Nix wissen!

Über die Anästhesie der Aufdringlichkeiten

von Franz Schandl

Die Informationslawine hinterlässt ihre Spuren. Sie schüttet uns ständig zu.

Wissen ist Ohnmacht. Wir kennen uns nicht mehr aus. Das Wissen, das nötige und noch mehr das unnötige, erdrückt zusehends jede mögliche Reflexion des Gewussten. Kenntnis zerstört Erkenntnis. Wir sind dem einfach nicht gewachsen. Was wir nicht alles zu wissen haben. Die Fülle der Beeindruckungen ist jenseits unserer geistigen Kapazität. Jene verkleistert das Hirn, man ist nie frei, sondern immer beschlagnahmt. Wir können bei bestem Willen nicht rezipieren, was uns geboten oder besser aufgedrängt wird. Wir haben nicht die Zeit uns zu konzentrieren, bestenfalls gelingt uns eine Hinnahme, zur Aufnahme selbst sind wir nicht mehr fähig.

Dass Kapieren und Reflektieren nicht unbedingt identisch sind, will manchem Kopf gar nicht erst kommen. Wissen, obwohl Voraussetzung der Reflexion, beseitigt sie immer mehr. Je mehr wir wissen können und sollen, desto weniger gelingt es Erkenntnisse zu gewinnen. Unsere Aufmerksamkeiten bewegen sich in einem Brei. Wir sind überfordert, geben das Tempo nicht vor, sondern hecheln hinten nach. Der Geschwindigkeit nicht gewachsen, versuchen wir doch irgendwie mitzukommen. Irgendwie.

„Daher darf man den ganzen Müll, den man täglich hört und liest, auf keinen Fall abspeichern“, schlägt Karli Sackbauer alias Klaus Rott im VOR-Magazin vor. Das wäre einfach. Denkste, wir verfügen über keine Knöpfe und auch keine Säcke, die den Abfall ausschalten oder wegsperren könnten. Wir entscheiden nicht, was gemerkt und vergessen werden soll. „Bei einem Ohr rein, beim anderen wieder raus“, funktioniert so nicht. Stets bleibt was hängen, mögen wir uns darüber Rechenschaft ablegen oder nicht. Der Zugriff ist nicht unserer, aber er hat uns fest im Griff. Wenn ich etwas nicht wissen will, heißt das nicht, dass ich es nicht weiß.

Wie komme ich eigentlich dazu, Richard Lugner und alle seine Frauen kennen zu müssen? Warum bin ich informationspflichtig? Fällt das unter Medienfreiheit? Wenn nicht, worunter dann? – Was sich an uns als Wissenspartikel festmacht, das entscheidet die jeweilige Energie der Aufdringlichkeit. Auf jeden Fall haben wir gegen diese Penetranz kein Schutzschild. Sie prasselt auf uns nieder. Unser Aufnahmevermögen bricht unter der Last der Merkwürdigkeiten regelmäßig zusammen. Nicht in Unwissenheit leben wir, im Gegenteil, wir werden mit den Kenntnissen nicht fertig, die uns da zugemutet werden. Wir haben keine Zeit und auch kaum Methoden, diese Unmenge zu ordnen, zu sortieren und zu gewichten.

Denken braucht Ruhe und Entspannung, Distanz und Abgehobenheit. Es muss sich von den eigenen Erfahrungen und unmittelbaren Gewissheiten absetzen können, darf kein affirmatives Verhältnis zu diesen Kriterien aufweisen. Hören meint mehr als Zuhören, Sehen meint mehr als Zusehen. Doch dieser eigenständige Teil individueller Rezeption, wird er nicht zusehends unmöglicher? Erkennen ist im Gegensatz zum ledigen Wissen ohne aktive Muße nicht zu haben. Nur in ihr kann jenes reifen. Der gesunde Zweifel an all unserem Wissen ist somit die Bedingung der reflexiven, insbesondere auch der selbstreflexiven Auseinandersetzung: Warum sehe ich etwas so und nicht anders? Welche konstitutionellen Kräfte bereiten mich auf und richten mich zu? Was ist Ich an mir?

Doch kommen wir überhaupt so weit? Streicht die Dichte des Alltags, der Stress, nicht alle diese Fragen einfach durch und letztlich aus dem Gedächtnis? Ist bewusstes Begreifen nicht eine Geschäftsstörung, somit eine Gesellschaftsstörung, somit überflüssig, somit zu beseitigen? Wir kommen kaum zum Denken. Das Quantum des Zu-Wissenden beschneidet durch seinen Ballast die kognitiven Kontingente.

