Streifzüge 50/2010
von Markus Pühringer
Szene 1: 14. Juni 2010. Der Verfassungsgerichtshof kommt zur Erkenntnis, dass der Ausweisungsbescheid des Asylgerichtshofs in der Causa Zogaj nicht verfassungswidrig war. Die kosovarische Familie Zogaj, eine Mutter mit drei Kindern, müsse daher – nach 9jährigem Aufenthalt in Frankenburg (OÖ) – unverzüglich ausreisen. (Die Familie Zogaj bestand ursprünglich aus Vater, Mutter und fünf Kindern. Der Vater wurde mit den beiden älteren Söhnen im Jahr 2007 des Landes verwiesen, er hat inzwischen die Familie verlassen. „Dank“ österreichischer Gesetzgebung wurde die Familie bereits zerrissen.) Die Mutter ist akut suizid-gefährdet; die Kinder haben den Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht. Der Großteil der österreichischen Bevölkerung begrüßt, dass endlich ein Schlussstrich unter diese Causa gezogen wird und befürwortet die Abschiebung. Im Juli 2010 verlässt die Familie „freiwillig“ Österreich.
Szene 2: „Oberösterreich heute“ vom 21. Juni 2010. Der oberösterreichische Regionalsender berichtet beinahe enthusiastisch von einer englischen Familie, die nach Obertraun zugezogen ist. Familie Rye würde „frischen Wind“ in die strukturschwache Gemeinde bringen. Vater Adrian Rye darf vor laufender Kamera die wunderschöne Gegend preisen. Die Liebe zur Landschaft hat den ehemaligen Computerfachmann bewogen, nach Obertraun zu übersiedeln und dort als Schilehrer und Pensionsvermieter eine neue Existenz aufzubauen. Mittlerweile ist er bestens integriert. Rye sitzt im Gemeinderat, der einheimische Wirt bezeichnet ihn als „echten Obertrauner“. Der Bürgermeister wird interviewt. Er freue sich über jeden Zuzug, v.a. wenn es Familien mit Kindern seien. Am Ende des Beitrags darf auch noch die 14jährige Tochter im Dirndlkleid auftanzen und die freundlichen Menschen im Salzkammergut loben.
Was ist da los?
Frankenburg und Obertraun sind zwei Orte in Oberösterreich. Sie liegen kaum 80 Kilometer voneinander entfernt. Sind in Frankenburg die Fremdenfeinde zuhause und in Obertraun die Fremdenfreunde? Oder sind die Österreicher einfach schizophren?
Zur Klärung dieser Frage muss ich etwas ausholen: Letztlich ist sie nur zu beantworten, wenn wir uns Gedanken zum Mensch-Sein und zur Konstruktion unserer eigenen Identität machen. Diese Gedanken müssen dann in den Kontext der gegenwärtigen Welt des real existierenden Kapitalismus gestellt werden.
Folgende Dreiteilung der menschlichen Wirklichkeit halte ich für die Erörterung dieses Themas nützlich:
– Inneres Selbst
– Äußere Welt
– Eigenes Ich
Inneres Selbst:
Als „inneres Selbst“ bezeichne ich den einzigartigen inneren Kern, der in jedem Menschen beheimatet ist. Hinter der Konstruktion des „inneren Selbst“ steht der Glaube, dass tief im Menschen eine Kraft steckt, die sich mit allem Lebendigem verbunden fühlt. Wenn sich Ruhe und Gelassenheit ausbreiten, können wir mit dem „inneren Selbst“ in Kommunikation treten. Dabei entdecken wir unsere spezifische Persönlichkeit und unseren individuellen Charakter.
Äußere Welt:
Um jeden Menschen ziehe ich eine Grenze und bezeichne alles, was außerhalb von ihm liegt als „äußere Welt“: Sie bezeichnet damit die Umgebung des Menschen: seine Behausung, sein soziales Netz, die anonyme Gesellschaft und die natürliche Umwelt.
