Poesie des Lokalkolorits

Wider die Normierung und Uniformierung der Welt – Ein Streifzug

von Maria Wölflingseder

Ist es nicht verrückt, einerseits werden Individualität und Originalität, Besonderheit und Einzigartigkeit als Anspruch hochgehalten, andererseits wird die Welt seit über hundert Jahren immer einförmiger und eintöniger? Obwohl heute die früheren einzwängenden Normen und Sitten großteils abgeschafft sind, und alles möglich und erlaubt ist, verkommt das Leben mehr denn je zum Abziehbild, zur Kopie, zum Klischee. Life gestylt, political correct und klinisch sauber. Standardisierung, Formatierung, Regulierung, Fixierung, Datierung, Registrierung, Kanalisierung, Markierung, Normierung greifen um sich, erfassen immer mehr Bereiche des Lebens und die Menschen selbst. Der Sog zur Uniformierung ist so mächtig und wird als so selbstverständlich hingenommen, dass er kaum noch auffällt, geschweige denn hinterfragt wird.

Egal auf welchem Flughafen ich lande, sie sehen sich rund um den Erdball zum Verwechseln ähnlich. Egal auf welchem Bahnhof ich aussteige, überall dasselbe Ambiente. Worin unterscheiden sich Kleidung, Schuhe, Spielzeug, elektronische Geräte oder Alltagsgegenstände hierzulande von jenen anderswo? Auch die Architektur ähnelt sich überall auf der Welt, genauso wie Badestrände oder Wellness-Tempel. Ganz zu schweigen vom Essen und Trinken: Egal wohin du kommst, McDonalds, Coca Cola & Co. sind schon da. Und die Musik, von der du in den Shops, Bars, Bussen oder Toiletten rund um den Globus beschallt wirst, ist auch selten auseinander zu halten. Genauso wenig wie Hunderte von Fernsehsendern. Allenthalben variieren Gesichter und Physiognomie der Erdenbewohner. Aber auch an der Vereinheitlichung dieser Charakteristiken wird fleißig gebastelt.

Ja, der Druck zur Uniformierung reicht längst bis zur invasiven Veränderung des Körpers. Nicht nur schön sollten Gesichtszüge und Körperpartien sein – was immer gerade auch als schön in Mode sein mag –, sondern weltweit steht europäisches Aussehen mit den Attributen hellhäutig, groß, blond, blauäugig hoch im Kurs. Asiatinnen lassen sich nicht nur ihre Schlitzaugen „umbauen“, sondern versuchen auch an Körpergröße zuzulegen. Kaum von der traditionellen Fußverkrüppelung befreit, lassen sie sich die Ober- und Unterschenkelknochen brechen und in Metallgehäuse vernageln, damit während die Beine in die Länge gezogen werden, neue Knochenmasse nachwächst. Nach fünf schmerzvollen Monaten und einem Plus von zehn Zentimeter Körpergröße erhoffen sich Kleinwüchsige endlich einen Job oder einen Mann. (Der Standard, 31.1./1.2.2004) Auch im karibischen Raum wird fleißig auf nördliche bzw. westliche Standards umgemodelt. Helle Hautfarbe gilt als Erfolg versprechender als dunkle. Michael Jackson wird nicht der Einzige sein, der sich bleichen hat lassen.

Auf den ersten Blick mag das wie eine weltweite „Selbstarisierung“ erscheinen. Aber die Wurzeln solcher Selbstverkrüppelungen liegen wohl bereits im Kolonialismus und für die abstrusen, makabren Blüten sorgt unser Gesellschaftssystem, von dem immer mehr Menschen ausgespieen werden. Dadurch wird der Anpassungsdruck an herrschende Normen, die der Markt aus dem Hut zaubert, offenbar unausweichlich. Dieser Druck wird wiederum pflichtbeflissen in vorauseilenden Gehorsam verwandelt, die Order klaglos verinnerlicht. Von Kopf bis Fuß, von der Kleidung bis zu den Zähnen, vom Lächeln bis zur Stimmhöhe, von der Bewegung bis zum Denken – alles wird modifiziert und zum zweckrationalen Optimum konformifiziert.

