von Necati Mert
Welch ein Zufall der kontradiktorischen Dokumente. Seit einem halben Dutzend von Jahren am Horn von Afrika. Da trumpfen die trivialen Truppen „Operation Enduring Freedom“ auf. Da auf der Wasserstraße des Allwarenverkehrs zwischen dem Indischen Ozean und Roten Meer blüht ein Phänomen auf: Die Wiedergeburt der Seepiraterie.
Da stürzte zuvor die Republik Somalia ins Chaos der gewalttätigen Horden. Eine Provinz proklamierte ihre Souveränität. Puntland heißt sie, und man mutmaßt dort den Nährboden der zeitgenössischen Korsaren und den Golf von Aden als ihr Operationsgebiet. Da treffen sich Kriegsschiffe allerlei Staaten. Reden macht von sich eine erneute EU-Intervention unter dem Lemma „Atalante“.
Laut der laienhaft fabrizierten Nachrichten überfielen die See-Briganten im Jahr 2008 etwa 100 Frachter im Golf von Aden und im Indischen Ozean, haben rund 40 davon gekapert – bei etwa 25.000 Frachtern, die jährlich das Gebiet passieren.
Nicht viel weiß die Welt davon. Wenige können mit den Korsaren kommunizieren. Und sie rechtfertigen ihre Aktion als Antwort darauf, die reichen Fischgründe Somalias davor zu bewahren, daß sie vollständig ausgeplündert werden durch die Trawler aus dem Norden.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Jägerlatein-Literaten der medialen Gilde von dortigen Vorfällen erzählen, ohne jedoch auf den Tatort direkt Einblick nehmen zu wollen. Gerade darauf richtet sich das Augenmerk dieser Zeilen. Doch die Zivilisation scheint noch schlimmer darniederzuliegen.
Die Nachrichten über die Fehden am Horn von Afrika, die als Seemannsgarn oder Jägerlatein ausposaunt werden, bilden hier den Anlaß, einen leicht literarischen Beitrag zum urbanen Standpunkt der hinterweltlichen Oberhäupter des Blauen Planeten zu leisten.
Was ist wirklich los am Horn von Afrika? Als einzige Quelle der Kenntnisse, mit denen das breite Publikum des Planeten versorgt wird, kommt ein transnationaler Pakt der dort operierenden Flottenteile jener Staaten zum Vorschein, die sich als Gorillas der Global Players aufspielen. Was hat sich dort in einer kurzen Zeit von einem halben Dutzend Jahren ereignet, so daß alle größeren und mittleren Seemächte mit dem Gewese der Betroffenheit am Ort präsent sein wollen? Tatsächlich begannen am Ende 2008 vor den Ufern Ostafrikas maritime Heeresverbände jeglicher Großmächte von den USA über Rußland bis zur Volksrepublik China zu konzentrieren. Auch die Regionalmächte wie Iran entsandt Kriegsschiffe in das Gebiet, zum Schauplatz des transnationalen Aufmarschs, wo es sich um die sicheren Wasserstraßen des Warenhandels dreht.
Noch einmal die frostige Frage: Wie kam es zu solchen Übeltaten der Piraten-Profession in einer Erdgegend, wo seit 2002 die pan okzidentalen Panzerkreuzer der „Operation Enduring Freedom“ patrouillieren? Eine mächtige maritime Allianz gegen die Flottile derer, die bisher als arme Wilde über die Schulter angesehen wurden?
Was geht am Horn von Afrika wirklich vor? Wie gelingt es den lokalen Barbaren, die grandiosen Wasserstraßentransporter der Universal-Urbanen zu überfallen und dem Drehpunkt der globalen Handelsrouten dramatisch in die Quere zu kommen.
Läßt sich die Episode als Startschuß eines epochalen Aktes, die Botschaft eines zeitgemäß epischen Heroldes ins Gedächtnis rufen, daß ein Kontinent der Miseren und Malaisen sein Schicksal nicht mehr hinnehmen will? Daß seine Einwohner die Dilemmata, welche ihnen die OneWorldLords auferlegten, nicht mehr ruhigen Blutes ertragen können? Daß ihnen die Geduld reißt, auf Almosen und Brosamen zu warten, die in den auserkorenen Glorie-Galas der Galionsfiguren in den Nordiden-Zentren gespendet werden?
Es liegt nackt zutage: Der Blaue Planet gerät furios aus den Fugen. In allen Lebenslagen bäumen sich die Halden auf. Auch auf den Routen der Yachten, Frachter, Kreuzliner, Öltanker. Die Soldateska der begüterten Hochburgen soll solide in die Unrast eingreifen und den Wasserstraßenverkehr zwischen Ressourcen und Märkten absichern. Gegen die Piratenplage, die im Reich der Primitiven hervorbricht.
