Streifzüge 51/2011
von Andreas Exner
English version / version Française
Das Entsetzen nimmt kein Ende. Fukushima, das 9/11 des fossil-atomaren Energiesystems. Es ist das Schrecknis einer Welt, die nur Profit und Kapital kennt, das sich in diesem Kernreaktor und der unsichtbaren Todesstrahlung, die er aussendet, alptraumhaft verdichtet. Wie aus einem Katastrophenfilm wirken die Bilder und Meldungen aus Japan. So als hätten sich unsere bloßen Vorstellungen von der Zerstörungsenergie, die dem Kapital innewohnt, materialisiert. Eher können wir uns Vernichtung und massenhaftes Leiden vorstellen als das Leben in einer Welt des Teilens, der Achtsamkeit und Gemeinschaft, hat jemand einmal bemerkt. Dies ist so, weil die Welt so aussieht, wie wir sie uns vorstellen. Und wir stellen sie uns bis in alle Ewigkeit so vor, weil sie so aussieht.
Der Kapitalismus und seine unzähligen Schrecknisse erscheinen uns glaubwürdiger als eine Alternative: Wir glauben an das Kapital, das tödliche Versprechen endlosen Wachstums, und wir erweisen ihm zynisch die Huldigung, so als wäre die Herrschaft von Menschen über Menschen und die Natur etwas Würdevolles. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann hätten sich die Produktivkräfte nicht so enorm entwickelt, ist zu hören. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann lebten wir noch in dunklen Steinhäusern und müssten auf kargen Feldern fronen. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann gäbe es keine Handys und kein Internet. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann könnten wir nicht den Krebs behandeln, den die radioaktive Strahlung seiner Reaktoren verursacht. Hätten wir den Kapitalismus nicht, so ist zu schließen, wäre alles noch viel schlimmer.
Eine Welt des Teilens, der Achtsamkeit und Gemeinschaft: zwei Mal ein Fukushima, drei, vier, hundert Mal? Das ist selbstverständlich Unsinn. Ein Unsinn allerdings, der System hat.
Geschmackloser Reichtum
Es ist eine geschmacklose Aufgabe, die vermeintlichen Errungenschaften des Kapitals gegenzurechnen mit den unglaublichen Leiden, die es verursacht hat, weiter verursacht und solange verursachen wird, bis wir es überwinden. Sie ist geschmacklos, aber notwendig. Und dabei sind die technischen Möglichkeiten, die der menschliche Geist freigesetzt hat und die das gegen konkrete Bedürfnisse und ökologische Begrenzungen rücksichtslose Kapitalverhältnis für sich ausbeutet und zu unserem Schaden einsetzt, nicht einmal dem Kapital zuzurechnen. Erfinderinnen- und Erfindergeist wirkt immer, wo Menschen sich zusammentun und lässt sich nicht bezahlen. Dem Kapital zuzurechnen ist jedoch die vollkommen sinnlose, selbstzweckhafte, rücksichtslose Mühle des Geldmachens um des Geldmachens willen, die sich alles unterwirft, was ihr in den Weg kommt, sobald das Geld überhaupt zur herrschenden Form von „Reichtum“ wird – ein Wort, das einer kaum mehr über die Lippen kommen will in dieser Welt, die das Geld nach seinem Bild gemodelt hat. Zur unangefochtenen Form von „Reichtum“ wird Geld zusammen mit der Marktwirtschaft, der scheinbar unausweichlichen Art, wie Menschen ihr Leben organisieren, tatsächlich jedoch der Ursache gewaltigen, unnötigen Leidens und Hemmschuh einer Alternative.
Das Kapital ist das: Die einen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, weil sie sonst nichts haben, von dem sie leben können; die anderen kaufen ihre Arbeitskraft, weil sie über die Produktionsmittel verfügen, die Maschinen, Fabriken, Rohstoffe, das Land. Kaufen und Verkaufen, das Geld, der Markt, bilden ihren Zusammenhang. Markt und Kapital sind zwei Aspekte eines Systems, der Markt ist die Sphäre, auf dem das Kapital seinen Profit einheimst durch redlichen Verkauf und die Objekte seiner Ausbeutung ohne Aufhebens aneignen kann durch unschuldigen Kauf: Naturstoff und Menschenstoff, Metalle, Energie, Land und Arbeitskraft.