Aber auch den Europäern verhilft ihr europäisches Aussehen nicht zwingend zum Erfolg. Die Konkurrenz ist überall und riesengroß. Kahlköpfigkeit etwa ist für Männer ein Karrierekiller. Die Chancen, einen Job zu ergattern, wurden vielfach erhoben und berechnet. In Island verdienen blonde Menschen 10 Prozent weniger als der Durchschnitt. Große mit hellbraunem Haar verdienen am meisten. In Deutschland sind lockige Haare und blaue Augen gefragt. Männer ab einer Größe von 1,89 Meter haben mehr Glück. Sie bekommen durchschnittlich um 12,4 Prozent mehr Gehalt als ihre Geschlechtsgenossen unter 1,80 Meter. Bewerber beiderlei Geschlechts haben mehr Chancen, wenn sie hoch gewachsen, schlank und mit tiefer Stimme ausgestattet sind. (Vgl. Frank-Rainer Schurich) – Kein Wunder, dass alles daran gesetzt wird, das „Designer-Baby“ in Serie gehen zulassen.

„Menschliche Monokulturen“

Die Gleichheit der Menschen vor dem Geld als höchstes Kriterium unserer Vergesellschaftung führt also ohne Umschweife zur Angleichung ihres Aussehens. Mit den Gedanken, Gefühlen und Charakteren sieht es nicht viel anders aus. Alfred Goubran schreibt in seinem Erzählband „Ort“ über die „Typisierung“ von Menschen. Er vermisst nicht nur Zeitgenossen, die „eigen“ sind, sondern überhaupt den „anarchischen Grundwasserpegel“. „Wo er gesenkt wird, geschieht es auf Kosten des ,Originals‘. Die Austrocknung fördert den Anbau von Typen, die Folge sind menschliche Monokulturen. Langeweile greift um sich, das Verlangen nach Zerstreuung, nach ,Bewegt-werden‘ steigt; es fehlt an Humor, kaum einer, der noch ein Urteil in sich trägt. Die herzerfrischendsten Vorurteile verschwinden, alle sind differenziert, die Wagnisse kalkuliert, die Ausgelassenheit vorsätzlich, die Farben blass und geschmacklos. Man könnte das fortsetzen. … Mit Menschen hingegen, die „eigen“ sind, „ist das Leben nicht langweilig. Das ist heute viel: Ein Leben. Ob es im Öffentlichen, vor allem in den ,germanischen Ländern‘ überhaupt noch möglich ist, bezweifle ich längst. Die Normierung erreicht hier andere Grade, als in den südlichen und den romanischen Ländern.“ (S. 52/53)

Normierungen setzen sich in verschiedenen Regionen unterschiedlich schnell durch. Sie hängen von vielen Faktoren ab – nicht zuletzt von der Mentalität der Menschen. Wohin alles und jedes – trotz gelegentlicher lokaler Widerspenstigkeiten – strebt, veranschaulichen die Umwälzungen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Individuen haben sich in den letzten 20 Jahren kontinuierlich dem Westen ökonomisch und emotional angeglichen. Die gewonnene Freiheit war mitnichten dazu angetan, Veränderungen und Entwicklungen anders zu gestalten. So etwas wäre gar nicht möglich gewesen.

Der reisefreudige, weltoffene Schriftsteller Stefan Zweig sah bereits 1925 die Besonderheiten verschiedener Kulturen mit Bedauern immer mehr schwinden. In seinem Aufsatz „Die Monotonisierung der Welt“ hat er an den Beispielen Tanz, Mode, Kino und Radio den „allgleichen herdenhaften Geschmack“ aufgezeigt, dem sich das Individuum bereitwillig fügt. „Es wählt nicht mehr vom inneren Wesen her, sondern es wählt nach der Meinung der Welt.“ Das Individuelle stirbt „zugunsten eines Typus“ ab. Auch „in der Literatur wird die Praxis der raschen Mode, des ,Sensationserfolges‘ eingetrieben. Schon gibt es, wie in England, nicht mehr Bücher für Menschen, sondern immer mehr das ,Buch der Saison‘, schon breitet sich gleich dem Radio die blitzhafte Form des Erfolges aus, der an alle europäischen Stationen gleichzeitig gemeldet wird und in der nächsten Sekunde abgekurbelt wird. Und da alles auf das Kurzfristige eingestellt ist, steigert sich der Verbrauch…“ (S. 32/33)

