Der Islamismus und die rational-irrationale Subjektivität der Warengesellschaft
von Karl-Heinz Lewed
„Die dschihadistische Volksbewegung mit dem langen Weg, den sie zurücklegen muss, den bitteren Leiden, die sie erduldet hat, mit ihren enormen Opfern und gewaltigen Verlusten vermag die Seelen zu läutern und sie über die Wirklichkeit zu erheben …, die Interessen entfernen sich von mittelmäßigen Streitigkeiten um Pfennige, von kurzfristigen Bedürfnissen, und … die Hassgefühle erlöschen, und die Seelen werden milder gestimmt, die Karawane steigt aus dem tief eingeschnittenen Tal zu dem hohen Gipfel empor, fern der fauligen Sümpfe und der Dschungelkämpfe … Die islamische Gesellschaft muss geboren werden, aber die Geburt vollzieht sich unter Schmerzen und Leid.“
Abdullah Azzam, erster Theoretiker des weltweiten Dschihad (Azzam 2006, S. 203)
1.
Das Phänomen des islamischen Fundamentalismus ist nur vor dem Hintergrund des Scheiterns der nachholenden Modernisierung in den „islamischen“ Ländern zu erklären, so lautete eine Kernaussage meines Aufsatzes „Finale des Universalismus“ in der letzten krisis-Ausgabe (vgl. Lewed 2008). Der Islamismus gewann in den 1970er und 80er Jahren im Zuge des allgemeinen politischen und ökonomischen Niedergangs immer mehr an Einfluss. Dabei war es der noch präsente antikolonialistische Impuls mit seiner Orientierung auf den „Volkswillen“, der eine wichtige Rolle für diese Entwicklung spielte. Die Deutungsmuster der Islamisten interpretierten den sozial-ökonomischen Krisenprozess als Verrat der säkularen und national orientierten Regime an den Idealen des Allgemeininteresses und erhoben den Anspruch, dieses „wirklich“ zu vertreten. Damit knüpften sie an das ursprüngliche Versprechen der Modernisierungsregime an, allerdings geschmückt und ausstaffiert mit kulturell-symbolischen Versatzstücken aus der Symbolwelt der religiösen Tradition. Gleichzeitig bedeutete die pseudo-religiöse Wendung des Allgemeininteresses eine Rücknahme der allgemeinen Teilhabe am abstrakten gesellschaftlichen Reichtum. Die Aussicht auf materiellen Wohlstand für alle wich der Perspektive der Gleichheit vor dem „göttlichen Gesetz“, das sich nicht nur in seinem abstrakten Universalismus als Ausgeburt der kapitalistischen Moderne erwies, sondern auch darin, dass es die für diese gesellschaftliche Form konstitutive Geschlechterhierarchie spiegelte. Der Islamismus verfolgte unter den Bedingungen des Scheiterns der nachholenden Modernisierung noch einmal ein „antikolonialistisches“ Befreiungsprogramm. Diesmal mit religionistischer Ausrichtung und gegen die Herrschaft der verkommenen nationalen Eliten gerichtet.1 Wie Marx im Achtzehnten Brumaire als ironische Anspielung auf Hegel vermerkt hat, vollzieht sich die historische Entwicklung indes nicht als bloße Wiederholung der Geschichte, sondern zunächst als Tragödie und dann als Farce.
Meine Analyse dieser religionistisch umformulierten Farce des Allgemeinheitsstandpunkts richtete den Fokus zwar zunächst nur auf die Ebene der rationalen Zusammenfassung der Einzelinteressen, um die entsprechende Tradition im politischen Islamismus herauszustellen. In diesem Zusammenhang wurde aber auch darauf verwiesen, dass damit nicht das ganze Phänomen des religiösen Fundamentalismus abgedeckt ist. Vielmehr macht sich gerade in der Beziehung zum religiösen Gesetz und damit zur Religion überhaupt eine Tendenz kenntlich, die nicht mit rein rechtlichen und damit rationalen Kategorien zu erfassen ist. In der Hinwendung zu einem religiösen Fundament, also in dem Versuch, die Lebenswirklichkeit in ein festes Gefüge von überindividuellem, metaphysischem Sinnbezug einzubetten, erhält die Idee „sozialer Gerechtigkeit“ und das Revival des Allgemeinheitsstandpunkts unverkennbar eine irrationale Dimension. Dies drückt sich nicht zuletzt auch in der dem Islamismus eigenen verschwörungstheoretischen Weltdeutung aus (siehe Lewed 2008, S. 136f.). Der politische Islam zielt zwar einerseits auf einen Allgemeinheitsstandpunkt, andererseits ist er wesentlich durch die Formulierung einer auf religiösen Fundamenten gründenden Gemeinschaftlichkeit geprägt. Dieses Bedürfnis nach Transzendenz und Aufgehobensein in einem Kollektiv ist freilich kein Spezifikum von scheinbar in vormodernen Traditionen verhafteten Menschen, sondern erwächst vielmehr aus den historisch-spezifischen Bedingungen warenförmiger Vermittlung. In der Verknüpfung von rationalen und irrationalen Momenten steht der politische Islam in bester Tradition der Formierungsbewegung moderner staatlicher Souveränität. Denn der Formierungsprozess zum nationalen Kollektiv vollzog sich nicht als rationale Zusammenfassung der aus ihren traditionellen Lebenszusammenhängen herausgerissenen Einzelnen zu einem funktionalen Ganzen. Vielmehr spielten in Bezug auf die nationale Identität irrationale Momente eine zentrale Rolle, die konstitutiv für die rational-irrationale Subjektform und den ihr inhärenten Drang nach Zuordnung zu einer übergreifenden Gemeinschaftlichkeit sind. Das Bedürfnis nach Scheinkonkretheit, nach Identifikation mit einer imaginierten urwüchsigen Ganzheit eines „Volkes“ oder einer bestimmten „Kultur“, hat hier ihre tiefer liegende Grundlage.
