Apokalypseblindheit, Atomstaat und Ökologiebewegung – ein Rückblick auf die Geschichte der Atomkraft und ihrer Gegner
von Roger Behrens
»Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«, notierten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer am Anfang ihrer »Dialektik der Aufklärung«, wohl kaum ahnend, wie drastisch sich ihr Sinnbild in grausame Wirklichkeit wenden sollte: Nicht metaphorisch, sondern buchstäblich strahlte die Erde im Zeichen des Unheils, nämlich angesichts der 1945 über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben. Bewusst wurden die Erkenntnisse der modernen Physik zunächst für die Zwecke der Vernichtung nutzbar gemacht, wurde die Zerstörungskraft der Kernspaltung perfektioniert, um die Politik der Drohung zu perfektionieren. Dass für einen durch die atomare Gewalt gesicherten Frieden auch die Kernenergie, also die atomare Gewalt selbst, »friedlich« nutzbar wäre, bringt konsequent, wenn auch zynisch die Dialektik des sogenannten Atomzeitalters zum Ausdruck: Eine internationale Politik der Abschreckung, die national eine Abschreckung der Politik betreibt, insofern, als dass zumindest die jeweils eigene Atomtechnik und die mit ihr bewerkstelligte Stromerzeugung alles andere als abschreckend sei, also ungefährlich und unproblematisch.
Argumentiert wurde für die »zivile Nutzung« der Atomkraft genauso wie für die militärische mit Statistik: Kalkuliert wird in Hunderttausender-Schritten – je höher die Zahl der möglichen Atomkriegstoten, desto unwahrscheinlicher dieser Krieg. Und je unwahrscheinlicher ein Reaktorunfall (statistisch, heißt es, alle 100 000 Jahre einer!), desto höher die Zahl der Atomenergie-Überlebenden. Mag solche statistische Kalkulation auch mathematisch korrekt sein, so ist sie nicht nur moralisch widerlegt durch die Unmenschlichkeit, derart das Leben zu verrechnen, sondern auch praktisch absurd, weil sowohl das Bedrohungs- als auch das Sicherheitspotential der Atomkraft nur den Was-wäre-wenn-Fall vortäuscht – tatsächlich sind es Ist-Fälle mit realen Strahlenopfern, also Toten, was spätestens seit dem sogenannten Trinity-Test, dem ersten Kernwaffentest im Juli 1945, allgemein bekannt ist.
Entscheidend kommt hinzu, dass ohnehin die Atomenergie, sei es militärisch oder zivil genutzt, statistisch gar nicht in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung erfasst werden kann. Der Philosoph Günther Anders hat das die Differenz zwischen Herstellen und Vorstellen genannt: Die Atombombe ist »absolut zu groß«, das heißt, »dass ihr geringster Effekt, wenn sie eingesetzt würde, größer wäre als jeder noch so große vom Menschen gesetzte (politische, militärische) Zweck«. Kurz gesagt: Was man mit Atomenergie herstellen kann, kann man sich nicht mehr – in seiner Gesamtheit, seiner effektiven Größe – vorstellen. Günther Anders formulierte diese Thesen 1956 in »Die Antiquiertheit des Menschen«. Ein Jahr später, am 29. September 1957, ereignete sich in der kerntechnischen Anlage Majak im sowjetischen Kyschtym ein Unfall, bei dem weit größere Mengen an Radioaktivität freigesetzt wurden als später bei der Reaktor-Havarie in Tschernobyl. Die russischen Behörden konnten den Super-Gau 30 Jahre lang geheim halten. Dass dieser wie auch andere Unfälle so lange vertuscht werden konnten, ist, ebenso wie das allgemeine Desinteresse an den Opfern auf den Südsee-Atollen, wo die Atomtests stattfanden, oder die Ignoranz gegenüber der sich fortsetzenden Tschernobyl-Katastrophe (wenn dort der Sarkophag zerfällt), Ausdruck dessen, was Günther Anders die Apokalypseblindheit nannte: Blindheit gegenüber einer Apokalypse, die längst schon stattfindet.