Der Staat garantiert, dass sich daran nichts ändert: durch so genannte Sozialleistungen, damit die Lohnabhängigen sich in ihr Schicksal ergeben und es zeitweise sogar passabel finden können, durch den periodischen Einsatz von Polizei und Militär, wenn Menschen aufstehen, durch eine allseitig wachsende Kontrolle, um Unruhe, Widerstand und Alternativen möglichst im Keim zu ersticken, wenn der Staat sie nicht in seinen Apparat einbinden kann. Der Staat ist freilich nicht nur Polizei, Militär, Justiz und Regierung, sondern im Weiteren das ganze Konglomerat aus Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, Wirtschaftsverbänden, Zeitungen, Fernsehsendern, Vereinen, NGOs, Parteien und all den anderen Organisationen des Status quo, deren Aufgabe darin besteht, eine Abschaffung des Kapitalismus zu verhindern, mit Angst und Anreiz.
Eine Leidensgeschichte
Die Verheerung steckt diesem sozialen Verhältnis namens Kapital von Anbeginn in den Gliedern. Ihre Elemente sind: die Vetreibung der Bäuerinnen und Bauern von ihrem Land, in Westeuropa seit der beginnenden Neuzeit, in den staatskapitalistischen Staaten des so genannten Realsozalismus in einer nachholenden Modernisierung, die abermals Millionen das Leben gekostet hat; ihre zwangsweise Umsiedlung und Enteignung in den ehemaligen Kolonien nach der formellen Unabhängigkeit; der für Millionen tödliche Abtransport ganzer Ernten für den Konsum der entstehenden Arbeiter_innenklassen; die massenhafte Versklavung von Afrikanerinnen und Afrikanern; die verschärfte Unterordnung der Frauen durch die von den Männern betriebene Auslöschung ihrer Freiheitsspielräume, Wissensbestände, Machtpositionen; die Ausraubung der Kolonien, rassistische Brandmarkung ihrer Bewohner_innen und ihre staatliche Zurichtung für die Bedürfnisse des Kapitals; die gezielte Vernichtung des Handwerks in Europa und den Kolonien; die Einpressung von Menschen in die Armee, die Arbeitshäuser, Gefängnisse, Psychiatrien, Schulen, Planstädte; die Ausradierung derer, die sich partout nicht einfügen wollten oder konnten, jener, die aufbegehrten und etwas anderes, eine menschliche Gesellschaft des Teilens und der Gemeinschaft begannen.
Die Verheerung setzt sich fort überall dort, wo sich das Kapital festsetzt: in seinen ständigen Krisen, aber auch in den Phasen der Prosperität, die nur die Gewalt der nächsten Krise erhöhen und einem Teil der Lohnabhängigen einen trügerischen Wohlstand des Warenkonsums erschließen, der für den Mangel an Selbstbestimmung entschädigen soll und sie für ihre Dienste an der kapitalistischen Ordnung bezahlt. In der Verelendung derjenigen, die das Kapital in großen Wellen in die Slums, Sweatshops und Fabriken spült. In den Kriegen und Vernichtungsfeldzügen, die das Kapital und sein Staat führen. Mal kühl berechnend wie im neoliberalen Putsch 1973 gegen Allende in Chile, das andere Mal an der Grenze zum Wahnwitz wie in der Madman-Taktik von Richard Nixon gegen Ende des Vietnamkriegs oder in den Stellungen des Ersten Weltkriegs, als Massen von Menschen mit der Aussicht auf den Tod unentwegt gegeneinander in das Niemandsland der Minen und Granaten rannten. Und schließlich in der Zone des blanken Wahnsinns wie in Nazideutschland gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als man der Ermordung der Jüdinnen und Juden selbst noch die Rationalität der Kriegsführung unterordnete.