Eigenes Ich:
„Inneres Selbst“ und „äußere Welt“ befinden sich in einem Spannungsverhältnis zueinander. Als Vermittler zwischen diesen beiden Welten definiere ich das „eigene Ich“. Das „eigene Ich“ versucht die Ansprüche und Anforderungen aus beiden Hemisphären miteinander in Einklang zu bringen. Es hört auf innere Impulse und reagiert auf äußere Einflüsse. Wie wir das jeweils handhaben, macht unser konkretes Mensch-Sein aus.
Diese Dreiteilung ist eine Konstruktion. Sie ist eine Folie, mit der die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft/Gesellschaft beschrieben werden kann. Der Wert dieser Konstruktion soll sich daran bemessen, wie nützlich sie für die Erklärung der eingangs geschilderten Szenen ist.
Die „äußere Welt“ und der Kapitalismus
Charakteristisch für unsere Zeit ist, dass „die äußere Welt“ sehr umfassend von der Verwertungslogik des Kapitals durchdrungen ist. Veranlagtes Geld wird zu Kapital und will sich in dieser Form ständig vermehren und – vermeintlich – aus sich selbst heraus wachsen. „Die allgemeine Formel des Kapitals ist G-W-G´; d.h. eine Wertsumme wird in Zirkulation geworfen, um eine größre Wertsumme aus ihr herauszuziehen. Der Prozess, der diese größre Wertsumme erzeugt, ist die kapitalistische Produktion; der Prozess, der sie realisiert, ist die Zirkulation des Kapitals.“ (MEW 25: 51)
Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich fundamental von der (neo)klassischen, aber auch von der gängigen keynesianischen Wirtschaftstheorie. Marx behauptet, dass Geld der Ausgangs- und der Endpunkt der kapitalistischen Entwicklung sei (G-W-G´). In der (Neo)klassik und im Keynesianismus wird im Gegenteil die kapitalistische Entwicklung als Befriedigung von (unersättlichen) Bedürfnissen der Menschen verstanden: Daher sei das Ziel die Produktion von Waren und Geld ein reines Mittel (also W-G-W). „Es ist keine große Übertreibung zu behaupten, dass der Umschlag der Formel W-G-W in die Formel G-W-G´ das ganze Wesen des Kapitalismus in sich enthält. Die Verwandlung abstrakter Arbeit in Geld ist das einzige Ziel der Warenproduktion.“ (Jappe 2005: 55)
Für die konkreten Menschen bedeutet das Leben im Kapitalismus, dass sie dazu gedrängt werden, sich konform zur „allgemeinen Formel des Kapitals“ zu verhalten. In der kapitalistischen Produktion sollen sie die Rolle der Arbeiter übernehmen; in der kapitalistischen Zirkulation haben sie als Konsumenten zu funktionieren. Verbunden sind beide Welten durch das Geld. Der Kreislauf ist bekannt: Für Arbeit gibt es Geld. Dieses tauschen die Arbeiter gegen Konsumgüter. So kommt das Geld wieder in die Taschen der Produzenten, die damit die Löhne an ihre Arbeiter (sowie die Rohstoffe, Vorprodukte und die Forderungen der Kapitalisten) bezahlen und in diesem Prozess versuchen, einen Unternehmensgewinn zu erwirtschaften.