In dem erwähnten Artikel bin ich ausführlich auf das Verhältnis zwischen privatem Einzelnem und abstrakter Allgemeinheit im Kontext des Antiimperialismus eingegangen. Der folgende Text legt demgegenüber den Schwerpunkt auf das Wechselverhältnis von Krisenprozess und den Widersprüchen der rational-irrationalen Subjektivität der Warengesellschaft. Entgegen der kulturalistischen Zuordnung in eine freiheitlich-westliche und eine regressiv-totalitäre „Kultur des Islam“ muss der Islamismus als immanentes Krisenphänomen im Horizont der Waren- und Subjektform begriffen werden. In ihm spiegeln sich wesentliche Momente dieser Form: von der Zuordnung zu Kollektividentitäten, über antisemitische Wahnvorstellungen bis hin zu patriarchalen Strukturen. Es wird in diesem Zusammenhang notwendig sein, die basale Form moderner Subjektivität etwas genauer zu beleuchten und zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zu dieser Form und ihren Widersprüchen zu machen.2
2.
So unterschiedlich sich die Verwüstungen darstellen, die die weltweite Durchsetzung der Warengesellschaft hinterlassen hat und so verschieden die Verarbeitungsformen der gesellschaftlichen Widersprüche auch sein mögen, als globale Form hat der Kapitalismus doch eine verstörende Einheitlichkeit erzeugt. Diese betrifft nicht nur die über den gesamten Globus verallgemeinerte abstrakte Herrschaft von Arbeit, Geld und Markt, sondern auch die dazugehörige Subjektform. Denn die Uniformierung der Weltgesellschaft durch die Unterwerfung unter das abstrakte gesellschaftliche Vermittlungsprinzip bedeutet für die Einzelnen auch eine Gleichförmigkeit ihrer Subjektivität. Wesentlich für die psycho-soziale Konstituiertheit der modernen Subjekte ist die widersprüchliche Einheit von zwei Momenten der warenförmigen Vermittlung: der Äußerlichkeit der gesellschaftlichen Beziehungen und dem privaten Geldinteresse. Das warengesellschaftliche Verhältnis konstituiert sich als Widerspruch zwischen den äußerlichen Dingbeziehungen und einer spezifischen privaten, man könnte auch sagen: inneren Dimensionierung. Äußerlich ist diese Beziehung für die Einzelnen in dem Sinne, dass die Tätigkeit, durch die sie sich mit dem gesellschaftlichen Zusammenhang vermitteln, zu einem bloßen Mittel für einen nicht in ihr enthaltenen Zweck wird. Arbeit und Geld konstituieren eine gesellschaftliche Vermittlungsform, die einen bewusst gestalteten sozialen Zusammenhang ebenso wie reflexiv bestimmte Bedürfnisse und deren Befriedigung ausschließt. Vielmehr verkaufen die Einzelnen ihre Arbeit gegen den allgemeinen wie abstrakten Zweck, das Geld. Die Warenform konstituiert also eine Form von gesellschaftlicher Beziehung, in der die Einzelnen einer Dialektik von Veräußerlichung und Verinnerlichung im esoterisch-geldförmigen Interesse unterliegen. Die Exoterik warenförmiger Tätigkeiten bricht sich an der Esoterik ihrer privaten Interessen. Indem die Tätigkeiten und damit das gesellschaftliche Beziehungsgefüge zu einem bloßen Mittel für einen außer ihnen liegenden Zweck werden, steht der Einzelne einem anonymen, verselbständigten gesellschaftlichen Aggregat gegenüber, das umso unheimlicher wirkt, als es im Zuge der Verallgemeinerung der Warengesellschaft einen geschlossenen Systemcharakter angenommen hat. Ein Zustand, der auch immer wieder Gegenstand von Reflexionen der bürgerlichen Philosophie gewesen ist: „Die Welt ist … die totale Äußerlichkeit, das absolute Außen, das kein Außerhalb jenseits von ihm duldet. Das einzig Mögliche außerhalb von diesem Außen ist ganz genau ein Innen, ein intus, die Innerlichkeit des Menschen, sein Selbst“ (Ortega y Gasset 2005, S. 66). Ortega y Gasset drückt hier – wenn auch auf mystifizierende Weise – durchaus treffend eine allgemeine Logik moderner Vermittlungsbeziehungen aus. Nach dieser steht dem Außen in seiner Totalität ein inneres Selbst gegenüber, in dem die Leere und Entfremdung scheinbar aufgehoben sind. Das ohnmächtige Verhältnis gegenüber den äußerlichen Beziehungen verkehrt sich so in die Konstitution des inneren Selbst. Diese scheint unabhängig und unangreifbar gegenüber den bedrohlichen Gegebenheiten und Zumutungen des Äußerlichen. Diese Verkehrung der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Gesellschaftszusammenhang zur Innerlichkeit eines von diesem scheinbar