen und alle ihre Ressourcen konstruiert. Folglich haben sich die Ressourcenkonflikte seit 1991 mit dem Bemühen um eine territoriale Kontrolle für politische Zwecke verflochten (Hagmann und Mulugeta 2008). Insbesondere die Eliten der pastorlistischen Gesellschaften, die sich im Staatsapparat verankern, haben ein Interesse daran, ihre Machtansprüche entlang der staatlich definierten ethnisierten Grenzen zu formulieren.
Die Politik des ethnischen Föderalismus hat zu heftigen Konflikten geführt, weil die Gemeinschaften der Grenzregion fluide Identitäten aufweisen und nicht der einen oder der anderen Region zugeordnet werden können ohne die eine oder die andere ethnische Gruppe zu verärgern.
Sara Berry hat in ihrer klassischen Studie „No Condition is Permanent“ überblicksmäßig dargestellt, wie die Kolonialregierungen in Afrika ethnische Identitäten als Herrschaftsinstrument (und aus Unwissenheit) dem Vorbild der modernen europäischen Nationen folgend konstruierten. Der europäische Kolonialismus bildete die Grundlage der ethnisierten Politik, die in der postkolonialen Ära und verstärkt seit der ökonomischen Krise der 1980er Jahre, mit den nachfolgenden neoliberalen Strukturanpassungsprogrammen die Konflikte um Ressourcen prägt. (Mit wenigen Ausnahmen, wie etwa Tanzania, wo im Zuge der neoliberalen Strukturanpassung jedoch ebenfalls ein Anwachsen ethnisierter sozialer Konflikte zu beobachten ist.)
Der Markt verschärft als zweiter Stressfaktor klimatisch bedingte Ressourcenkonflikte in einer Weise, sodass die traditionellen Institutionen sie nicht mehr bearbeiten können. Die Nachfrage nach Fleisch in den arabischen Staaten wächst und dies bildet einen starken Anreiz, Gemeineigentum an Land einzuhegen und Ranches zu errichten. Die äthiopische Regierung behält sich vor, „Ödland“ an private Investoren zu leasen:
Nachdem die Macht, das Land zu klassifzieren bei der Regierung liegt, verloren die Pastoralisten Land, das für die Beweidung in Trockenzeiten reserviert war, an private Investoren (Mariam 2009).
Eine wichtige Kontextbedingung ist die allgemeine Degradation der Umwelt, vor allem die Verschlechterung der Qualität der Weidegründe durch staatliche Interventionen. Traditionell kontrollierten die Pastoralisten die Ausbreitung des Buschs durch den Einsatz von Feuer. Das ist seit den 1970er Jahren verboten, sodass viele Weidegründe an Qualität verloren oder unbrauchbar wurden. Zudem begannen sich durch diese ökologischen Veränderungen Termiten auszubreiten, was die Qualität der Weiden weiter verschlechterte.
Schließlich erhält durch den kommerziellen Anreiz, Vieh zu verkaufen, die Verfügbarkeit moderner Feuerwaffen und die Schwächung traditioneller Institutionen der sozialen Kontrolle und Konfliktregulation der traditionelle Viehdiebstahl eine erheblich brutalisierte und auf fortlaufende Expansion ausgerichtete Dimension. War der Viehdiebstahl traditionell – ökologisch betrachtet – ein Mittel zum Ausgleich von Viehbestandsunterschieden und zur Durchmischung der Populationen, das sozial streng reguliert und dessen Gewalt dementsprechend eingehegt war, so ist der Viehdiebstahl im internationalen kapitalistischen Kontext und der zunehmenden Vermarktwirtschaftlichung der pastoralistischen Beziehungen ein gewinnorientiertes Unternehmen geworden: das ihn inhärente Gewaltpotenzial ist nun nicht mehr sozial eingeschränkt, eskaliert häufig und trägt zur politischen Instabilität der pastoralistisch geprägten Regionen bei. Neuerdings führen auch die zunehmende Verarmung und die fehlenden Lebensperspektiven zu vermehrten Viehdiebstählen.
Diese Prozesse lassen sich in ganz Ostafrika beobachten. Michael Fleisher beschreibt sie im Aufsatz „War is Good for Thieving!“ in der anthropologischen Fachzeitschrift „Africa“ 2002 anhand der Kuria in Tanzania, Jon Unruh am Beispiel dreier pastoralistischer Gruppen in verschiedenen Landesteilen von Äthiopien in „GeoJournal“ (2005) unter dem Titel „Changing conflict resolution institutions in the Ethiopian pastoral commons: the role of armed confrontation in rule-making“.