Heute ist die Gleichförmigkeit in der Literatur kein großes Thema, sondern herrschende Realität. Kritik wie jene des Autors Bernhard Hüttenegger aus dem Jahr 1999 muss mit der Lupe gesucht werden: „Wir erleben eine totale Vereinheitlichung der Welt (vom Essen über Kleidung, Unterhaltung bis zur Kunst und zum Denken). Einfalt statt Vielfalt. Als ,Überbau‘ einer Wirtschaftsstruktur, der ein grenzenloses Mischmasch von Einheitsmassenkonsumenten recht ist. Die Zuchtrute (zur Gleichschaltung) gegen Abweichler heißt außenpolitisch ,Menschenrechte‘ (plus Bomben) und innenpolitisch ,Politische Korrektheit‘ (plus Ausgrenzung). Ein solcher moralisch verbrämter Totalitarismus ist der Tod der Kunst, bedeutet die Abschaffung des Denkens. … Schönfärberei als scheinbare Weltverbesserung, die ,Euphemismen des Fortschritts‘ reichen als Methode nicht mehr aus. Nun dürfen dem idealen Weltbild widersprechende missliche Tatsachen überhaupt nicht mehr genannt werden. Wahrnehmungsverweigerung, Wirklichkeitsausblendung ist gefordert. Mit geschlossenen Augen und zensuriertem Vokabular – wie sollte so ein Schriftsteller seine Arbeit tun?“ (S. 54)

Hat die Macht der Moden, Trends, Strömungen, Booms und Hypes bald ihren Höhepunkt erreicht? Haben die ökonomischen Prämissen Rationalisierung und Gewinnoptimierung nicht schon genug in allen Sphären des Lebens Platz gegriffen? So wie Tomaten besser gelagert, transportiert und vermarktet werden können, wenn sie einander in Form, Größe und Konsistenz gleichen, so sind auch Individuen leichter berechen- und dirigierbar, wenn sie möglichst gleich ticken. Noch effizienter wäre es, wenn Tomaten eckig und Menschen mit Chips ausgestattet wären. Beides ist bereits in Arbeit.

Die beschworene Einzigartigkeit des Individuums scheint nur ein probates Lockmittel zu sein. Ein Lockmittel in das Reich der Beliebigkeit. (Eine tautologische Wirklichkeit, vergleichbar mit den verheißungsvollen 0-Euro-Angeboten: Alles gratis, aber dein Geld ist uns sicher.)

Als Event auferstanden

Manche mögen einwenden, es gäbe doch Bemühungen wie das aktuelle von der UNO ausgerufene internationale Jahr der Biodiversität, der Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren. Außerdem wäre „Diversity“ sogar Unterrichtsfach in Arbeitslosenkursen: Vielfältigkeit bezüglich Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion etc. von Lohnarbeitenden in Unternehmen. Weiters würden Weltkultur und -naturerbe durch die UNESCO geschützt. – Letzteres kann wohl nur als ein kümmerlicher Rettungsversuch bezeichnet werden. Wenn einem Staat Wichtigeres einfällt als Natur und Tiere zu schützen – zum Beispiel nach Öl und Gas zu bohren – sind wir schnell wieder enterbt. Meist wird das Gütesiegel nur akzeptiert, wenn touristischer Mehrwert daraus geschlagen werden kann. – Apropos Mehrwert: Wie hat Peter Turrini diese einzige Form der Daseinberechtigung in einer Hommage des Tiroler Volkskundlers Hans Haid treffend beschrieben? Er „stimmt nicht nur die Totenklage an, er sagt auch, wie und in welcher Gestalt das Zerstörte, das Vernichtete wieder aufersteht: als Surrogat, als Imitat, als Kitsch, als Unterhaltung, als Event, als Geschäft. Damit trifft er meiner Überzeugung nach den Nerv der westlichen Kultur: Sie lässt hochleben, was sie zuvor getötet hat. Nachdem der letzte Indianer umgebracht war, begannen die Indianer-Filme, nachdem die Volksliedsänger verschwunden waren, traten sie als Hansi Hinterseer im Fernsehen auf (oder als Ethno- und World-Musiker auf den Bühnen, Anmerkung M.Wö.). Als unsere Lebensmittel nachhaltig vergiftet waren, kam es zur Gründung der Bio-Läden, und so weiter, und sofort.“