abgetrennten Selbst lässt sich, wie schon in früheren krisis-Artikeln genauer ausgeführt, mit Hilfe der Freudschen Begrifflichkeiten differenzierter beschreiben (vgl. Bösch 2000, Lewed 2005). Die Narzissmustheorie, die anknüpfend an Freud u.a. von Heinz Kohut weiterentwickelt wurde, kennzeichnet dieses Selbst als primäres Selbst oder auch als grandioses Selbst. Es ist gekennzeichnet durch den Wunsch nach umfassender Befriedigung, einer Art Nirwanazustand, wie es Freud auch bezeichnet hat. „Dies Eins-Sein mit dem All … spricht uns ja an … wie ein anderer Weg zur Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt“ (Freud 1994, S. 39). Das primäre Selbst steht für die innere Repräsentanz einer zwanghaft gewünschten Überschreitung der bloß relativen und äußeren Wirklichkeit. Dieses Verhältnis zwischen totaler Äußerlichkeit und primärem Selbst ist indes keine überhistorische Bestimmung menschlicher Beziehungen, vielmehr reflektiert sich darin die spezifische Logik der Warengesellschaft als die Unangemessenheit des jeweils Einzelnen und Besonderen in Bezug auf die gesellschaftliche Allgemeinheit. Diese Allgemeinheit konstituiert sich als Allgemeinheit des sich selbst verwertenden Werts. Die jeweils besonderen Tätigkeiten und Beziehungen sind in der Logik der Wertverwertung immer relativ, äußerlich und unangemessen. Das je Besondere wird in der Warenform zur Erfahrung eines übergreifenden und existentiellen Ungenügens. Dieser Mangel der versagenden Realität verkehrt sich im primären Narzissmus zur Fixierung eines umgreifenden esoterischen Lustzustandes, in dem der Wunsch nach symbiotischer Regression als ein Aufgehen und Verschmelzen vorherrscht. Diese Imagination bleibt aber immer verwiesen auf die warenförmige Äußerlichkeit. Die rational-irrationale Subjektivität des Wertverhältnisses ist also verortet im Spannungsfeld zwischen innerer seelischer Dimensionierung des primären Selbst und der diesem Selbst äußerlichen und versagenden Realität. Das Ich, die Freudsche vermittelnde Instanz, steht dabei im Schnittpunkt zwischen den Anforderungen des primären Selbst als regressivem Drang und der bloß äußerlichen Wirklichkeit. Entsprechend einer solchen Interpretation der Freudschen Begriffe muss das Ich in seiner vermittelnden Funktion im Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Entgrenzung und der versagenden Äußerlichkeit begriffen werden. Damit ist aber auch genauer spezifiziert, durch welche Mechanismen und Widersprüche sich das Verhältnis von rationalem Ich und dem Irrationalen konstituiert. Die Rationalität des Vernunft-Ichs ist immer verwiesen auf ihr eigenes irrationales Gegenteil im Bedingungsfeld von Äußerlichkeit und grandiosem Selbst. Die rational-irrationale Subjektivität des Wertverhältnisses kennzeichnet das Vernunft-Ich in ihrem spezifischen irrationalen Bezugsrahmen.
Diese widersprüchliche Beziehung zwischen Rationalität und Irrationalem bildet auch den Hintergrund für ein wesentliches Moment moderner Herrschaft: das warenförmige Patriarchat bzw. den Sexismus. Der im primären Narzissmus zum Ausdruck kommende Wunsch nach regressiver Symbiose, die nicht Wirklichkeit werden kann, bedarf einer Eingrenzung bzw. Kontrolle. Die Instanz dieser kontrollierenden Eingrenzung ist das männlich konstituierte Subjekt. Das „Weibliche“ dient dabei als Gegenstand der Projektion für den Wunsch nach umgreifender Befriedigung und Lust. Mit dieser Identifizierung kann die bedrohliche Entgrenzung zugleich erlebt wie kontrollierend externalisiert werden, da das konstruierte „Weibliche“ gleichzeitig dem Kontrollmechanismus des männlichen Prinzips unterliegt. Der Wunsch nach Verschmelzung kann so äußerlich an einem auf Distanz gehaltenen Gegenüber erfahren werden. Damit ist aber auch die Degradierung zum Sexualobjekt gesetzt, über das das männliche Subjekt dominiert und sich auf diese Weise als autonom wie souverän imaginieren kann. Neben der funktionalen Trennung in weiblich und männlich besetzte gesellschaftliche Bereiche (privat vs. öffentlich, Hausarbeit und Kinderpflege vs. Lohnarbeit etc.) konstituiert die Warenform durch ihre spezifische sozial-psychologische Matrix eine geschlechtliche Dichotomie, in der das männlich aktive und kontrollierende Subjekt dem Weiblichen als projektiv identifiziertem sexuellem Lust-Objekt gegenübersteht.