Identität durch Arbeit
Damit sich das Kapital optimal entfalten kann, müssen die Menschen in der Produktionssphäre ein ganz bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Als Arbeitskräfte werden sie genau jene Tätigkeiten verrichten, für die es eine Bezahlung gibt; sprich: Sie müssen genau das tun, was den Interessen des Kapitals entspricht. Karl Marx spricht von „ökonomischen Charaktermasken“, die die Menschen übernehmen: Sie sollen so handeln, dass sich das Kapital maximal vermehrt. Menschen werden zu „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse […], als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ (MEW 23: 100) Für ein friktionsloses Funktionieren ist auch wichtig, dass die Menschen nicht nur entsprechend handeln, sondern auch in dieser Logik denken: „Charaktermaske ist nicht einfach als Rollenvollzug zu übersetzen, sondern meint immer auch Rollenidentifikation durch implizite Beipflichtung. […] Da ist aber kein autonomes Individuum, das sich auf besondere Vorgaben einlässt oder noch deutlicher: sich bewusst dafür entscheidet.“ (Schandl 2007: 127)
Bezogen auf die obige Dreiteilung bedeutet das: Die äußere Welt wird zur Quelle der Identität. Das „eigene Ich“ definiert sich über seine Rollenidentifikation und geht in dieser Rolle mehr und mehr auf. Je totalitärer sich das Verwertungsprinzip in der äußeren Welt gebiert, umso drängender wird der Imperativ an das „eigene Ich“, diese Logik für sich voll und ganz zu übernehmen. Für das „eigene Selbst“ bleibt hier kein Platz.
Identität durch Konsum
Sind die Waren durch die Arbeiter produziert, so müssen sie von den Konsumenten gekauft werden. Daher sollen die Menschen auch in der Zirkulationssphäre gemäß den Interessen des Kapitals handeln und sich mit ihrer Rolle als Konsumenten identifizieren. Die moderne Wirtschaftswissenschaft hat dafür das Menschenbild des „homo oeconomicus“ kreiert: Der Mensch werde immer glücklicher, je mehr er kauft (und konsumiert). Implizit wird damit behauptet, dass die Interessen des Kapitals (Verkauf) deckungsgleich mit den Interessen des Menschen (Glück) sind.
Übersetzt in die obige Dreiteilung bedeutet dies, dass sich das „eigene Ich“ auch hier von der „äußeren Welt“ abhängig macht. Das menschliche Glück liegt im Außen, in den Konsumeinheiten. Die Gesamtsumme der realisierten Konsumeinheiten macht das Glück eines Menschen aus. Das „eigene Ich“ wird so zur maschinellen, unlebendigen Verrechnungseinheit: „Das Subjekt ist nicht ich selbst, sondern ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet mich und meine Identität.“ (Fromm 1979: 80) Auch in der Zirkulationssphäre ist kein Platz für ein „inneres Selbst“.
Halten wir also fest: Die eigene Identität kann nach dieser Dreiteilung prinzipiell aus zwei Quellen gespeist werden: aus dem „inneren Selbst“ oder aus der „äußeren Welt“. Spielt das „innere Selbst“ eine wichtige Rolle, so könnte das bedeuten, dass sich Menschen mehr Zeit für mehr Muße, die Pflege von Freundschaften oder die Entfaltung von künstlerischen Tätigkeiten entscheiden. Das „innere Selbst“ ist prinzipiell unberechenbar. Das könnte gefährlich für die kapitalistische Entwicklung werden.
Es liegt aber im Interesse der „allgemeinen Formel des Kapitals“, dass die „äußere Welt“ dominant ist: Menschen sollen in bestimmte Rollen gedrängt werden. Große Institutionen wurden geschaffen, die uns von Kindesbeinen an lehren, wie wir zu denken und zu handeln haben: Im Ausbildungssystem werden wir auf unsere Rolle als Arbeitskraft vorbereitet. Die Werbeindustrie versorgt uns tagtäglich mit 3.000 Werbebotschaften und macht uns zu brauchbaren Konsumenten. Dadurch haben die Menschen im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer besser gelernt, sich systemkonform zu verhalten und ihre eigene Identität aus der Erfüllung dieser Rollen zu schöpfen: Jemand ist heutzutage dann Tischler, Bankkauffrau oder EDV-Technikerin. Diese Rollen-Identität wird bloß noch mit dem Eigentum angereichert: Man ist wer, wenn man sich ein teures Auto, ein Haus oder einen tollen Urlaub leisten kann.
