Streifzüge 50/2010 – Homestory
von Maria Wölflingseder
Für mich als geborene Entdeckerin ist das Fremde, die Fremde, der Fremde das Um-und-Auf. Gäbe es nur das Alltägliche, das Gewohnte, das sattsam Bekannte wäre ich längst verhungert und verdurstet. Der Alltag hat immer die Tendenz grau zu sein, zum Trott zu werden und man selbst zum Trottel. Daher ist es notwendig, öfter die Spur zu wechseln. Sich auf Abwege zu begeben. Die ausgetretenen Trampelpfade zu verlassen und die „dunklen Gassen“ in Augenschein zu nehmen. An jedem alt bekannten Ort gibt es Neuland zu entdecken. Wenn ich von einem Sidestep zurück auf die gewohnte Bahn kehre, habe ich immer ein Fußgefühl, als hätte ich die ungewohnten Schi- oder Eislaufschuhe wieder gegen normales Schuhwerk getauscht.
Leben ist Bewegung. (Jede Zelle braucht Wärme, Licht und Bewegung.) Im Alltag ist die häufigste Bewegung allerdings nur das unsinnige auf der Stelle Treten im Hamsterrad, ein rasender Stillstand. – Natürlich passieren manchmal auch mitten im Alltagsgedränge die wundersamsten Dinge, – immer dann, wenn man absolut nicht darauf gefasst ist. Entdeckungen halten sich an keine Zeit- oder Stadtpläne, sie fallen einfach vom Himmel. Aber auffallend oft ist Musik im Spiel. Diese lockt Entdeckungen offenbar an. Schleier werden leichter gelüftet. Überhaupt: wer mit einem Brennglas vor der Seele lebt, erkennt seine Resonanzkörper oft auf den ersten Blick.
Im Alltag verliert man sich leicht. Verzettelt und zerstreut. In der Fremde glückt die Besinnung, die höchste Aufmerksamkeit, die intensive Wahrnehmung des Fremden und seiner Selbst. Einfach weg sein, um endlich ganz da zu sein. Raum und Zeit haben. Nichts tun, nichts müssen, nichts wollen – dann ist alles möglich. Ganz besonders in jener Fremde, in jener Kultur, in der ich mich gefunden habe, in die ich immer wieder „nach Hause“ und zu mir komme. „Auf Reisen überrascht jeder Augenblick, überrasche ich mich selbst – als Unbekannter im Unbekannten. … Reisen: die schweifende Libido. … Das Paradoxon: Sich loslassen, um sich zu finden“. Vertraute Worte von Bernhard Hüttenegger, dem leidenschaftlich Reisenden und Schreibenden.
Ganz und gar fremd sind mir indes Reisende, die wegfahren, aber via Handy und Laptop nicht von zu Hause loskommen. Die sich in Gesellschaft von ihresgleichen bewegen, die sich all inclusive in heimatlicher Enklave befinden. Ereignisreich, aber erfahrungsarm ist das Leben. Action, Event und Glückspille sind das höchste der streng kalkulierten Gefühle. Wenig gefragt: Neugierde, Überraschungsmomente, Erstaunliches, gar Ungeheuerliches. Sich einlassen auf die Fremde, auf die Sprache, die Kultur, die Mentalität. Alles ist einerlei, alles wird wahllos konsumiert, vom Preis diktiert, Last Minute ausgewählt. „Aber Reise soll Verschwendung sein, Hingabe der Ordnung an den Zufall, des Täglichen an das Außerordentliche, sie muss allerpersönlichste, ureigenste Gestaltung unserer Neigung sein – wir wollen sie darum verteidigen gegen die neue bureaukratische, maschinelle Form des Massenwanderns, des Reisebetriebs. …so wird jede Reise zur Entdeckung nicht nur der äußeren, sondern auch unserer eigenen inneren Welt.“ Dieser Einwand stammt aus dem Jahr 1926. Stefan Zweig hat ihn im Aufsatz „Reisen oder Gereist-Werden“ formuliert.
Wenn einer eine Reise tut, dann soll er was erzählen können. Wer den Reiseberichten von Johann W. Goethe, Stefan Zweig, Joseph Roth, Patrick Leigh Fermor oder Bernhard Hüttenegger folgt, staunt: welch Intensität und welch Reichtum an Erlebnissen und Erkenntnissen. Begegnungen mit Natur, Kultur, Architektur, Literatur und den Menschen. Geschichte und Geschichten höchst lebendig, anschaulich, lehrreich. Die Leserin erfährt viel über „das wahre Glück“, über diesen „Einklang von Selbst-Vertrauen und Fremde, von Ich und Welt, von Bewegung und Einkehr“, über das „Reisen, Gehen, Schreiben, Lesen“ als „höchste Souveränität“, als „die Bewegung des Welt erfahrenden Individuums“. So drückt es Hüttenegger aus.