Der Widerspruch zwischen grandiosem Selbst und Ohnmacht gegenüber der Äußerlichkeit, den wir in Bezug auf die Trieb- und Narzissmustheorie bestimmen können, ermöglicht darüber hinaus aber auch einen Einblick in die Zusammenhänge der Bildung von Kollektividentitäten. Wie zutreffend die von Kohut formulierte Theorie des Narzissmuss ist, lässt sich daran ablesen, dass sie den grundlegenden Widerspruch zwischen Veräußerlichung und primärem Selbst nicht voneinander trennt und damit die real gesetzten Widersprüche nicht eskamotiert. Dies bedeutet, dass die psychische Konstituiertheit stets das Festhalten am primären Selbst impliziert bei gleichzeitiger Verwiesenheit auf die äußerlichen Beziehungen. Andererseits ist Kohut aber, wie Freud, bürgerlicher Theoretiker, der den Widerspruch zwischen narzisstischer Vollkommenheit und dem Moment des Äußerlichen „positiv“ aufzulösen sucht. Der Narzissmus transformiert sich nach dieser Perspektive durch den Mechanismus der optimalen Frustration (Kohut 1981, S. 70) in das „gesunde“, Triebverzicht übende Individuum, das sich durch produktive und kreative Leistungen mit der Äußerlichkeit vermittelt. Die von Kohut so bezeichnete idealisierende Übertragung (ebd., S. 57ff.) des primären Narzissmus auf die äußerlichen Objekte wäre somit „gelungen“ und in die normalen Bahnen des aktiv handelnden (männlichen) Subjekts gelenkt. Damit wird indes unterstellt, dass sich die Dialektik zwischen primärem Selbst und Veräußerlichung zu einer „gesunden“ Subjektivität tranformieren lasse. Diese Annahme ist freilich im Kontext einer ganz bestimmten historischen Epoche formuliert worden: im Fordismus, mit einem relativ gut funktionierenden System warenförmiger Vermittlung, das in der ödipalen „Normal“-Subjektivität des Triebverzichts seine Entsprechung hatte. In Zeiten der Krise und der allgemeinen Verunsicherung wird diese Form der „positiven“ Auflösung freilich immer weniger haltbar. Lässt sich der primäre Narzissmus aber immer weniger in die „gesunde“ Subjektivität der Warenform transformieren und „produktiv nutzbar“ machen, so wendet sich das primäre Selbst von seinem eigenen Gegenpol, der Äußerlichkeit, ab. Die idealisierende Übertragung richtet sich dann nicht mehr auf die äußerlichen Objekte, sondern generiert ein allmächtiges Selbst-Objekt, wie es Kohut nennt. Das Ich, das als ödipales „Normal“-Subjekt die Funktion hatte, zwischen primärem Selbst und Äußerlichem zu vermitteln, fühlt sich nunmehr dieser Allmachtsinstanz des idealisierten Selbst-Objekts (ebd., S. 63) undifferenziert verbunden. Es wird damit versucht „den ursprünglich allumfassenden Narzißmus dadurch zu erhalten, daß es Vollkommenheit und Macht in das Selbst verlegt – hier das Größen-Selbst genannt – und sich verächtlich von einer Außenwelt abwendet, der alle Unvollkommenheiten zugeschrieben werden“ (ebd., S. 130). „Da alle Vollkommenheit und Stärke jetzt in dem idealisierten Objekt liegen“, so Kohut, fühlt sich das Ich „leer und machtlos, wenn es von ihm getrennt ist, und es versucht deshalb, dauernd mit ihm vereint zu bleiben“ (ebd., S. 57). Das Ich ist somit an eine seine Einzelexistenz übersteigende Stärke und Vollkommenheit repräsentierende Gemeinschaft gebunden; gerade weil das Dasein des Einzelnen „banal“, „bedeutungslos“ und „leer“ erscheint (ebd., S. 84). Der Widerspruch zwischen der inneren Vollkommenheit und der äußerlichen Leere führt zu einer Konstruktion eines Selbst-Objekts mitsamt der idealisierenden Übertragung eigener Allmachtsansprüche und -phantasien in dieses Selbst. Die Kategorie des Selbst-Objekts erlaubt also eine Klärung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Verhältnis von äußerlicher Leere und primärem Selbst einerseits und den damit verknüpften überindividuellen Identitätskonstruktionen andererseits. Ganz allgemein erklärt dieser Ansatz die Trennung des Größen-Selbst, mit dem der Einzelne sich aufs Engste verbunden fühlt, von einem Außen, das diesem übergreifenden Großsubjekt unvermittelt gegenübersteht.
Kohut ordnet treffend dieser Trennung „Phänomene des sozialen, rassischen oder nationalen Vorurteils“ zu, „in dem die ’Ingroup’ als Träger aller Vollkommenheit und Macht dem Größen-Selbst entspricht, während alles Unvollkommene der ’Outgroup’ zugeschrieben wird“. Darüber hinaus spielt die idealisierende Übertragung auch in Bezug auf die Religion eine entscheidende Rolle: „Die Beziehung des wahren Gläubigen zu seinem Gott … in der die Gestalt des vollkommenen und allmächtigen Gottes, mit der der machtlose und bescheidene Gläubige sich vereinigen möchte (, entspricht) dem einstigen allmächtigen Selbst-Objekt …“ (ebd., S. 130). Die Dialektik von Veräußerlichung und primärem Selbst in der Warengesellschaft stellt sich also dar als ein Mechanismus der idealisierenden Übertragung auf ein Größen-Selbst, samt der Konstruktion einer die Einzelsubjekte umfassenden Kollektividentität.