Apokalypseblindheit ist der historische Sehfehler einer Aufklärung, die als Ziel einzig die fortschreitende Naturbeherrschung kennt. Und mit fortschreitender Naturbeherrschung verändert sich die Natur der Herrschaft. Denn wie bei der Genetik scheint auch bei der Atomphysik erstmals Natur in ihrer Substanz beherrschbar zu sein – wobei damit eben nicht »Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit« (Walter Benjamin) gemeint ist, sondern Beherrschung der Natur als ihre instrumentelle Zurichtung und schließlich kontrollierte Vernichtung. Dass der Physik, wenn nicht allgemein der Naturwissenschaft in derselben Zeit, in der die Natur auf atomarer bzw. subatomarer Teilchen-Ebene zergliedert wird, der Begriff der Natur abhanden kommt, gehört zur immanenten Logik dieses vielleicht letzten Stadiums der Dialektik der Aufklärung. Bestätigt wird das schließlich auch durch die Philosophie, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, die ebenfalls zeitgleich den Verlust des Naturbegriffs diagnostizieren. Es wäre keine Dialektik, wenn das Verschwinden der Natur nicht auf den Menschen selbst drastisch zurückschlüge. Solange das Naturverhältnis durch die fortschreitende Naturbeherrschung bestimmt bleibt, ist die Forderung »Zurück zur Natur« nicht anders denn als Regression möglich.
Solche Regression zeigt sich zunächst in den Wunschbildern, dem Spektakel, mit dem glaubhaft gemacht werden soll, die Gewalt der Atomenergie im Griff zu haben. Regressiv – wenn auch unterhaltsam – sind diese Bilder in ihrer naiven Verharmlosung: Im Kino wird dann höchstens aus dem Atomphysiker ein skurriles Monster, schlimmstenfalls mutiert die Stubenfliege im Labor zum Ungeheuer; und im pädagogischen Lehrfilm lernen schon die Kinder, sich im Gänsemarsch durchs Klassenzimmer vermittels duck&cover vor Radioaktivität zu schützen.
Auch wenn die Ökologiebewegung dagegen ernsthaft-sachlich opponierte, blieb sie in ihrem Naturverständnis gleichermaßen naiv, wenn nicht regressiv, und wiederholte in Grundzügen die kulturkonservative Zivilisationskritik der Lebensreformbewegung um 1900, einschließlich Naturmystik und Anthroposophie. Mit dem »Zurück zur Natur« war man der faschistischen Parole »Umweltschutz heißt Heimatschutz« nicht immer so fern, wie man glaubte; der rechtsextreme Ökobauer Baldur Springmann mischte ebenso mit wie das »deutsche Multi-Talent« (Die Welt), HJ-Mitglied und Kunstgenie Joseph Beuys. Ein urbanes, kommunistisches Rot wurde nicht selten gegen ein ländlich-völkisches Braun getauscht. Ältere Bauern sieht man auf den Fotos häufig mit – sicherlich praktischen, weil warmen – Mützen aus Wehrmachtsbestand; Parolen wie »Frauen gegen Atomkraft« verweisen wohl eher auf einen Feminismus, der sich als Mutterschutz versteht, nicht als Kritik des Geschlechts. Unter dem Schlagwort Ökologie – auch damals innerhalb der Biologie ein junger Teilbereich – wurden, im Sinne von »Oikos«, Natur und Gemeinschaft auf einen Kampfbegriff gebracht: Umwelt.
Das schmälerte mitnichten die berechtigte wie dringliche Kritik der sogenannten Atompolitik, es verdeutlicht aber doch eine gewisse Naivität in der Ästhetik des Widerstands der Anti-Atom-Proteste. Mit der Republik Freies Wendland, die 1980 für einen Monat existierte, hatte sich die Ökologiebewegung ihr gallisches Dorf geschaffen; und tatsächlich boten sich die Knollnasenfiguren von Uderzo und Goscinny an, um – statt Adorno und Horkheimer – Asterix und Obelix als Raubdruck zu verbreiten: »Asterix und das Atomkraftwerk« verlängerte auf amüsante Weise die Pfadfinder-Ästhetik der Anti-Atom-Proteste, die hier am Rande der Demokratie, in der Nähe der Grenze zur damals noch existierenden DDR, gegen den Atomstaat zu Felde zogen. Apropos DDR: Ambivalent-amüsant war bis 1986, bei manchen sogar bis 1989, die AKW-Kritik in der falschen wie dummen Systemkonkurrenz hängen geblieben: Insbesondere DKPler wollten wissen, dass die Kerntechnik nur im Westen schlecht und gefährlich sei; die Hoffnung lag ausgerechnet bei der sowjetischen Atomtechnik.