Gegen die imperiale Lebensweise, für Solidarische Ökonomien
Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt der Überlegungen zur aktuellen Hungerkrise in Ostafrika und ihrer medialen Verarbeitung und Konstruktion am Beispiel zweier Artikel im „Standard“. Betrachten wir den größeren Kontext des Diskurses, der darin zum Ausdruck kommt. Widmen wir uns zuerst dem Interview mit Pospichal.
Dort, wo der Meteorologe Pospichal als Meteorologe auf die Fragen nach den Ursachen der Dürre antwortet, sagt er wohl nichts Falsches. Allerdings vermeidet er es, einiges aus der Klimaforschung auszusprechen, was vielleicht nicht die letztgültige Erkenntnis in der Sache, jedoch der wissenschaftlichen Literatur folgend Stand der Forschung ist.
Dort, wo der Autor des Interviews Pospichal Fragen stellt, wirkt seine eigene Positionierung scheinbar unwichtig, neutral. Allerdings vermeidet er es, bestimmte Fragen zu stellen und stellt andere so, dass er es Pospichal leicht macht, eine Antwort darauf zu geben, die gewisse Aspekte der Hungerproblematik ausklammert: vor allem den Blick auf die eigene Produktionsweise, auf Markt, Kapital, Staat und Patriarchat, wovon die Hungerkatastrophen Afrikas eine Folge sind.
Jene Leserinnen und Leser des „Standard“, die zu diesem Artikel posten, fassen die politische Botschaft des Interviews in der Mehrheit offensichtlich so auf, wie es weder Pospichal noch der Autor offen sagen, durch die Art der Fragen und der Auslassungen in den Antworten aber durchscheinen lassen. Einige Beispiele zur Illustration mögen genügen.
So meint der Leser Anton Friesl:
Die Dürre am Horn von Afrika ist menschengemacht…Aber nicht über den Umweg CO2 und Klimaerwärmung sondern schon seit langer Zeit durch Übervölkerung – Raubbau an den Wäldern – Bodenerosion – Dürre. Das kommt davon, wenn sich Menschen ohne Rücksicht auf ihre Umwelt einfach schrankenlos vermehren. Möglicherweise auch eine indirekte Konsequenz von Missionierung und medizinischer Betreuung.
HLAB27 räsonniert:
mhmmmm schon eigenartig. auf der einen seite wissen wir, dass die überbevölkerung das gravierendste umweltproblem darstellt, andererseits sollte man spenden um noch mehr überbevölkerung zu erzeugen. ich weiss schon dass das zynisch ist. aber mehr menschen in so einer gegend in die welt zu setzen, als sie ernähren kann ist weitaus schlimmer als nur zynisch. das ist unverantwortlich.
Leser Michael Berger hat zusätzlich die Migration in die EU im Auge und meint:
Ob eine Region von Menschen oder Heuschrecken kahl gefressen wird macht keinen Unterschied – die Lebensgrundlagen sind zerstört! Beispiel Äthiopien: um 1900 ca. 6 Mio. Einw., 80 % Wald – 2010 ca. 85 Mio. Einw., 5 % Wald. Eine Änderung der negativen Tendenzen ist nicht absehbar! Der Weisheit letzter Schluß wird dann sein, daß uns mittels Karlheinz Böhm und via ORF eingetrichtert wird, alle diese Leute hätten das unbedingte Menschenrecht ihr Elend zu verlassen um anderswo in der gleichen unverantwortlichen Weise weitermachen zu können. Wo dieses „anderswo“ ist – drei mal dürft Ihr raten. Bei den Ursachen anzusetzen, anstatt Symptome zu bekämpfen, ist wohl zuviel verlangt.
Leser Richard Ebner schlägt in dieselbe Kerbe:
Es hat weder mit Klimawandel noch mit …… Politik zu tun, sondern damit dass die Leute dort laufend zu viele Kinder kriegen, also bei limitierten Ressoucen exponentiell wachsen. Sowas wird am Ende von der Natur geregelt. Früher war es halt nicht bei uns in der Zeitung.
Der springende Punkt, den die Massenmedien umschiffen – und darin sind rechtsextreme wie linksliberale Positionen kaum zu unterscheiden – ist Problematik einer kapitalistischen, patriarchalen, marktwirtschaftlichen und staatlich verfassten Produktionsweise.