Hier ist nicht der Ort, die konkrete historische Entwicklung und die wechselvollen Metamorphosen von Größen-Selbst und Kollektividentitäten darzustellen.3 Es ist aber offensichtlich, dass der immer schärfere sozial-ökonomische Krisenprozess sich auch in der Matrix psychischer Mechanismen massiv niederschlägt. Der zunehmend brutale Konkurrenzkampf, die damit einhergehende Auflösung und Entgrenzung von sozialen Bindungen, die Fragmentierung und Flexibilisierung aller Lebensbezüge prägt auch entscheidend die Strukturen des „psychischen Apparats“ (Freud). Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass die im Verhältnis von primärem Selbst und Äußerlichkeit wirkende idealisierende und libidinöse Übertragung auf die äußerlichen Strukturen und Objekte zusehends problematisch wird, da diese Äußerlichkeitsstrukturen zusehends ihre Kohärenz verlieren. Damit wird aber auch die Stabilität der idealisierten Objektbeziehungen, die für das ödipale, „gesunde“ Subjekt charakteristisch waren, in wachsendem Maße verunmöglicht. Götz Eisenberg schreibt in diesem Zusammenhang: „Die dreifache Potenz von Globalisierung, Rationalisierung und Flexibilisierung zieht eine politische, gesellschaftliche und psychische Desintegration nach sich […] Der Zusammenbruch der traditionellen kapitalistischen Arbeitsgesellschaft und der ihr gemäßen gesellschaftlichen Strukturen reißt jene Charakterstrukturen mit sich, die als libidinöser Kitt der Gesellschaft fungierten“ (Eisenberg 2000, S. 45). „Die waren- und tauschförmigen Beziehungen zu Menschen und Dingen fördern Erlebnisweisen der raschen Folge von Idealisierungen und nachfolgender rabiater Entwertung“ (ebd., S. 57).
War der ödipale Charakter als Instanz libidinöser Vermittlung mit dem Äußerlichen eine Kompromisslösung auf prekärer Grundlage, so macht der fundamentale Krisenprozess auch diese Figur zu einem Atavismus. Statt der idealisierenden Übertragung narzisstischer Energie auf die Formen der Äußerlichkeit richtet sich diese auf die fiktionale Gemeinschaftlichkeit des Größen-Selbst in Gestalt nationalistischer, ethnizistischer oder religionistischer Identitäten. Dass diese Kollektivsubjekte keine Kraft mehr besitzen, die kapitalistische Gesellschaft und ihre abstrakte Reichtumsproduktion zu integrieren, wie in der Aufstiegsgeschichte der Warengesellschaft, tut dem Bedürfnis nach Idealisierung von Vollkommenheit und Stärke selbstverständlich keinen Abbruch, wie im Folgenden noch gezeigt werden soll.
Auf einer grundsätzlichen Ebene des Wechselverhältnisses zwischen Selbst-Objekt und veräußerlichter Struktur wirkt die Bindung des primären Selbst an die Äußerlichkeiten wie eine stetige „Störung des Gleichgewichts der narzisstischen Vollkommenheit“ (Kohut 1981, S. 57). Durch die veräußerlichten Beziehungen kann sich das allmächtige Objekt dieser Allmacht alles andere als sicher sein. Dies gilt umso mehr, wenn das System der Äußerlichkeiten sich im Krisenprozess immer mehr auflöst und zu einer manifesten Bedrohung wird. Dieses gestörte oder besser gesagt: bedrohte Gleichgewicht bildet einen zentralen Hintergrund für den modernen Antisemitismus. Der „Jude“ wird projektiv als die Macht identifiziert, die der Bedrohung des Größen-Selbst zugrunde liegt. Die paradoxe Struktur eines primären Selbst, das stets an sein eigenes Gegenteil, die Äußerlichkeit der Beziehungen, gebunden bleibt, führt also einerseits zur Auflösung dieses Widerspruchs in Form der idealisierenden Übertragung auf ein Selbst-Objekt der Kollektividentität, andererseits wird das Moment des Äußerlichen externalisiert und im „Juden“ personalisiert. Dieser wird für die Bedrohung der eigenen Ganzheit und der Geborgenheit im Kollektiv in Haftung genommen. Der Rückversicherung des primären Selbst in der imaginären Gemeinschaftlichkeit eines Großsubjekts entspricht auf der anderen Seite die Projektion der grundsätzlichen Verunsicherung, die dem prekären Gleichgewicht zwischen „Innen“ und „Außen“ inhärent ist, auf einen imaginierten übermächtigen äußeren Feind.