Angst vor Identitätsverlust
Definiert sich dann das „eigene Ich“ vor allem über seine Rolle als Arbeitkraft und Konsument, so bedeutet das umgekehrt, dass die eigene Identität in Gefahr ist, wenn diese Rollen nicht mehr (in diesem Ausmaß) zur Verfügung stehen.
Betrachten wir vorerst die Arbeit. Der Kapitalismus hat zur Arbeit ein ambivalentes Verhältnis: Zum einen ist die Arbeit die einzige Quelle des Wertes: Nur durch sie ist es möglich, dass die Geldvermehrung – im Prozess G-W-G´ – von einer Wertsteigerung begleitet wird. Zum anderen wird die Arbeit durch die beständige Steigerung der Produktivität wegrationalisiert. Wächst die Produktivität stärker als die Wirtschaft (was in den letzten Jahrzehnten der Fall war), wird Arbeit weniger. Das verschärft wiederum das Konkurrenzverhältnis am Arbeitsmarkt: Der Andere wird zum potentiellen Konkurrenten, insbesondere der die Arbeit besser und/oder billiger verrichtet.
In ihren Charaktermasken begegnen sich die Menschen im Kapitalismus als Konkurrenten um Arbeitsplätze und Einkommen. Konsequenterweise müssten sich dann alle Menschen – auf ihren Eigennutz bedacht – als Einzelkämpfer durchs Leben schlagen. Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat diese kapitalistische Logik schon im 17. Jahrhundert richtig durchdacht, wenn er davon spricht, dass in diesem System der Mensch dem Menschen ein Wolf sei („homo homini lupus“). Die Lösung sieht er in der staatlichen Gewalt. Nur durch diese höhere Gewalt könne ein gewaltloses Zusammenleben der Menschen hergestellt werden.
Die kapitalistische Logik ist jedoch in Reinkultur nicht lebbar. Dies zeigen nicht zuletzt die neuesten Erkenntnisse der Neurobiologie. In diesen Studien wird ganz deutlich, dass Menschen auf Kooperation angelegt sind: „Nichts aktiviert die Motivationssysteme so sehr wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung und – erst recht – die Erfahrung von Liebe“. (Bauer 2008: 37) Soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Menschen sind hauptsächlich für das Wohlbefinden der Menschen verantwortlich. Mit anderen Worten: Es ist unmenschlich, in einer permanenten Konkurrenzsituation zu stehen.
Der Mensch steht in der kapitalistischen Produktionssphäre in der Zwickmühle: Als soziales Wesen würde er gerne mit anderen kooperieren. Das kapitalistische System drängt ihn aber in die Konkurrenz. Werden die Arbeitsplätze weniger, so steigt die Gefahr, dass man den eigenen Job verliert. Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur Einkommensverlust, sondern stellt vor allem das Selbstverständnis des „eigenen Ichs“ in Frage: Wer bin ich, wenn ich den Job nicht mehr habe? Das macht Angst: je enger die Verknüpfung von Identität und Arbeitsplatz, umso größer die Angst.
Die Auflösung des Widerspruchs – Kooperation versus Konkurrenz – wird durch die Konstruktion von (nationalen, ethnischen, geschlechtermäßigen, etc.) Gruppen versucht. Innerhalb der als „eigen“ konstruierten Gruppe wird die Konkurrenz aufgegeben. Aus der potenziell individuell angelegten Konkurrenz wird eine Gruppenkonkurrenz. Die daraus abgeleiteten Slogans sind bekannt: „Österreich zuerst!“, „Zuerst die Arbeitsplätze für die Männer!“, „Keine weitere Zuwanderung!“ – Nationalismus, Rassismus und Sexismus stehen also in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Konkurrenzsituation des Kapitals.