Das Jahr der Biodiversität wird – wie alle UNO-Jahre – gegen das rapide Artensterben wenig ausrichten. Besonders dramatisch ist die Lage was das Saatgut für Lebensmittel betrifft. Stichwort Patente, Gentechnik, Monokulturen und Einsatz von Pestiziden etc. Die UNO unterstützt zwar Projekte, die all dem entgegenarbeiten, aber wird das ausreichen, um uns den völlig denaturierten, kontaminierten, geschmacklosen „Einheitsbrei“ am Teller zu ersparen? Wer sich in dieses Thema vertieft, dem bleibt der Bissen im Hals stecken. Mit Sicherheit eine der besorgniserregendsten Entwicklungen, die jeden Menschen jeden Tag elementar betrifft.

Rein gar nichts zu bemerken ist von einer menschlichen Diversität in Unternehmen. Dabei kann es sich nur eine Fata Morgana handeln. Sogar 35-Jährigen wird am Arbeitsamt Bedauern ausgesprochen, weil sie zu alt für den Arbeitsmarkt seien.

Verarmung an Sprachen

Wissenschaftler schätzen, dass die 10 Millionen Menschen, die vor 15.000 Jahren unseren Planeten bevölkerten, insgesamt 10.000 Sprachen gesprochen haben. Heute sprechen sechs Milliarden Menschen nur noch etwa 6.500 Sprachen. In unserem Jahrhundert werden nach Schätzungen der Linguisten fünfzig bis neunzig Prozent davon aussterben. Sprachen sind in der Geschichte immer neu entstanden und wieder verschwunden. Die Hauptgründe dafür sind politischer und ökonomischer Art: der Kolonialismus einerseits, die Nationsbildung andererseits. Aber so rapide wie heute wurden sie noch nie dezimiert.

Manchen mag die Verarmung an Sprachen als kein großer Schaden erscheinen. Heute wird sogar Englisch nicht nur als Lingua franca – also als Verkehrssprache –, sondern auch als neue Gemeinsprache Europas gefordert. In der Wissenschaft hat sich Englisch bereits als Weltsprache durchgesetzt. Wer international wahrgenommen werden will, tut dies in der Universalsprache. Manche Wissenschaftler wenden ein, dass mit der Vormachtstellung des Englischen auch die Übernahme bestimmter Denkweisen, Normen und Modelle aus dem angloamerikanischen Raum verbunden sei.

Eine besondere Hürde stellt das Englisch für viele Schriftsteller dar. Die Bücher einer „kleinen“ Sprache werden meist erst über den Umweg einer englischen Ausgabe ins Deutsche übersetzt.

Karl-Markus Gauß, Autor zahlreicher Bücher über die aussterbenden (Sprach-)Minderheiten in Europa vergleicht den Versuch, Englisch in Europa als allgemeine Sprache zu etablieren, mit dem „abgelebten Traum, mit dem Esperanto eine Weltsprache zu schaffen“. Dieser Traum sei „heillos an die Ideologie des erpressten Fortschritts verloren. Er ist von der Vision der Einheit besessen, von der vernünftigen Ordnung, in der die Reihen gleichförmig gestanzter Staatsbürger allezeit einsatzbereit dastehen… Diesem Fortschritt, der sich selbst dann, wenn er sich auf die Vernunft beruft, nie anders denn in Kategorien des Staates, der Macht und der Ordnung versteht, als Staat gewordene Macht der Vernunft etwa, diesem Fortschritt gerät alles zur Störung, was die Menschen von ihren abweichenden, vermeintlich reaktionären, partikularistischen Traditionen nicht bereit sind preiszugeben. … Was das vaterländische Europa der Wirtschaftsstrategen braucht, sind fungible, gedächtnislose Arbeitskräfte, die sich problemlos von da nach dort verpflanzen lassen, und Führungskräfte, die einzig in ihrem Konzern und ihrer Karriere zu Hause sind: Das Europa der Muttersprachen ist solchem Fortschritt nichts als ein gefährliches Hindernis.“ (S. 192f.)