Die Informationsindustrie ordnet Informationen nach den Gesetzen der Public Relations: Nicht was ist, interessiert, sondern was absetzbar ist. Aufbauschen, abwiegeln, zuspitzen, entsorgen, totschweigen, nach solchen und ähnlichen Mustern formiert der Medienmarkt Nachrichten gleich Spots. Vorrangig geht es um Erregungen und Empörungen. Und selbst die Kritik kann sich nicht anders ausdrücken als in der Übertreibung, will sie überhaupt wahrgenommen werden. Kommt man ihr dann auf die Schliche, etwa wenn Klimaforscher sich bewusst verrechnen, dann wird gleich der ganze Klimawandel in Frage gestellt. Doch auch jene sind dem kommerziellen Wettbewerb um Forschungsgelder ausgeliefert, und da ist Dramatisierung jenseits des Dramas angesagt. Eine Nachricht, die kein Spektakel ist, ist keine Nachricht. Was nicht auffällt, fällt unter den Tisch.

Natürlich ist es banal zu behaupten, dass Informationen (wie andere Waren auch) auf ihre Verkaufbarkeit dimensioniert werden. Aber dieser Umstand hat fatale Konsequenzen. Die virtuelle Varianz ist jenseits der reellen Intransigenz des Geschehens. Trotzdem steuert erstere die mentalen Haushalte. Wahrheit und Wirklichkeit verschwinden zwar nicht völlig, aber sie sind untergeordnete Materialien medialer Rekonstruktion. Keineswegs sind hier die aggressiven Sender ohne die grenzenlose Bereitschaft der Empfänger zu denken. Und damit ist nicht nur ein leicht abzufütterndes Massenpublikum gemeint. Auch wer nicht will, ist oft willig, man denke nur an sich oder an mich.

Beispiel: Im Gegensatz zum Erdbeben in Haiti, das immerhin ein elementares und folgenschweres Ereignis gewesen ist und bleiben wird, sind Katzi, Bambi und Mausi nie wirkliche Ereignisse gewesen, auch wenn sie sich bis zum Erbrechen ereigneten. Ihre Storys sind lediglich winzigste Exkremente emotioneller und emotionalisierter Katastrophen aus den Schluchten der Intimität. Aber medial aufbereitet hatten Lugners Puppen hierzulande eine höhere Quote: Was ist die Zerstörung von Port-du-Prince gegen die neueste Schnulze von Bambi oder deren Embryo auf Vaterschaftssuche, das Nightclubben von Katzi oder deren Tablettenkonsum, das Schlangenfressen von Mausi oder deren Einkaufstouren? Es ist schon irre, von alledem überhaupt eine Ahnung haben zu müssen. Indes wenn das Unwirkliche und Irrelevante sich derart in Szene setzen kann, sind sie wirklich und relevant geworden.

Dem Taumel ist ja auch kaum zu entgehen, an jeder Straßenecke grinst es, aus jedem Lautsprecher schallt es. Andauernd wird eins angemacht. Es krallt und klettet, wohin wir uns auch wenden. Es rüttelt aber nicht auf, es rüttelt nur durch. Nichts ist in seiner Wirkung so betäubend wie das Spektakel. Je lauter es schrillt, desto tauber werden wir, je bunter es glotzt, desto blinder. Wer taub und blind ist, wird auch stumm. Wir können in diesem Zusammenhang durchaus von einer Anästhesie der Aufdringlichkeiten oder eine Implosion der Aufmerksamkeiten sprechen. Dass wir in einer Epoche der Aufklärung leben, ist sowieso ein hartnäckiges Gerücht. Dass die selbstverschuldete Unmündigkeit zu Ende ist, ebenso. Wir leben immer noch in finsteren Zeiten massenwirksamer Verzauberungen. Aber was heißt immer noch? Mehr denn je!

„Schweinegrippe explodiert“, titelte eine Tageszeitung am 10. November des Vorjahres. Am Cover führte sie den eben geimpften Bundespräsidenten vor. Eine Leidtragende von alledem war – man soll nicht immer in die Weite blicken – meine jüngste Tochter. Valentina hatte an einem Freitag Fieber bekommen und wurde von der Schule nach Hause geschickt. Nun, nichts Besonderes sollte man meinen, und da die Höhe der Körpertemperatur sich in Grenzen hielt und keine Gliederschmerzen sich einstellten, dachten auch wir so. Ein grippaler Infekt halt.

Da jedoch der Schularzt an besagtem Freitag zufällig zugegen war, entnahm er meiner Tochter eine Speichelprobe und ließ diese untersuchen. Mehr hatten wir nicht gebraucht, denn nun hatten wir sie prompt: die Schweinegrippe. Als man uns am Montag informierte, war das Kind schon fieberfrei und zwei Tage später wäre wohl alles vergessen gewesen. Jetzt aber, mit dieser Diagnose gezeichnet, ging es Valentina gleich schlechter: sie begann wieder zu leiden, war ganz unzufrieden mit sich, bildete sich gar manches ein und konnte ihre schulfreien Tage nicht genießen. Dieser Befund hatte sie mehr getroffen als ihre Befindlichkeit.