Der Antisemitismus ist insofern immer bezogen auf die Bildung von imaginierten Großsubjektivitäten, als er die Projektionsfläche für das Bedrohungsszenarium einer Störung der Vollkommenheit und Ganzheit des Kollektivs bedeutet. Damit geht einher, dass diese Großsubjektivitäten durchaus im Plural vorkommen können – ausgenommen freilich des „Judentums“, das der antisemitischen Wahnvorstellung zufolge von allen Gemeinschaften als äußerliches und deren Einheit zersetzendes Moment per se ausgeschlossen bleibt. So sehr sich also die verschiedenen Kollektividentitäten voneinander abgrenzen und miteinander im Konflikt stehen mögen, werden sie doch in ihrer Vielzahl und Verschiedenheit auf einer gemeinsamen Folie abgebildet. Damit ist auch prinzipiell die gegenseitige Anerkennung als „gleichwertig“ verbunden. Diesen Gemeinschaftskonstrukten wie nationalen, religiösen oder ethnischen Kollektividentitäten gegenüber gilt hingegen, wie Klaus Holz bemerkt hat: „’Der Jude’ als Dritter (also als Gegenteil der voneinander separierten Gemeinschaften, KL) transzendiert, bedroht und zersetzt die binäre Unterscheidung zwischen uns und den anderen“ (Holz 2005, S. 33). „Die Juden werden … als Inhaber einer weltumspannenden Macht (konzipiert), die nicht nur die Weltherrschaft anstrebt, sondern die Unterschiede zwischen allen Völkern, Rassen und Religionen zersetzen will … Eine fundamentalere Bedrohung ist nicht denkbar“ (ebd. S. 31).4
Zusammenfassend kann also festgehalten werden: Die rational-irrationale Subjektivität im Widerspruchsverhältnis von Äußerlichkeit und grandiosem Selbst ist zum einen grundsätzlich patriarchal strukturiert, was sich wesentlich ausdrückt in der Dichotomie eines männlichen kontrollierenden Subjekts und einer projektiven Identifikation des „Weiblichen“. Zum anderen resultiert aus eben diesem Widerspruch die Zuordnung zu kollektiven Gemeinschaften als Trägern von Vollkommenheit und Stärke. Damit verknüpft ist die im „Juden“ personalisierte Bedrohung als zersetzende äußere Macht, die selber eine Art Anti-Gemeinschaft bildet.
3.
Nach diesen recht grundsätzlichen Überlegungen über die psycho-soziale Konstitution moderner Subjektivität wäre nun konkret zu zeigen, wie sich patriarchale Strukturen, antisemitische Wahnvorstellungen und nicht zuletzt die Zuordnung zu Kollektivsubjekten im Islamismus als spezifische Momente der Moderne und ihrer Krise fortschreiben und als Verarbeitungsformen der sozial-ökonomischen Umwälzungen und ihrer Widersprüche virulent werden.
Diese Momente kommen in den Schriften der führenden Vertreter des Islamismus, wie Sayyid Qutb, aber auch bei dem pakistanischen Ideologen Abul Ala Maududi gewissermaßen in Reinform zum Ausdruck. Daher sollen im Folgenden die Texte v.a. von Qutb eingehender betrachtet werden, um anhand der zentralen Begriffe des Islamismus dessen Bezogenheit auf allgemeine, die Moderne insgesamt kennzeichnende Muster zu zeigen. Wie der Islamismusexperte Gilles Kepel angemerkt hat, „(ist) der Beitrag von Qutb für das Verständnis der Entstehung des sunnitischen Islamismus in der gesamten muslimischen Welt von zentraler Bedeutung“ (Kepel 2002, S. 43). Sein wohl einflussreichstes Werk, „Meilensteine“, bestimmt gleich zu Beginn apodiktisch den eigenen Standpunkt: „Die Menschheit steht heute am Rande eines Abgrunds … , weil es ihr an den lebenswichtigen Werten mangelt, Werten, die nicht allein für ihre gesunde Entwicklung, sondern auch für ihren wirklichen Fortschritt nötig sind“ (Qutb 1965, Introduction).5 Das Gefühl am Abgrund zu stehen, einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt zu sein, ist ein zentrales Kennzeichen von Qutbs Perspektive. Sie durchzieht nicht nur seine gesamten Schriften als Zustandsbeschreibung der herrschenden Weltgesellschaft, sondern ist auch Ausgangspunkt für sein Programm gesellschaftsverändernder Praxis. Die Wahrnehmung existentiellen Bedrohtseins hat Qutb zwar als erster in der entsprechenden Zuspitzung formuliert, man kann aber feststellen, dass diese seit den 1960er Jahren zum ideologischen Kernbestand des gesamten islamischen Fundamentalismus geworden ist.
Das Gefühl, am Abgrund zu stehen, resultiert letztlich aus der Auffassung, dass die gesamte Menschheit und insbesondere auch die „islamischen“ Länder sich in einem Zustand moralischer Verkommenheit befinden. Diese Herrschaft der Dekadenz – von Qutb in Anspielung auf die Zeiten Mohammeds in Mekka als „Jahiliyyah“ bezeichnet – und der Entleerung menschlicher Gemeinschaft von allen „lebenswichtigen Werten“ wird als eine totale, die ganze gesellschaftliche Wirklichkeit umfassende Herrschaft wahrgenommen: „Wir sind auch heute von Jahiliyyah umgeben, einer Jahiliyyah, die von derselben Natur ist wie seinerzeit in der ersten Periode des Islam, vielleicht sogar noch tiefgreifender. Unsere gesamte Umwelt, der Glaube und die Vorstellungen des Volkes, seine Gewohnheiten und seine Kunst, seine Regeln und Gesetze sind Jahiliyyah, und dies in einem Ausmaß, dass alles, was wir als islamische Kultur, als Quellen des Islam, als islamische Philosophie und Geisteswelt betrachten, selber Erscheinungsformen der Jahiliyyah sind.“ (ebd., Ch.1) Qutb und der Islamismus insgesamt gehen also von einer totalen, alle gesellschaftlichen Bereiche übergreifenden Fremdherrschaft aus. Für eine sich selbst befreiende islamistische Bewegung gilt, dass sie ihr Fundament im Glauben an Gott und den „vitalen Werten” findet und „mit diesem Ziel aufbricht, dann ihren Weg weitergeht und durch den unermesslichen Ozean der Jahiliyyah voranschreitet, der die ganze Welt umschließt.“ (ebd., Introduction) Seiner Vorstellung nach, resultiert diese Verfallenheit aus einer Ignoranz gegenüber der einzig wahrhaften Allgemeinheit des göttlichen Gesetzes. Nur die Anerkennung der Souveräntität Gottes führt zu einem Zustand gerechter und harmonischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Kampf gegen die herrschenden Zustände ist also ein Konflikt zwischen dem Ideal einer vom muslimischen Gesetz bestimmten Zivilisation und einer Gesellschaft moralischen Verfalls und Verkommenheit.