In der Tat ist das Verhältnis zwischen kapitalistischen Zentren wie Europa und der Peripherie, zu der Ostafrika zählt (mit regionalen Subzentren wie in Kenya und einer absoluten Peripherie wie Somalia), ein Herrschaftsverhältnis. Es ist kein Naturprodukt, dass Österreich oder Deutschland industriell geprägt sind, und die hiesige Industrie ein hohes Niveau der Produktivität der Arbeit aufweist, während in Ostafrika eine sozial zerrüttete und hochgradig konflikthafte Art der Landbewirtschaftung (Ackerbau und Viehhaltung) die Lebensgrundlage der breiten Mehrheit darstellt.
Dieser lebensentscheidende Unterschied ist allerdings auch kein Produkt des Fleißes oder sonst einer allseits geschätzten Eigenschaft, die den hiesigen Lohnabhängigen oder Unternehmern zugeschrieben wird. (Deren Arbeitslast ist im Vergleich mit afrikanischen Frauen gering). Die industrielle Entwicklung von Österreich und Deutschland beruht wesentlich auf der massenhaften Enteignung-durch-Ermordung und der epidemischen Zwangsarbeit des Nationalsozialismus (Quellen dazu in Exner/Lauk/Kulterer, „Die Grenzen des Kapitalismus“, 2008). Deutschland profitierte zusätzlich von seinen Kolonien in Afrika (dem heutigen Namibia und Tanzania). Insgesamt gesehen war die europäische Entwicklung Motor und Zentrum der Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems, das seit seinen allerersten, noch feudal geprägten Anfängen im 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart auf einem nicht vorstellbaren Transfer von Arbeitskräften und von Ressourcen beruht: von Rohstoffen, Wissen, Saatgut und Produkten.
Der so genannte Fordismus der Nachkriegszeit inklusive seiner „postfordistischen“ Übergangsphase seit den 1980er Jahren beruhte auf der Einbindung der Lohnabhängigen in das Regime der Kapitalverwertung, ein System des wirtschaftlichen Wachstums. Die Zustimmung zu diesen an sich unerträglichen und daher, wie nicht zuletzt die Zwischenkriegszeit gezeigt hatte, politisch ausgesprochen instabilen Verhältnissen war nur über steigenden Warenkonsum zu erreichen.
Der war wiederum nur möglich, wenn man die Arbeiterinnen und Arbeiter der Welt spaltete: in ein Zentrum, das sich billiger Nahrungsmittel, billiger Energie und an allerlei Tand erfreuen konnte; und in eine Peripherie, wo der Staat ein junges und daher noch wenig organisiertes Proletariat oder eine desorganisierte Bauernschaft mit Gewalt zu unterdrücken vermochte. Die „imperiale Lebensweise“ (Uli Brand) der Lohnabhängigen des globalen Nordens wurde zu einer Stabilitätsbedingung des Kapitalismus im Weltmaßstab.
Afrika spielte darin eine Schlüsselrolle in der Aufstiegsphase des Fordismus bis in die 1950er Jahre. Afrika war nicht nur eine wichtige Senke für überakkumuliertes Kapital aus den Zentren, das sich dort in Eisenbahnen, Bergwerken und der interozeanischen Transportinfrastruktur langfristig festlegte und solcheart einer am Ende des 19. Jahrhunderts, zeitgleich mit dem „Scramble for Africa“ unmittelbar drohenden Entwertung entzog. Der Kontinent wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auch zu einer bedeutenden Rohstoffquelle der kapitalistischen Zentren: für organisches Material, insbesondere Fasern und Pflanzenöl, Produkte des „niederen Luxus“ wie Kaffee, Tee und Kakao sowie für Erze.
Mit zunehmender Bedeutung des Erdöls seit den 1950er Jahren, wofür die afrikanischen Kolonien keine Rolle spielten, und der durch es möglich gewordenen breiten Palette synthetischer Produkte, die eine Reihe organischer Rohstoffe ersetzten oder zu ersetzen drohten, verlor jedoch die direkte politische Beherrschung der afrikanischen Territorien ihre Relevanz. Zugleich stiegen der Organisierungsgrad, die Schlagkraft und der Wunsch nach Befreiung bei den Kolonisierten. Die Jahrhundertmitte ging daher mit einer umfassenden Kolonisierung, die sich in Ausläufern noch bis in die 1980er Jahre erstreckte (Zimbabwe wurde 1980 endgültig unabhängig), einher.