Aber keine Regel ohne Ausnahme: Für den Fall, dass der Andere nicht der Konkurrent um den Arbeitsplatz, sondern der (kapitalstarke) Arbeitsplatz-Schaffer ist, wird die eben beschriebene Gruppenkonstruktion rasch außer Kraft gesetzt. Der Fremde ist dann kein Konkurrent. Er verursacht keine Ängste. Ausländische Arbeitskräfte sind in diesem Fall willkommen: Russische Milliardäre steigen bei österreichischen Baukonzernen ein. Kroatische oder türkische Spitzensportler und -sportlerinnen werden in österreichische Nationalteams aufgenommen. Slowakische Pflegehelferinnen dürfen nach Österreich kommen, weil keine Inländerinnen diese Arbeit (zu diesen Löhnen) machen. Und: Reiche englische Familien wie die Familie Rye sind in Abwanderungsregionen wie Obertraun gern gesehen.
Ähnliches ist in der Konsumwelt zu beobachten: Die große Angst ist hier die Angst vor dem Einkommensverlust. Mit weniger Einkommen kann das Konsumniveau nicht aufrechterhalten werden. Ist man ein schlechterer Konsument, so droht sozialer Abstieg: Man ist weniger, weil man weniger hat.
Vom Staat und damit von der Politik erwarten die Konsumenten konsequenterweise, dass sie für ständig wachsendes Einkommen sorgen. Gerät das System in eine Krisensituation, so kommt die oben beschriebene Gruppenkonstruktion wieder ins Spiel. Die Konsumenten erwarten, dass vor allem die eigene Gruppe bedient wird. Arme „nicht-eigene“ Menschen, die über kein besonderes Einkommen verfügen und dann vom „fremden“ Staat Unterstützungsleistungen erhalten, sind ein Ärgernis. Hat jemand schon selbst Einkommensverluste hinnehmen müssen und/oder befürchtet (weitere) finanzielle Einbußen, so wird er wenig Verständnis haben, dass „Andere“ Unterstützungsleistungen erhalten. Auch hier gilt: Je bedeutsamer der Konsum für die eigene Identitätskonstruktion ist, umso geringer wird die Bereitschaft sein, dass auch „Andere“ etwas erhalten.
Es ist nun völlig nebensächlich, ob es wirklich den Tatsachen entspricht, dass „fremde“ Personen und Familien – wie die Zogajs – staatliche Unterstützung erhalten. Entscheidend ist die öffentliche und veröffentlichte Wahrnehmung. Gerade weil in den letzten beiden Jahren die „eigenen“ Konsummöglichkeiten durch Krisenprozesse im Kapitalismus (Reallohnverluste für den Großteil der Bevölkerung) schon in Gefahr sind, gibt das Bild einer „illegal“ eingewanderten Familie die perfekte Folie ab, auf die sich die eigene Angst vor Identitätsverlust projizieren lässt. Die Zogajs müssen konsequenterweise weg, weil „wir“ uns vor sozialem Abstieg fürchten.
Kritik an der kapitalistischen Identitätskonstruktion
Die kapitalistische Logik hat sich in der „äußeren Welt“ breit gemacht und dehnt sich immer mehr aus. In einer solchen Welt muss das „eigene Ich“ seine Identität aus der „äußeren Welt“ der Konsum- und der Arbeitswelt speisen. Das „innere Selbst“ verkümmert irgendwo am Rande und wird vom „eigenen Ich“ gar nicht mehr wirklich wahrgenommen. Der moderne Mensch kennt sich selbst nicht mehr. Der Mensch ist sich selbst fremd geworden. Sein Inneres wurde mehr und mehr zu einer terra incognita, einem fremden Land. Weil sich der Mensch selbst fremd geworden ist, versagt er in der echten Begegnung mit dem Anderen. (Vgl. Gronemeyer 2010: 9ff.)