Die oben ausgeführte Dialektik zwischen allmächtigem Selbst-Objekt und der Veräußerlichung ist im Islamismus bezogen auf den Widerspruch zwischen der abstrakten Allgemeinheit des göttlichen Willens (der zugleich als Volkswillen gilt) und dem partikularen Standpunkt des Einzelnen. Das islamistische Revival des Allgemeinheitsstandpunkts legitimierte sich, wie ich in „Finale des Universalismus“ eingehend dargelegt habe, über die Abgrenzung zu den partikularen Interessen der verkommenen nationalen Eliten. Wie die Bewegungen antikolonialer Befreiung basiert auch der Islamismus ganz wesentlich auf einer Frontstellung gegenüber den Privatinteressen, die als Inbegriff von Unterdrückung und als Ursache der sozialen und ökonomischen Misere identifiziert werden. Für die Verfechter des Volkswillens und der allgemeinen Interessen handelt es sich aber nicht nur um sozial-ökonomische Missstände, die durch wie auch immer geartete Reformen behoben werden könnten. Vielmehr steht für diese Perspektive die Herrschaft des partikularen Standpunkts für den gesellschaftlich-moralischen Verfall insgesamt, und der Befreiungskampf muss sich deshalb auch in fundamentaler Weise gegen die egoistischen Einzelinteressen richten.
Die Wahrnehmung einer am Abgrund stehenden Gesellschaft moralischer Degeneration und die Hoffnung auf Transzendenz in der Einheit des Volkswillens resultiert indes erst aus der spezifischen psycho-sozialen Subjektkonstitution im Kontext warengesellschaftlicher Vermittlung. Das als verkommen wahrgenommene soziale Gefüge erscheint als veräußerlichter Zusammenhang, der durch die Herrschaft der Privatinteressen fragmentiert ist und auseinanderzubrechen droht. Die idealisierende Übertragung richtet sich so nurmehr auf die Einheit des kollektiven Größen-Selbst, das als Gegensatz zu den äußerlichen Formen der Privatinteressen begriffen wird. Im Islamismus wird die abstrakte Allgemeinheit mit den Energien des Selbst-Objekts aufgeladen, während das gegenteilige Moment, die partikularen Interessen, als an sich leere und bedeutungslose Äußerlichkeiten gelten. Die bloß äußerlichen Mittel werden verabscheut und der Volkswille narzisstisch als Größen-Selbst besetzt.
4.
Kohut hat in seiner Weiterentwicklung der Narzissmustheorie zwar die Mechanismen der Bildung von Kollektividentitäten treffend beschrieben. Allerdings erscheint die jeweilige konkrete Form als nationales oder religiöses bzw. religionistisches Kollektiv, die das Selbst-Objekt annimmt, als historisch zufällig. Demgegenüber ist aber festzuhalten, dass diese sich nur in Bezug auf die konkrete historische Entwicklung der Warengesellschaft adäquat erklären lassen. Die kapitalistische Durchsetzungsgeschichte war gekennzeichnet durch eine Identität des Größen-Selbst mit der abstrakten Allgemeinheit des Staates, in der sich die idealisierende Übertragung auf die Allmachtspotenz nationalstaatlicher Souveränität bezog. Insofern unterlag die Zusammenfassung der Einzelinteressen im Souverän der irrationalen Voraussetzung des allmächtigen Objekts. Die „Massenaffirmation“ (Peter Klein) speiste sich im Wesentlichen aus der Verknüpfung von abstrakter Allgemeinheit und den psycho-dynamischen Energien des allmächtigen Selbst-Objekts. Für die nationalistische Politik der Massenmobilisierung lieferte diese Kollektiv-Energie den nötigen Treibstoff.