Angesichts der Mehrfachkrise von Klimawandel, fossiler Energieversorgung, Kapitalverwertung und politischer Legitimität erhält Afrika jedoch wieder eine neue strategische Bedeutung. Im Unterschied zu den mineralischen und metallischen „Punktressourcen“, deren Ausbeutung und Verschiffung auch eine kleine Guerilla oder ein marodierender Staatsapparat sicherstellen kann, erfordert die Landnahme für die Produktion von „Flächenressourcen“ wie Agrotreibstoffen, Nahrungs- und Futtermitteln, aber auch für spekulative Zwecke einen viel intensiveren Zugriff auf die Fläche selbst (und damit auch eine stabilere politische Herrschaft).
Dies vermehrt zugleich die Bedrohungen für die arm gemachten Menschen in Afrika. Deren institutionelle und kulturelle Anpassungsmechanismen an einen schwierigen Naturraum wurden zuerst von den Kolonialregierungen beeinträchtigt, dann von der postkolonialen Entwicklungspolitik bis in die 1970er Jahre geschwächt und werden schließlich in der jüngsten, neoliberalen Phase von fragmentierenden oder zerfallenden Staatsapparaten und einer immer weiter vordringenden Kommerzialisierung der sozialen Beziehungen zerstört.
Somalia bildet so etwas wie den vorläufigen Endpunkt einer solchen Entwicklung, wo die Auflösung des (insbesondere in pastoralistisch geprägten Gesellschaften immer schon relativen) staatlichen Gewaltmonopols unter marktwirtschaftlich verschärften, patriarchalen Konkurrenzbedingungen zum kriegerischen Dauerzustand wird. Hunger ist unter solchen Bedingungen, die Kolonialismus und Kapitalismus geschaffen haben, in der Tat kein Wunder. Man muss sich schon eher fragen, wie Menschen in diesen Verhältnissen überhaupt überleben können.
Die vorkoloniale Geschichte der in Somalia lebenden Pastoralisten ist dagegen, vielleicht paradox, in gewissem Sinn eine Inspiration für die Frage, wie eine nach-kapitalistische und marktfreie, staatenlose Gesellschaft aussehen kann. Denn die früheren somalischen Gesellschaften sind ein Beispiel für komplexe, hunderttausende Menschen umfassende Zusammenhänge der Konfliktregelung ohne Staat – Gesellschaften des akephalen Typs (siehe dazu Gerhard Hauck, „Gesellschaft und Staat in Afrika“, 2001). Hauck resümiert:
Dass die Auseinandersetzung [um Ressourcen; Anm. A.E.] in einen Kampf aller gegen alle ausartete, wurde durch die erwähnten Machtbegrenzungs- und Konfliktregulierungsmechanismen – den segmentären Lineageorganisationen, die shir-Versammlungen, die reer-Verträge und die guddi-Tribunale – trotz aller Probleme ziemlich effektiv verhindert.
Eine Gleichheit der Geschlechter gab es freilich auch in diesen Gesellschaften nicht.
Der Kolonialismus und das daran anschließende Scheitern der „nachholenden Entwicklung“ unter dem Regime von Siad Barre, das sich zuerst an der UdSSR, dann an den USA orientierte, hatte in Somalia daher einen besonders verheerenden Effekt. Denn das europäische Herrschaftsmodell des Nationalstaats war der akephal-selbstorganisierten Lebensweise der Somali gänzlich fremd. Gerhard Hauck fasst zusammen:
Die katastrophenhafte Entwicklung des postkolonialen Somalia in den 1990er Jahren liegt, wie Jasmin Touati (1997; vgl. auch dies. 1994; Hoering 1994) herausgearbeitet hat, zu großen Teilen darin begründet, dass der koloniale und postkoloniale Staat jene Mechanismen [der akephalen Organisationsweise; Anm. A.E.] im Interesse der Etablierung seines eigenen Gewaltmonopols ihrer Funktionen weitgehend beraubte. Als der postkoloniale Staat dann Ende der 80-er Jahre an seinen inneren Widersprüchen zerbrach, standen unvermittelt keinerlei regulierende Instanzen mehr zur Verfügung. Das logische Resultat waren dem „bellum omnium contra omnes“ sehr nahe kommende Verhältnisse.