Jede Sprache ein Kosmos

Mit dem Aussterben einer jeden Sprache verschwindet ein Stück Kultur. Der Niedergang der Sprachenvielfalt bedeutet einen großen Verlust. Einen Verlust an unterschiedlichen Perspektiven, unsere Welt und unser Dasein zu begreifen und zu verstehen.

Denn die Verschiedenheit der Sprachen „ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst“. (Wilhelm von Humboldt 1820 in seiner ersten Rede vor der Berliner Akademie, vgl. Trabant S. 325) In jeder Sprache spiegelt sich eine ganz bestimmte Wahrnehmung wider: Die einen haben unzählige Wörter für die Beschaffenheit von Schnee, die anderen keine Wörter für Zahlen, die dritten keines für Arbeit. Wenn das keinen Unterschied macht! Charakteristisch ist auch der unterschiedliche Klang einer Sprache, der genauso wie die Mentalität der Menschen oder ihre Musik von der Umgebung geprägt ist – zum Beispiel vom Meer, den Bergen oder der Wüste.

Das Erlernen einer Sprache ist stets ein Eintauchen in einen anderen Kosmos. Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant schreibt: „Natürlich setzt jede Sprache Grenzen, Mauern, an denen man sich Beulen holen kann. Aber gerade deshalb ist es ja wichtig, dass es nicht nur eine davon gibt, sondern viele, die andere Grenzen setzen. Jede entdeckt dabei etwas Anderes, das die andere nicht gesehen hat.“ (S. 324) – Derselbe Gedanke findet sich an Hand schöner Beispiele in den Romanen von Günter Ohnemus, der auch als Übersetzer aus dem amerikanischen Englisch tätig ist.

Trabant plädiert für die Dreisprachigkeit der Europäer. Jeder sollte seine Muttersprache beherrschen, Englisch als Lingua franca und eine Sprache, zu der er so etwas wie ein Liebesverhältnis hat. Eine einzige Sprache wäre zwar „das kommunikative Paradies“, aber gleichzeitig „die kognitive Hölle, ein Triumph der Dummheit.“ (S. 325)
Melinda Nadj Abonji, Angehörige der ungarischen Minderheit in Serbien, die seit vielen Jahren in der Schweiz lebt, hat heuer den deutschen Buchpreis gewonnen. In einem Interview mit Kristina Pfoser (Ö1, 5.10.2010), betont sie die Bedeutung der Muttersprache. Sie brauche sie nicht aus nationalistischen Gründen, sondern aus Liebe zu dieser Sprache, aus Liebe zum charakteristischen Klang, aus Liebe zur Musik dieser Sprache – das sei geradezu ein körperliches Bedürfnis. Abonji kritisiert die Sozialwissenschaftler, die dieses Phänomen stets außer Acht ließen. – Eine Gesellschaft, in der in verschiedenen Kulturen und Sprachen gelebt werden darf, ersehnen sich hoffentlich nicht nur die Eingewanderten.

Sprache und Kultur sind natürlich nie statisch. Es gibt immerzu Wandlungen, weil sie verändert und auch von anderen Sprachen und Kulturen beeinflusst werden. Was wäre das Wienerische ohne Wörter aus dem Jüdischen, dem Slawischen oder auch aus dem Französischen der Kaiserzeit?

Heute prägt jedoch vor allem die Sprache des Fernsehens. Die österreichischen Dialekte verschwinden kontinuierlich. Die einschlägigen Klänge und die mannigfaltigen Ausdrücke bald gänzlich perdu? Ist der Ersatz – ein österreichweites Pseudo-Hochdeutsch – nicht eine Beleidigung für den Gehörsinn? – Die Sprache der Unterhaltungsindustrie hui, Dialekte pfui?