Jede Krankheit bringt spezifische ökonomische Interessen und Interessenten hervor. Ist eine Impfung in Sicht, ist die Erkrankung schon in der Nähe. Mehr als umgekehrt. Ob die Bedrohung nun real, marginal oder gar irreal ist, ist ebenfalls sekundär, primär wird sie als gegeben suggeriert werden müssen, wollen die Absätze gesteigert oder zumindest stabilisiert werden. An Krankheiten interessiert nicht vorrangig Diagnose und Therapie, sondern ihre Verwertbarkeit durch die Gesundheitsindustrie.

Staunend sitze ich vor der März-Ausgabe der Le Monde diplomatique, wo ich einer Statistik über die Verwendung staatlicher Entwicklungshilfe entnehme, dass im Jahr 2007 für AIDS/HIV mehr als für Malaria, Tuberkulose und alle anderen Infektionskrankheiten zusammen ausgegeben wurde, insgesamt über 7 Milliarden Dollar. Das ist übrigens der mit Abstand größte Posten. Fließt der Großteil der Entwicklungshilfe über afrikanische Umleitungen in die Zentralen der Pharmakonzerne? Oder interpretiere ich da was falsch?

Zweifellos, der Virus ist keine Bagatelle, aber folgt daraus die Apokalypse? AIDS könnte tatsächlich eine große Gefahr sein, aber ebenso die größte Geldbeschaffungsaktion der Gesundheitsindustrie. Zumindest hatte ich beim HIV-Virus zumeist das Gefühl, dass dessen Lobby stark ist. Malaria oder Tuberkulose vermitteln da einen gegenteiligen Eindruck. Gelder für Forschung, Medikamente und Betreuung können nur lukriert werden, wenn den öffentlichen Stellen und den privaten Spendern ein ausreichendes Bedrohungsszenario angeboten wird. Also ist dieses unabdingbar, und fraglos ist dies eine Aufgabe von Reklame und Marketing, weniger eine der sogenannten Sachargumente.

Wenn man mich also in dieser wie auch in anderen Fragen nach einer Einschätzung fragt, komme ich in eine prekäre Situation. Die Grundlagen zur Bildung einer soliden Meinung, woher soll ich die nehmen? Scio, nescio. Ich weiß, dass ich nicht weiß, aber ich weiß nicht, was ich nicht weiß. Würde ich es wissen, würde ich es nicht mehr nicht wissen. Aber die Philosophie hilft hier auch nicht viel weiter. Dezidierte Aussagen werden schwieriger. Das mag eine skeptizistische Deutung sein, aber alles andere erscheint mir inzwischen als Anmaßung, vergleichbar einer Einbildung, auf die man sich versteift. Treffe ich Leute vom Fach, also Überzeugungstäter, muss ich passen, denn gegen die Borniertheit eines Standpunkts ist die Haltlosigkeit haltlos.

Watend durch den Morast der Infos, werde ich immer argwöhnischer. Keiner Entwarnung ist zu trauen und keinem Alarm. Mit solcher Einsicht muss das Vertrauen auf der Strecke bleiben, weil es als Naivität erscheint. Die Kehrseite zur notorischen Leichtgläubigkeit ist sodann das ständige Misstrauen. Vertrauen wird zur Dummheit und Misstrauen zur Pflicht. Es ist auf jeden Fall nicht leicht, den gesunden Zweifel richtig zu positionieren, ohne in ein Extrem zu verfallen, was meint einfach zu glauben oder einfach zu ignorieren, noch dazu, wo ich weder Ignorant noch Gläubiger sein will. Doch der Extremismus regiert, aus Mücken werden Elefanten und aus Elefanten Mücken. Denken wir an die unbeeindruckbare Bagatellisierung, die positiv denkend in jeder Krise Entwarnung gibt und so diverse Probleme eskamotiert. Oder an die Inflationierung der Apokalypse, die stets den Weltuntergang vor sich sieht. Gelegentlich sind es sogar die selben Organe, die diese Manuale bedienen. Man erinnere nur an Aufstieg und Niedergang der Schweinegrippe.

Verharmlosung und Übertreibung laufen als Zwillingspaar von Event zu Event. Sie schaukeln auf und sie schaukeln ab. Von ihnen nicht verschaukelt zu werden, ist schwierig. Aufbauschen und abwiegeln sind obligat. Maß- und Rücksichtslosigkeit gehören dazu. Wo freilich alles sein kann, wird einem vieles egal. Die permanente Beschwichtigung erzeugt Lethargie, der galoppierende Alarmismus gebiert Indifferenz. Beide wiederum produzieren Fatalismus: Wir können eh nichts tun und daher tun wir eh nichts, erfüllen eh unsere Pflicht und halten eh den Mund. Eh. Vielleicht denken wir uns noch unseren Teil, aber meistens denken wir, was wir zu denken haben. Die anderen denken nichts anderes. Vielleicht ist Denken sowieso was für Verrückte.

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