Man nennt sie See-Briganten, See-Guarilla, See-Räuber, See-Briganten, Freibeuter, Korsaren u.a.. Gefilmt hat sie noch niemand, und authentische Berichte über eine oder andere kühne Enteraktion auf Fähren und Frachter liegen nicht vor. Auch ein paar Stunden Stöbern im www-Dschungel bringt keine halbwegs klare Einblicke. Alles, was die Yuppies der Journaillen-Junta bieten, gehört ins Reich der Fabel.
Vom größten Korsaren-Komplex aller Zeiten ist die Rede und von Piratennestern entlang der somalischen Küste, die sich in kleine boom towns verwandelt hätten. Auch die Straße von Malakka zwischen Malaysia und Indonesien sowie das westafrikanische Ufer werden von Seeräubern unsicher gemacht, wird verbalisiert.
Im Jahr 2008 habe es laut der Internationalen Seefahrtsbehörde (IMB) bereits über 60 Piratenangriffe vor Somalia gegeben, die meisten im Golf von Aden, der das Rote Meer mit dem Indischen Ozean verbindet.
Also melden sich maritime Mächte zur Mannestat. Viel ist passiert seit zwei Jahrzehnten vor der somalischen Küste, lautet das Gebrüll in ihrem Luftschoß. In der Tat: Hier in diesem gefährlichen Gewässer der Piratenpower wurde neben dem saudischen Supertanker „Sirius Star“ eine französische Luxusyacht mit 30 Passagieren an Bord gekapert. Den See-Guerillas ist ein ukrainischer Frachter mit 30 Kampfpanzern für Kenia in die Fänge geraten. Die Zahlenkurve klettert empor: Da ist von 90 Überfällen im Jahr 2008 die Rede und von 16 Hochseefrachtern, die sich in der Hand der Korsaren befinden. Experten taxieren den Jahresumsatz von Lösegeld bei den Piraten am Horn von Afrika auf etwa 300 Millionen Dollar.
Während die Gehilfen der medialen Meute reichlich mit Seemannsgarn und Jägerlatein auf den Pudding hauen, bereiten die Potentaten der nordisch atlantischen Alliierten effektive Interventionen vor, geraten auch in Rivalitäten. Während z.B. die Ressortsregenten unter der Barolina an der Spree die mutwillige militärische Aktion unter der EU-Standarte starten wollen, bestehen Pentagoniens Strategen am Potomac auf den NATO-Stab. Und da stehen Rußland und China mit Fregatten, angeblich auch auf Piratenjagd, vermutlich eher, um ein Auge auf dieses Pulverfaß zu richten.
Die Möglichkeiten der überstaatlichen Flotte scheinen eine Menge Lücken zu haben, so daß die aus dem Irak-Krieg bekannte private Sicherheitsfirma „Blachwarter“ am Horn von Afrika das fette Geschäft riecht und beim Militärschlag gegen die Freibeuter die Finger mit im Spiel haben will. Bereits Ende 2008 plante sie eigene Sturmboote mit Söldnern und Helikopters in den Dienst zu stellen und Hochseetransportern potenter Kunden Begleitschutz zu gewähren.
Außer Zweifel erscheint, daß diese Nationen gegen die andere Art des Piratentums einschreiten, gegen die Fischfang-Frachter aus ihrer Hemisphäre. Was soll nun sonst sicher gemacht werden? Hohe Profite jener Seeräuber, also Thunfischfänger, die einst die Fischgründe Somalias überfielen und die Hiesigen zur gewalttätigen Reaktion provozierten? Diese Episode der Widergeburt des Piratentropus stößt beim breiten Publikum der Betuchten-Bastei hier im Alten Kontinent auf kein Verständnis.
Einem Bericht der FAO (UN-Landwirtschafts- und Ernährungsorganisation) zufolge drangen in den Jahren nach 1991 bis zu 700 ausländische Fischereiboote auf der Jagd nach Thunfisch, Hai und Shrimps dicht an die somalische Küste vor. Rücksicht auf die Einwohner der lokalen Subsistenz-Strukturen und Kommunität nahmen sie nicht. Laut einem Bericht der Londoner Menschenrechts- und Umweltorganisation Environmental Justice Foundation rammten die Invasoren die Nußschalen der Einheimischen, beschossen deren Insassen mit Wasserkanonen, kappten ihre Netze und nahmen dabei selbst den Verlust von Menschenleben in Kauf. Thomas Wagner führt in „junge Welt“ vom 12. Dezember 2008 folgende Episode aus:
„Über die heutigen Piraten am Horn von Afrika wissen wir weniger als über ihre historischen Vorgänger. Dennoch stellen sie Teile der herrschenden Medien als raffgierige Verbrecher dar, die womöglich mit den Terroristen von Al-Qaida unter einer Decke stecken. Dabei wird oft übersehen, daß die selbstorganisierte Küstenwache der Fischer aus der von ihren Clan-Chefs für autonom erklärten somalischen Region Puntland manchem Experten zunächst als vorbildliche Ordnungsinitiative von unten galt. Immerhin hat das Land 17 Jahre Bürgerkrieg hinter sich und kennt seitdem keine wirksamen staatlichen Strukturen mehr. Presseberichten zufolge sollen die ersten Piraten an der Küste Puntlands Fischer gewesen sein, denen illegal operierende Fangfabrikschiffe aus aller Herren Länder die Lebensgrundlage zerstörten, indem sie die thunfischreichen Gewässer ausplünderten. Weil keine staatliche Küstenwache vorhanden war, hätten die Fischer, unterstützt von Exmilizionären und technischen Experten, im Auftrag ihrer Hafengemeinden und Clans den Weg der bewaffneten Selbsthilfe beschritten. Sie brachten schwimmende Fangfabriken auf und erpreßten Wegezoll von Handelsschiffen, die illegal Giftmüll in den Küstengewässern verklappten.