Auch das Deutsch Österreichs hat es gegenüber dem Deutsch Deutschlands nicht nur im Zuge der „Televisionierung“ schwer. In Büchern dürfen keine österreichischen Ausdrücke vorkommen – das sei den deutschen Lesern nicht zuzumuten. Oder damit uns die deutschen Urlauber verstehen, ist man in Fremdenverkehrsregionen oft aufs deutsche Deutsch umgestiegen. Kürzlich haben die Wiener Linien einen heiß umstrittenen deutschen Ausdruck eingeführt. In den hiesigen U-Bahnstationen sind die Worte „Zurückbleiben, bitte!“ zu vernehmen. Es sind akkurat jene, mit denen die Berliner U-Bahn abgefertigt wird. „Zurückbleiben“ gehört jedoch in seiner Imperativ-Form mitnichten zum österreichischen Wortschatz, wie Daniela Strigl in einem überaus treffenden „Kommentar der Anderen“ klarstellt. (Der Standard, 9./10.10.2010) Sie kritisiert „das obrigkeitliche Anlehnungsbedürfnis an bundesdeutsche Sprachregelungen“, das zuletzt „deutlich zugenommen“ hat.

Englisch ist cool – Slawisch nicht der Rede wert

Ein deutliches West-Ost-Gefälle stellt die Hierarchie der Sprachen Europas dar. Der jeweilige Platz entspricht dem Status, dem Image des Landes, in dem eine Sprache gesprochen wird. Sprachen werden demnach „westwärts“ gelernt. In Österreich wird in den Schulen seit langem und noch immer v.a. Englisch und Französisch gelehrt, neuerdings auch Spanisch. Heute schicken die Eltern ihre Kinder häufig in einen englischen oder französischen Kindergarten, in ebensolche Volksschulen oder Gymnasien, die zahlreich gegründet wurden. Hingegen eine slawische Sprache zu lernen, geschweige denn Türkisch oder Rumänisch, ist in Österreich und in anderen westeuropäischen Ländern verpönt. Wenn, dann höchstens aus Gründen des Business. An der Klagenfurter Universität gibt es das Studium der Kulturwissenschaften. Der Lehrplan beinhaltet auch, eine neue Fremdsprache zu lernen. Auf die nahe liegende Idee, Slowenisch zu lernen, kommt aber niemand. Die Sprache der Kärntner Minderheit ist alles andere als prestigeträchtig. – Anglophil und frankophil sind geflügelte Ausdrücke, aber slawophil? Wer ist das schon?

Woher rührt das distanzierte Verhältnis zu den slawischen Nachbarn? Drei Erklärungsversuche:

Der aus Russland stammende Schriftsteller Vladimir Vertlib meint: „Die slawischen Wurzeln vieler Österreicher, die gemeinsame Geschichte möchte verdrängt werden… Osteuropa ist aber zum Schatten Westeuropas geworden“, den wir meiden, weil „Osteuropa für Aspekte unserer Identität steht, die wir gerne verdrängen oder überwunden zu haben glauben“. Osteuropa werde uns erst geheuer sein, „wenn auch dort die gesamteuropäische Cappuccino-Kultur“ Einzug gehalten und „über die lästige Vergangenheit gesiegt hat“. Vertlib trifft der Nagel auf den Kopf: Spanisch zu lernen, Völkerkunde zu studieren, der Urlaub in Kuba, der Trommelkurs in Senegal, die Motorradtour durch Thailand, der Gesang buddhistischer Mönche allemal reizvoller als alles Slawische.

Und Karl-Markus Gauß vermutet eine Portion Selbsthass: „Karl Kraus schon hat darüber gespottet, dass die schlimmsten Slawenfresser des Alldeutschtums in der Untersteiermark Kokoschinegg, Stepischnegg, Jessenko, Ambrositsch, Pollanetz hießen…“ (S. 80)

Bronislaw Geremek, Historiker und ehemaliger Außenminister Polens, drückte es kurz und treffend aus: „Europa hat Angst vor sich selbst.“

Anglizismus als rettender Angel?

In der deutschen Alltagssprache haben sich in den letzten Jahren Unmengen von Anglizismen breit gemacht – in Österreich noch stärker als in Deutschland. Nicht nur bedingt durch die Wissenschafts- und Computersprache, sondern auch in der Geschäftswelt, in der Freizeitindustrie und der Wellness-Branche. Wird damit in wirtschaftlich schlechten Zeiten versucht, den Nimbus des Erfolgs nochmals heraufzubeschwören? Die Sprache der USA als Rettungshalm – jener Großmacht, in der die Verwertungsmaschinerie einst am geschmiertesten gelaufen ist?

