Zustände

Streifzüge 49/2010 – Kolumne Dead Men Working

von Maria Wölflingseder


Das deutsche Wort „Staat“ ist dem lateinischen status („Stand, Zustand, Stellung“) entlehnt. Staat – Zustand – Ausnahmezustand? Ein Beispiel für die unregelmäßige Steigerung von gesellschaftlichen Verhältnissen? Zustand? Ausnahmezustand? Eine passende Bezeichnung aus der Umgangssprache für die Spezialbehandlung, die der Staat für bestimmte Gruppen seiner Angehörigen ersonnen hat? Alle für das Kapital nutzlos gewordenen LohnarbeiterInnen werden für kürzere oder längere Zeit, in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen, oder auf Dauer an bestimmte Orte beordert, an denen sie gezwungen werden, großteils sinnlose Tätigkeiten zu vollbringen und sich ebensolche oder gar zynische Predigten anzuhören.

I
Je weniger Arbeitsplätze es gibt, desto stärker wird die „Dynamisierung“ der Überflüssigen: Schaffe, schaffe, wo es nichts zu bauen gibt! Die „Freigestellten“ werden postwendend angehalten und behandelt, als müssten ihnen die kapitallogischen Erfordernisse von vor zweihundert Jahren eingebläut werden: Pünktlichkeit, Disziplin, stupide und sinnlose Verrichtungen. Die passenden Locations wurden schnell gefunden: ausrangierte Fabriken. Wer in Wien an solchen vorbeigeht – zum Beispiel an der ehemaligen Textilfabrik in der Siebenbrunnengasse 21 – staunt über das rege Treiben. Ein großer Innenhof verbindet die Gebäudeblöcke A bis D. Die große Menschenmenge, die sich zu Mittag beim Schichtwechsel trifft, kommt aus oder geht in Etagen mit der Aufschrift „Die Berater – Unternehmen Mensch“ – eine jener zahlreichen Firmen, die im großen Stil mit der Ware Mensch ihr Business macht. Fehlt nur noch „Massenmenschhaltung“ als genauere Bezeichnung. Der Begriff „Humankapital“ bekommt hier eine ganz eigene Bedeutung. – Für die MitarbeiterInnen, sprich ArbeitslosentrainerInnen, ist dieser Job allerdings eine recht prekäre Angelegenheit. In dieser Branche ist das durchaus die Regel, nicht die Ausnahme.
Die Warteschlangen im Entrée sind lang wie am Flughafen vor den Check-in-Schaltern der Billigfluglinien im August. Einer nach dem anderen wird in einen bestimmten Raum eingewiesen. Aber auf vielen Zuweisungsbriefen wird kurzerhand vermerkt: „Zurück zum AMS wegen Überbuchung“. Wie bei den Charterflügen eben. Auf die Frage, ob dies hier ein Kasperltheater sei, antwortet Frau von Berater: Ja, es gebe immer mehr Zubuchungen als freie Plätze, weil ja viele nicht zum „Infotag“ (der jedem Kurs voraus geht) erscheinen würden. – Das macht stutzig: Zum „Infotag“ erhält man ausdrücklich eine „Einladung“ – das klingt nach Freiwilligkeit. Wer aber den Termin versäumt, dem wird der Bezug gesperrt. Das trägt zum Sparen und zum hohen Ziel niedriger Zahlen in der Statistik bei. Überhaupt sind der Phantasie der AMS-BeraterInnen (fast) keine behördlichen Grenzen gesetzt, wenn es um die vorderen Plätze im internationalen Ranking geht.

II
Hochkonjunktur haben zur Zeit auch „gemeinnützige Beschäftigungsprojekte“ und „sozialökonomische Betriebe“. 190 gibt es davon in Österreich. Da wird etwa eine Kunsthistorikerin bei der „Volkshilfe“ eingewiesen, Müll zu sammeln und zu trennen. Oder eine Geisteswissenschaftlerin beim „Roten Kreuz“, ein halbes Jahr lang 30 Stunden die Woche Besuchsdienst bei alten Leuten zu machen. Anschließend soll sie sich zur Heim- oder Pflegehelferin ausbilden lassen. Kollektivvertrag wird in solchen „Arbeitsdiensten“ selten gezahlt. Wie denn auch, wenn es diese Tätigkeiten als Beruf gar nicht gibt. Oft wird AkademikerInnen als Lösung ihres Problems, die glorreiche Idee präsentiert, doch selbst ArbeitslosentrainerIn zu werden. – Soll die Errichtung von potemkinschen Arbeitsdörfern der Ausweg aus der Massenarbeitslosigkeit sein?
Welche Logik liegt dieser Chimäre mit Wirklichkeitsanspruch zugrunde? Die Arbeit ist zu einem in der Geschichte noch nie da gewesenen Götzen erhoben worden. Ihm sind wir bereit schier alles zu opfern: unsere Zeit, unsere Gesundheit, hohe Summen der Staatsfinanzen und auch unseren Realitätssinn. Arbeit ist zunehmend pure Simulation. In einem Hamburger Supermarkt der besonderen Art werden Langzeitarbeitslose angehalten, auf 2000 m2 mit Plastik-Lebensmitteln und Spielzeuggeld Kauf und Verkauf zu üben. („Wie im echten Leben – Der Hartz-IV-Supermarkt“, www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=18860&mode=play)

III
Ein anderer Zustand,  der wie aus einem Science-Fiction-Roman anmutet, sind die so genannten „Karriere- und Entwicklungscenter“ (früher: Jobcenter) der Post AG. Mit der Einführung des neuen Kollektivvertrags ist es der Post möglich, neue MitarbeiterInnen um rund ein Drittel billiger einzustellen. Die eingesparten, „nicht verwendungsfähigen“ Beamten werden seit zehn Jahren ausgelagert. Derzeit sitzen österreichweit 890 ausgemusterte ältere PostlerInnen in dieser „gut abgeschirmten Lager-Konstruktion“ tägliche ihre Stunden ab. Die Firmenleitung nennt das: „Passivieren“ oder „Archivieren“ von Personal.
Auch bei der ÖBB gibt es bereits solche „Nicht-Arbeitslager“, genannt „interner Arbeitsmarkt“. Es ist absehbar, dass sich dieser Z<em>ustand</em>  auf andere liberalisierte Staatsbetriebe ausweiten wird. Diese Kasernierung – bis zu 500 Menschen in einer Halle – bei gleichzeitigem Nichtstun und einem Drittel weniger Gehalt dient als Zermürbungstaktik mit dem Ziel der Selbstkündigung. Die Gewerkschaft schweigt dazu, und in den Medien wird selten darüber berichtet. In einer Radiosendung war zu erfahren, dass sich am 26. Februar dieses Jahres einer jener „Überflüssigen“ in einem abgelegenen Raum solch einer Einrichtung erhängt hat. In einem e-mail äußerte er die Hoffnung, die unerträglichen Verhältnisse mögen sich dadurch ändern. (Ö1, Moment – Leben heute, 6.5.2010, www.karriereentwicklungscenter.at)
2008 hat der Deutsche Bundestag „erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist“ anerkannt und bedauert. Heute werden Menschen, nur weil deren Arbeitskraft unverkäuflich ist, nach Recht und Gesetz gedemütigt, entmündigt und existentiell bedroht. Wie lange wird es dauern bis das als menschenunwürdig erkannt und gestoppt wird?

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