Piratenforscher Haude hält es für plausibel, daß die arbeitslos gewordenen somalischen Fischer ihre seemännischen Fähigkeiten im Seeraub anwenden: ‘Das ist eine von wenigen brauchbaren Existenzstrategien.’ In Interviews mit der BBC oder der New York Times gaben einige Piraten an, aus sozialer Not zu handeln und die Beute untereinander und mit den Mitgliedern ihrer Clans zu teilen. Dessen ungeachtet wird eine High-Tech-Kriegsflotte aus Schiffen der NATO und der EU mobil gemacht. Man scheint sich auf die Parole geeinigt zu haben: ‘Gegen Piraten helfen nur Soldaten!’“
Die wahren Piraten jagen nach Mehrwert als Waren, die sie privatisieren, um maximale Profite zu erzielen. Dabei scheuen sie keine manierierte Manipulation. Zum Beispiel besitzen spanische Eigner die weltweit viertgrößte Flotte von Frachtern unter Billigflaggen und gehen ihrem täglichen Geschäft auf Briganten-Basis nach.
Je sicherer Marineverbände aus der EU, die Operation „Atalanta“, die Gewässer vor Somalia machen, umso rapider wachsen dann auch wieder die Extra-Profite dieser raffinierten Raubritter der Weltmeere.
Die Fangflotten aus der nordischen Halbkugel legen nicht nur die Thunfischgründe trocken, auch versenken sie ihren Müll vor der Küste Somalias.
Fangflotten folgen transnationaler Jagdflottile. Die korpulenten Korsaren aus dem Alten Kontinent, die den Golf von Aden coram publico in Müllgruben verwandeln und die dortigen Fischbestände ausräubern, erhalten von den maritimen Piratenjägern sogar rüstigen Rückhalt. Diese Marineverbände halten über die weltläufigen Rivalen der renommierten Raubritter den Schild und präsentieren sich systematisch als präventive Patrouillen einer stattlichen Staatengemeinschaft, die Ellenbogenrecht praktiziert und weitläufig die Privation der kollektiven Reichtümer auf Touren bringt.
Noch einmal zurück zum Rundblick auf den Ausbruch: Die explosive Rückkehr der Piraterie am Horn von Afrika hat damit zu tun, daß in Somalia seit weit mehr als einem Jahrzehnt keine Staatsgewalt mehr existiert. Doch jene Mächte, welche die dortigen Zustände beklagen, wissen damit durchaus etwas anzufangen: Hochseeflotten, vorwiegend aus dem Umland der EU, lauerten auf eine günstige Gelegenheit, in den somalischen Hoheitsgewässern schrankenlos zu fischen, andere wiederum freuten sich, für ihren Giftmüll einen Ablageplatz zum Nulltarif gefunden zu haben. Daß dabei die Fische vergiftet werden, die die Trawler herausholen und an den Markt bringen, gehört eben zu den Mißverhältnissen, die die kapitalistische Gewinngier in sich birgt.
Danach fragt der gute Mensch aus Zivilisierten-Zentren einen Dreck. Und wenn er vor dem Bildschirm erfährt, wie die Fregatten seines Landes vor dem Piratenport patrouillieren, tun sie das natürlich mit den anständigen Absichten, internationaler Kriminalität entgegenzutreten. Sie führen Krieg, um diejenigen, die ihren Expansionsambitionen ins Gehege kommen, wieder in das Reservat der Parias zurück zu zwingen. Trotz des Aufmarschs reihenweiser Seestreitverbände stiegen die Piratenangriffe im Januar 2009 auf ein neues Rekordniveau. Dreiundzwanzig Frachter wurden attackiert, drei Kaperversuche gelangen.
aus: Die Brücke. Forum für antirassistische Politik und Kultur, Heft 151, Saarbrücken 2009, S. 28-30