Plötzlich gibt es Berufsbezeichnungen in den Jobinseraten fast nur mehr in diesem Neusprech. Ob der Arbeitswelt nochmals auf die Sprünge geholfen werden kann, wenn die Sekretärin plötzlich „Executive Assistant“ heißt, der Kundenbetreuer „Key Account Manager“, der Personalchef „Human Ressource Developer“, die Telefonistin „Call-Center-Agent“ oder der Hausmeister gar „Facility Manager“?

Regelrecht zum nationalen Kampfbegriff ist der Begriff „Employabililty“ geworden. Michael Gemperle vom Soziologischen Seminar in St. Gallen über dieses Vokabel: „Ein englischer Begriff wirkt natürlich weniger unangenehm und autoritär als die Aufforderung ,Ihr müsst euch anpassen‘. Die Funktion dieses ,new speak‘ wird häufig unterschätzt.“ (Der Standard, 21./22.8.2010)

Was die Berufsbezeichnungen betrifft, wird neuerdings ein bisschen zurückgerudert: „Die Verwendung englischer Berufsbezeichnungen in Stellenanzeigen nimmt seit der Finanzkrise verstärkt ab. Viele Unternehmen bemühen sich inzwischen sehr um korrekte deutsche Bezeichnungen. Die weltweite Bankenkrise mit ihren Milliardenverlusten hat nämlich ihre Auswirkungen. Die ,financial analysts‘ haben falsch analysiert, die ,finance directors‘ haben falsch entschieden und die ,risk manager‘ haben sogar völlig versagt.“ (http://privatschule-eberhard.de/interessant/berufeeng.htm)
Vielleicht werden auch all die anderen Zauberformeln mitsamt ihren hohlen Inhalten bald entmystifiziert. All die Welt des „Go Out & Have Fun“, des „Fashion & Style“ mitsamt ihren „Push-up-Höschen“ und „Controle-BHs“, ganz zu schweigen von all den hippen Freizeitkicks: von Free climbing über Bungee jumping bis zu Slack linen. Man geht in kein Bad mehr, sondern in ein Spa. Muße ist längst out, Chillen ist in. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Uniformiertheit hat ihre Codes.

Wer heute die vorgegebenen Normen – auch Sprachnormen – nicht erfüllen kann, wer nicht mitkann mit den Moden, Trends, Booms und Hypes ist out. Weg vom Job, auch schnell weg von der Behausung und einem gedeckten Tisch. Nirgends wird der Normierungszwang deutlicher: Für das neueste Handy oder ein Paar Sneakers riskieren Jugendliche Kopf und Kragen – ihren eigenen und den des Überfallenen.

Während der Arbeit an diesem Artikel geisterte immer wieder das Hobellied aus Ferdinand Raimunds Stück „Der Verschwender“ von 1834 in meinem Kopf herum. „Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich.“ Damit war die Erlösung von der Ungleichheit im Leben durch das Schicksal oder den Tod gemeint. Heute würde dieser Satz auch anders zu interpretieren sein. Wir sind vom ersten bis zum letzten Atemzug bei Strafe des Ausschlusses zur Uniformierung angehalten. Allerdings ist auch Angepasstheit schon lange kein Garant mehr für ein existentiell unbedrohtes Leben. – Eine menschliche Welt hingegen wird reich sein. Reich im Sinne von vielfältig – voller Spezialitäten und Delikatessen, voller Originale und Unikate, also voller Phantasie und Poesie.

Literatur

Karl-Markus Gauß: Das Europäische Alphabet, München 2000 (Wien 1997).
Alfred Goubran: Ort, Wien 2010.
Bernhard Hüttenegger: Alphabet der Einsamkeit – Notizbuch 1973–2006, Klagenfurt/Wien 2008.
Frank-Rainer Schurich: Der perfekte Jobkandidat, in: Neues Deutschland, 11./12. Mai 2002.
Peter Turrini im Vorwort zu Hans Haid: Sie nehmen auch den Schnee (hg. von Gerlinde Haid), Innsbruck 2003.
Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies – Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München 2003.
Vladimir Vertlib: Unser Schatten im Osten, in: Zwischenwelt Nr. 3/4, April 2005, Wien.
Stefan Zweig: Die Monotonisierung der Welt, in: Zeiten und Schicksale – Aufsätze und Vorträge 1902–1942, Frankfurt/Main 1990.

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