Spuk und Beerdigung

Dreizehn Thesen zur Unwirklichkeit

von Emmerich Nyikos

1.

Nach Hegel ist die Notwendigkeit ein Attribut der Wirklichkeit: Was wirklich ist, das muß notwendig sein. Ist eine Sache das nicht oder genauer: ist sie es nicht mehr, dann ist sie unwirklich, spukhaft – sie kann dann eben nur mehr ein Schatten ihrer selbst sein.

2.

„Notwendigkeit“ ist dabei aufzufassen als der tiefere Grund, der Sinn, die raison d’être dieser betreffenden Sache.

3.

Dieser Grund ist ihre Substanz, das, was sie im Grunde zu dem macht, was sie eigentlich ist, das also, was ihr einen Sinn als diese betreffende Sache verleiht.

4.

Im Falle der bürgerlichen Gesellschaft ist diese ihre Substanz die Wertsphäre, d.h. der objektive Ausdruck des gesellschaftlichen Zusammenhangs in der Produktion, des gesellschaftlichen Zusammenwirkens privater Produzenten auf der Basis des Privateigentums, welches sich in den Waren als deren Wert, d.h. deren gesellschaftliche Tauschfähigkeit, manifestiert.

5.

Das Kapitalsystem kreist um den Profit als sein Zentrum. Nun ist aber eine der wirksamsten Kapitalstrategien, die Mehrwertrate (und damit die Profirate) zu erhöhen, die Produktion des relativen Mehrwerts durch den Einsatz immer effektiverer produktiver Methoden. Infolge dieser systemimmanenten Tendenz erhöht sich somit nach und nach das Produktivkraftniveau des Systems, bisweilen kontinuierlich, bisweilen stockend, bisweilen auch sprunghaft, immer jedoch so, daß die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die Substanz des Werts, dabei reduziert wird.

6.

Schließlich wird in der Monopolphase des Kapitalsystems infolge der Einverleibung der Wissenschaft in die Produktion (Kybernetik, Informatik, Robotik, Fuzzy-Logic usw.) das Produktivkraftsystem auf eine solche Höhe geführt, daß Produktionsprozesse mehr und mehr automatisiert ablaufen können.

7.

Automatisierung der Produktion meint aber die Verdrängung der lebendigen Arbeit aus der Produktionswelt, so daß sich mit der Zeit die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die Substanz des Werts, auf Null reduziert.

8.

Damit verschwindet der Wert und mit ihm die Substanz der bürgerlichen Gesellschaft. Zugleich verlieren dadurch sämtliche Praxisformen, die auf dem Austausch beruhen – als dem Angelpunkt der Gesellschaft, um den sich alles andere dreht –, ihren Grund. Die bürgerliche Gesellschaft büßt so aber auch ihre Notwendigkeit ein.

9.

Der Verlust der Notwendigkeit bedeutet zugleich, daß die Gesellschaft des Kapitals unwirklich wird: Im Grunde ist sie schon jetzt nur mehr ein Schatten, eine Simulation ihrer selbst – sie ist schon tot, auch wenn sie noch da ist, auch wenn sie noch weiterfortexistiert.

10.

Die bürgerliche Gesellschaft ist tot, aber noch nicht begraben. Begraben indessen wurde sie deswegen nicht, weil ihre Totengräber, bestimmt, sie zu Grabe zu tragen, selbst ausgestorben sind, zuerst nur „moralisch“ (durch Assimilation), in der Perspektive dann aber auch „physisch“, da sie infolge der Automatisierung der Produktion sich in absehbarer Zeit zu einer permanenten Reservearmee degradiert sehen werden.

11.

Das ist das Paradox der bürgerlichen Gesellschaft: Solange es Totengräber gab, war sie nicht tot, und als sie tot war, waren auch die Totengräber verschwunden.

12.

Was tot ist und nicht begraben, wird zu einem untoten Toten, zu einem Widergänger, zu einem Zombie, der spukhaft sein Unwesen treibt. Diesem endlosen Spuk aber kann nur eine Beerdigung ein Ende bereiten. Wie? Ohne Totengräber? Nun, dann wird man die Sache eben selbst in die Hand nehmen müssen.

13.

Alle objektiven Voraussetzungen für eine Beerdigung dieser Gesellschaftsformation durch die Verwandlung des Privateigentums in Gemeineigentum sind heute gegeben; allein, es fehlt der Gedanke, daß diese Beerdigung notwendig ist. Was also not tut, das ist: der bürgerlichen Gesellschaft klipp und klar zu beweisen, daß sie schon tot ist, daß sie nur mehr als untote Tote weiterfortexistiert. Alles andere wird sich dann weisen.

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Heuer erschienen:

Emmerich Nyikos, Das Kapital als Prozeß. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems, Peter Lang (2010)

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