Die globale Katastrophe, die das Kapital bedeutet, ist noch gar nicht in ganzem Ausmaß sichtbar. Denn vieles, was die meisten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dem Kapital an „Fortschritt“ und „Segen“ andichten wollen, hat eine tödliche Hinterlassenschaft, die ihr wahres Gesicht erst in den kommenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten zeigen wird: Klimawandel, Atommüll, Gifte, gentechnisch veränderte Organismen, ausgeräumte Landschaften, tote Meeresgebiete und eine Infrastruktur mitsamt den daran gebundenen Produktionsabläufen, menschlichen Leidenschaften und Institutionen, die samt und sonders abhängen von einem lebensbedrohlichen Energiesystem. Dieses Energiesystem muss zwar ohnehin in absehbarer Zeit an purem Ressourcenmangel eingehen, und dazu gehört auch die Atomkraft, kann uns aber bis dahin und darüber hinaus das Leben auf Erden noch zur unausweichlichen Hölle machen – wenn wir es nicht abschalten.
Von Hiroshima nach Fukushima
Japan setzte auf den Ausbau der Atomkraft nicht zuletzt, weil das Land eine kapitalistische Modernisierung durchlief, jedoch keine dafür ausreichenden Möglichkeiten der Energieproduktion auf seinem Territorium hat. Am Beginn des Zweiten Weltkriegs drohte Japan der Boykott durch die USA. Es fürchtete vor allem, von den Erdöllieferungen abgeschnitten zu werden, die schon damals die Grundlage des expandierenden Systems von Kapital, Markt und Staat waren. Japan antwortete mit einer brutalen Strategie der imperialistischen Expansion. Am Ende, nach den unsagbaren Leiden des Weltkriegs stand der Einsatz der Atomenergie durch die USA – zum Zwecke der bloßen Vernichtung, bar selbst der abstrusen Todeslogik militärischer Notwendigkeit, der bis heute mit den Namen Hiroshima und Nagasaki verbunden ist. Und dies war zugleich ein Beginn, nämlich des Aufbaus einer zivilen Atomindustrie, der mit großer Verzögerung, dafür umso stärkerer Vehemenz seit den 1980er Jahren in die Gänge kam und das japanische Kapital und die daran gebundene Lebensweise der Lohnabhängigen mit immer mehr Energie versorgte.
Was mit Hiroshima begann, endet jedoch nicht notwendigerweise mit Fukushima. Während das Leiden, das unerträglich ist, gerade weil es von Menschen selbst verursacht worden ist, ins Auge springt, einen die Hände ringen lässt, fassungslos macht, macht noch fassungsloser und ist noch unerträglicher ein Faktum, das vielen gleichwohl noch nicht ins Auge springt: dass Fukushima nämlich nur ein Bild sein wird für eine Landschaft des Schreckens und der Verwüstung, die das Kapital für uns bereit hält, wenn wir es nicht beseitigen. Das Fukushima im Nordosten von Honshu in Japan wird gefolgt vom Kohle-Fukushima, das den Klimawandel noch weiter verschärft, von den Verfechtern des Systems jedoch bereits eilfertig als „saubere Alternative“ zur Atomkraft angepriesen wird. Es wird bereits begleitet vom Biomasse-Fukushima, das in einer globalen Landnahme schwer vorstellbaren Ausmaßes eine Unzahl von Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt – für die Verfechter des Systems jedoch „endlose grüne Energie“ bereit hält. Und es zeichnet sich ein Rohstoff-Fukushima ab, das der Aufbau erneuerbarer Energiesysteme bedeuten würde, die nach der Meinung vieler Verfechter den überbordenden Energiehunger des Kapitals speisen sollen: Ausbeutung der Erde bis zum letzten Gramm Metall, Zerstörung der Lebensbedingungen bis zum letzten Refugium, Vernichtung der Alternativen bis zur völligen Gedankenleere. Die Katastrophe, die das Kapital bedeutet, wird zur medialen Endlosschleife, der das Publikum ebenso entsetzt wie apathisch zunickt.
Fukushima ist überall. Fukushima ist der Kapitalismus.
Eine Alternative macht Schluss mit Kapital, Markt und Staat. Sie erschließt und entfaltet die Welt des Teilens und der Gemeinschaft – die Grundlage menschlicher Gesellschaft, solange sie existieren wird. Und sie wird nur dann auf Dauer in gutem Leben existieren können, wenn diese Welt des Teilens und der Gemeinschaft die Oberhand gewinnt. Dies muss rasch geschehen.