Dass das Elend des Hungers weder mit einem Naturphänomen „Klima“ noch mit einer vermeintlichen „Überbevölkerung“ zu tun hat, sondern eine Folge der Herrschaft der kapitalistischen Zentren über die Peripherie ist, wird im Mainstream-Diskurs nicht thematisiert. Denn dann müsste man sich selbst in Frage stellen. Dass die kapitalistische, marktwirtschaftliche, staatlich verfasste und patriarchal strukturierte Produktionsweise den Klimwandel verursacht und die Lebensgrundlagen einer großen Zahl von Menschen zerstört, bleibt im Dunkel der kollektiven Bewusstlosigkeit, geschützt durch die Abwehr gegen eine Einsicht in den brutalen Charakter der eigenen Lebens- und Produktionsweise.
Der Imperialismus war von Anfang an ein Massenprojekt. Ein wesentliches Ziel war die Befriedigung der inneren Widersprüche und sozialen Konflikte in den kapitalistischen Zentren. Diese Funktion hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts noch verstärkt, obwohl der Imperialismus sein koloniales Gewand zumindest für eine gewisse Zeit abgestreift hatte. Die Befriedungsfunktion des Imperialismus gewinnt an den Grenzen des „Umweltraums“ jedoch eine neue Form. Angesichts einer Mehrfachkrise, die in den bestehenden Formen des Herrschens auf mittlere Sicht nicht mehr bearbeitet werden kann, wird er erneut auf breiter Front eliminatorisch.
Die Lohnabhängigen in den Zentren des globalen Nordens nehmen buchstäblich in Kauf, dass Menschen in Äthiopien, Kenya oder andernorts an ihrem Konsum, ihrer eigenen imperialen Lebensweise zugrunde gehen: an einem Klimawandel, den hauptsächlich sie verantworten, weil sie gegen die kapitalistische Produktionsweise nicht rebellieren und sie nicht durch Solidarische Ökonomien ersetzen, sondern sich ihr unterwerfen und bestenfalls religiös anmutende Moralappelle formulieren oder Verzichtsaufrufe, die wirkungslos bleiben, weil Verzicht gerade das Programm der Marktwirtschaft bildet und keine Alternative. Sie nehmen in Kauf, dass Menschen in Ostafrika zugrunde gehen für die Produktion von Agrotreibstoffen zum Betrieb ihrer fälschlich so genannten Automobile, für ihren überbordenden (gesundheitlich nachteiligen) Fleischkonsum (woran sich die Neuankömmlinge in der globalen „Mittelschicht“ orientieren) und eine Nachfrage nach organischen Rohstoffen, die nach Peak Oil wird steigen müssen um das „Plastikmeer“ des Warenspektakels weiter wachsen zu lassen.
Nach dem Scheitern der US-Hegemonie mitsamt ihrer Idee weltweiten wirtschaftlichen Wachstums, Fortschritts und Wohlstands im Namen von Marktwirtschaft und Staatsherrschaft, sollen die Versehrten des globalen Standortskriegs sich selber überlassen bleiben. Somalia ist gerade noch als abschreckendes Beispiel gut, als ein irdisches Höllenfeuer für jene, die sich scheinbar gegen alle Prinzipien ökonomischer Rationalität und staatlicher Ordnung versündigt haben. Man kann ihnen nicht einmal mehr „Hilfe“ schicken, wird beklagt.
Unter den Bedingungen der Entwertungsbewegung des fossilen Kapitals und der drohenden Transformation von Herrschaft in ein neues, neofeudal-rohbürgerliches System der Ausbeutung zeichnen sich schon die kommenden Erzählungen von der Unausweichlichkeit menschlichen Elends ab: „Überbevölkerung“ und „Naturkatastrophen“.
Dem ist eine ganz andere Erzählung entgegenzusetzen. Sie müsste die historische Verantwortung des globalen Nordens am weltweiten Katastrophenquartett von Markt, Kapital, Staat und modernem Patriarchat anerkennen. Und sie müsste sich organisch mit einer praktischen gesellschaftlichen Alternative im Weltmaßstab verbinden. Anstelle von staatlicher Politik, Marktwirtschaft, Lohnabhängigkeit und der patriarchalen Ideologie von Leistung und Kontrolle hätte sie die soziale Selbstorganisation zu entfalten, eine neue Logik der Gemeingüter und Solidarischer Ökonomien, und eine Kultur der Muße, der Achtsamkeit und des Teilens.