Schon bei den ersten Anti-AKW-Protesten 1972 im baden-württembergischen Wyhl zeigte sich, dass der Widerstand gegen die Atompolitik im Konkreten höchstens auf ein »Stopp« zielte. Dass das Kernkraftwerk in Wyhl nach der Bauplatzbesetzung 1975 nicht gebaut wurde, lenkte die Protestbewegung endgültig in parlamentarische Bahnen; aus der Bunten Liste wurden Ende der siebziger Jahre die Grünen. Und wie die Umwelt überhaupt, sollte auch der Staat gewissermaßen ökologisch zurückverwandelt werden, vom Atomstaat zum Naturstaat. Damit wurde allerdings aus der statistischen Lüge über das physikalische Problem der Atomkraft ein demokratisch verhandelbares politisches Problem – der Atomkonsens, mit dessen Idiotismen wir es heute zu tun haben.
Die Situation ist paradox, wenn nicht grotesk: Dass die wie auch immer beabsichtigte Nutzung von Kernenergie auf eine verheerende Katastrophe hinausläuft, scheint niemand zu leugnen; dennoch bleibt es trotz Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 eine bloße Möglichkeit, die mit billiger Abwägungsrhetorik gegen andere Katastrophen ausgespielt wird. Heute ist es, im vollends verwirklichten Kapitalismus als Selbstzweck, die ökonomische Katastrophe, die durch längere Laufzeiten der Kernreaktoren verhindert werden soll. Oder: Schon vor 20 Jahren votierte die CDU/CSU (in der Tagesschau am 6. November 1990, die passend zu den jetzigen Castor-Transporten am Wochenende im Fernsehen wiederholt wurde), der Neubau von Kernkraftwerken solle aus Verantwortung angesichts der »Klimakatastrophe« geschehen.
Die Behauptung, dass sich zur friedlichen Nutzung die Atomkraft beherrschen ließe, wird schon durch ein einziges Gramm Atommüll ad absurdum geführt: Der unbeherrschbare Rest der Natur wird kalkulatorisch in der Risikogesellschaft aufgelöst, politisch aber nach wie vor im Atomstaat. Der Atomstaat ist ein Staat, in dem per definitionem und nicht nur bei Castor-Transporten der Ausnahmezustand herrscht: Die vermeintlich zivile Atomkraft ist nämlich nur in einer Gesellschaft möglich, deren Ideologie von Zivilität bereits die atomare Katastrophe militärisch einplant. Dabei ist auch die Militarisierung der Polizei obligatorisch; und dass die Äcker im Wendland und anderswo buchstäblich zu »Schlachtfeldern« werden, ist kein Zufall. Anders gesagt: Wenn friedliche Proteste gegen die angeblich friedliche Nutzung von Kernkraft »wie im Krieg« polizeilich bekämpft werden, dann kann von »zivil« keine Rede sein. In den siebziger und achtziger Jahren schien darin jedoch der Atomstaat im Gegensatz zum demokratischen Rechtsstaat zu operieren; das hat sich geändert. Der Atomstaat gilt heute als demokratisch, ja sogar ökologisch und als rechtsstaatlich allemal.
Castor stoppen? Ja, keine Frage. Aber was fehlt, ist die Utopie, nicht ein »Zurück zur Natur«, sondern vielmehr ein Vorwärts dorthin, also ein Entwurf von Allianztechnik, bestenfalls sogar in kosmologischen Dimensionen, mindestens aber als echte Solarenergie. Die Grundgestalt dafür gibt es; es ist das vor 35 Jahren, im April 1975, als Signet der Anti-Atom-Bewegung erfundene Gesicht: Eine lachende rote Sonne auf einer gelben Kreisfläche, dazu in serifenloser, abgerundeter Schrift in schwarz: »Atomkraft – Nej Tak«. Zunächst auf Dänisch (nämlich gestaltet von der »Organisationen til Oplysning om Atomkraft«), dann in über 40 Sprachen weltweit verbreitet: signifikant gutes Design der siebziger Jahre. Den Spruch könnte man allerdings ändern, etwa in Herbert Marcuses schon damals gegen den Atom-Wahn geäußerte Intervention: »Wir hätten nicht die Scheiße, die wir haben, wären wir nicht die Scheiße, die wir sind.«
aus: Jungle World 45, 11. November 2010