Nun könnte man sagen: „Wo liegt das Problem?“ Wenn die Menschen mit dem Spielen dieser äußeren Rollen wirklich glücklich und zufrieden wären, wäre dagegen auch wenig zu sagen. Aber es scheint eben nicht so zu sein, dass der moderne Mensch glücklich ist: Die moderne Glücksforschung zeigt, dass – ab einem relativ niedrigen Einkommensniveau – kein Zusammenhang zwischen „Glück“ und „Einkommen“ besteht. So hat sich beispielsweise in den USA seit den 1950er Jahren das Einkommen verdreifacht, der Anteil der Menschen, die sich als „sehr glücklich“ bezeichnen ist aber zurückgegangen. Auch die Arbeit ist keine Quelle des Glücks, wie häufig behauptet wird: Die unbeliebtesten Tätigkeiten sind einer Studie zufolge das Pendeln von und zur Arbeit sowie die Erwerbsarbeit an sich. Am schönsten sind die Tätigkeiten, die der Muße gewidmet sind: Sex, geselliges Zusammensein mit Freunden, Abendessen, usw. (Vgl. Binswanger 2006) – Also: Das Problem ist, dass dieses System nicht glücklich macht, ja gar nicht am Glück der Menschen interessiert ist.
Was ist zu tun?
Vermutlich geht es im Leben letztlich darum, sich selbst kennen zu lernen. Dafür braucht es die Kommunikation mit dem „inneren Selbst“. In der radikalen Denkweise des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart wird die alleinige Quelle des Glücks im „inneren Selbst“ verortet. Nur wenn es gelinge, jegliche Glückserwartung vom Außen abzulegen und sich rein auf das „innere Selbst“ zu verlassen, dann und nur dann könne man verspüren, wie „ich und Gott eines“ sind. Das ist in der religiösen Vorstellung von Meister Eckhart das Allergrößte. Erich Fromm deutet das so: „Laut Eckhart ist unser Ziel als Menschen, uns aus den Fesseln der Ichbindung und der Egozentrik, das heißt von der Existenzweise des Haben zu befreien, um zum vollen Sein zu gelangen.“ (Fromm 1971: 67)
Diese Entdeckungsreise ins „innere Selbst“ ist natürlich eine höchstpersönliche Angelegenheit mit ungewissem Ausgang. Es steht dabei nicht zu befürchten, dass wir uns dann alle von der „äußeren Welt“ abkehren und zu Einsiedlern werden. Ziel müsste sein, dass das „eigene Ich“ eine echte Mittlerfunktion zwischen innerer und äußerer Welt einnimmt und wir lernen, einen wichtigen Teil unserer Identität aus dem „inneren Selbst“ zu schöpfen. Vermutlich werden wir erst dann fähig, uns auf den Anderen einzulassen. Wahrscheinlich würden wir dann auch die Frage neu bewerten, wie viel Güter man wirklich zum guten Leben braucht und wie viel Aufwendungen dafür nötig sind. Es ist zu vermuten, dass die Antwort bei den meisten auf eine Reduktion des derzeitigen Konsumniveaus hinauslaufen würde.
Eine rein introspektionistische Antwort wäre aber zu wenig: Denn natürlich muss auch die Funktionsweise der äußeren Welt verändert werden. Langfristiges Ziel muss sein, die Logik der Geldverwertung (G-W-G´) außer Kraft zu setzen.
Literatur
Joachim Bauer (2008): Prinzip Menschlichkeit, München.
Matthias Binswanger (2006): Die Tretmühlen des Glücks, Freiburg im Breisgau.
Erich Fromm (1971): Haben oder Sein, München.
Marianne Gronemeyer (2010): Fremder. Gastfreund. Feind; in: Streifzüge Nr. 48, Wien.
Anselm Jappe (2005): Das Abenteuer der Arbeit. Münster.
Karl Marx, Friedrich Engels (1956ff): Werke, Berlin.
Franz Schandl (2007): Maske und Charakter, in: krisis Nr. 31, Nürnberg.