Für die Entwicklung des Islamismus ist kennzeichnend, dass sich durch das Scheitern der nationalen Modernisierungsregime die konkrete historische Gestalt des Selbst-Objekts transformierte. Nicht mehr die Nation repräsentiert die Allmachts-Instanz, sondern für den erstarkenden politischen Islam in den 1970er und 80er Jahren wird nunmehr das religionistische Kollektiv zum „Träger aller Vollkommenheit und Macht“. Die idealisierende Übertragung richtet sich auf die Gestalt des „vollkommenen und allmächtigen Gottes“. Der Islamismus steht also in der Tradition seines nationalen Vorgängers: als Vertreter des wahren Allgemeinheitsstandpunkts gegenüber den partikularen Interessen der (neo-)kolonialen Herrschaft. Der Souverän ist allerdings nicht mehr nur der Volkeswille, sondern erhält die höhere Dignität göttlicher Autorität. Dementsprechend verändern sich auch die Vorstellungen der Allgemeinheit. Ziel ist die Ausrichtung des sozialen Gefüges und der sozialen Praxis an den Kriterien der Allgemeinheit des islamischen Gesetzes und die Unterwerfung des Einzelnen unter die Souveränität göttlichen Rechts. Der Islamismus als fundamentale Kritik der Veräußerlichung und Objektivierung durch die Privatinteressen kann somit als religionistisch verlängerte Ideologie revolutionärer Massenbewegungen begriffen werden, in deren Einheit von Vollkommenheit und Stärke sich der Einzelne aufgehoben fühlen kann, und die im Extrem jede Form des Besonderen bekämpft.6
Deutlich erkennbar ist dies in den Schriften von Abul Ala Maududi, dem Gründer der indo-pakistanischen Gama at-i islami, der für die theoretische Grundlegung der islamistischen Ideologie neben Sayyid Qutb ein zentrale Rolle spielte. Während Qutb v.a. die Wahrnehmung der äußerlichen gesellschaftlichen Beziehungen zum geschlossenen Wahnsystem gesellschaftlicher Verfallenheit, der Jahiliyyah ausformulierte, war Maududis theoretischer Fokus auf die Frage der Souveränität gerichtet. Auch bei Maududi zeigt sich, dass die politische Perspektive des Islamismus wesentlich durch moderne Begriffe geprägt ist. Zentral ist dabei der Begriff der politischen Souveränität, also des absoluten Herrschaftsanspruchs des Souveräns gegenüber den Einzelnen (vgl. Meier 1994, S. 187f.). In der Tradition der Souveränitätslehre von Thomas Hobbes und Jean Bodin weist er der göttlichen Souveränität die absolute Gewalt zu. Die Anerkennung und Zuordnung zu der Autorität des Souveräns resultiert dabei nicht – wie etwa bei Hobbes – aus der individuellen, d.h. für die Einzelnen letztlich Vorteile bringenden Einsicht, sondern aus dessen innerem Wesen der Vollkommenheit. Die privat verfassten Motive für die Konstitution des Souveräns stehen im strikten Widerspruch zum Wesen des souveränen Größen-Selbst, denn der Souverän ist seinem Begriff nach nichts abgeleitetes, sondern Inbegriff von Erhabenheit und Macht: „Die Souveränität in ihrem vollen Sinn kommt allein Gott zu. Er ist der wahre und wirkliche Souverän … Das Gesetz wird durch den Willen desjenigen, der die Souveränität besitzt, in Kraft gesetzt. Die Individuen sind dadurch verpflichtet, ihm Gehorsam zu leisten. Als Subjekt der Souveränität ist er an keinerlei Gesetze gebunden und niemandem zu Gehorsam verpflichtet. Denn er besitzt kraft seines Wesens die absolute Entscheidungsgewalt. Niemandem ist die Frage erlaubt, ob die von ihm getroffenen Entscheidungen gut oder böse, richtig oder falsch sind: Alles, was er tut, ist das Gute. Niemand, der unter seinem Gehorsam steht, darf seine Verfügungen mit der Begründung zurückweisen, dass sie unter das Böse fallen. Alles, was er tut, ist richtig: Niemand darf in seinen Handlungen etwas als falsch erkennen. Somit müssen alle anerkennen, daß er eine heilige, unfehlbare Majestät darstellt.“ (Maududi, zit. nach Meier 1994, S. 190) Was Maududi hier thematisiert ist alles andere als das traditionelle religiöse Rechtsverhältnis muslimischer Gemeinschaften. Vielmehr steht das für die Moderne kennzeichnende Verhältnis zwischen dem politischen Souverän und den Einzelnen im Zentrum der Betrachtungen. Wie in der modernen Souveränitätslehre sind die Individuen als „homines sacres“ (Agamben) der absoluten Entscheidungsgewalt des Souveräns unterworfen. Der Springpunkt an dem Einschluss der Einzelnen in das Gefüge der absoluten Gewalt besteht nun darin, dass die Souveränität als Inbegriff von Vollkommenheit, Erhabenheit und Größe gefasst wird, also die Qualitäten des narzisstischen Größen-Selbst aufweist. Durch die idealisierende Übertragung von Macht und Stärke auf die Souveränität (Gottes) gilt diese als stets vollkommen und unfehlbar. Die Einzelexistenz wird hingegen bedeutungslos. Aus der identitären Zuordnung zu dem erhabenen, ja heiligen Größen-Selbst folgt, dass individuelle Erwägungen über die Richtigkeit souveräner Entscheidungen absolutes Tabu sind.
5.
Die Unterwerfung unter die Souveränität hat einen stark homogenisierenden Effekt. Für den Nationalismus waren es zumeist biologistische Identitätsmuster, die die Zugehörigkeit zum Kollektiv regelten. In der besondere Rolle der „eigenen Rasse“ und des „eigenen Blutes“ sollte die erhabene Stellung des nationalen Zusammenhangs verbürgt sein. Mit dieser rassistischen bzw. ethnizistischen Abgrenzung von anderen Völkern war eine innere Homogenisierung der jeweiligen Volksgenossen verbunden. Der Islamismus knüpft an dieses Moment der Gleichheit an, transformiert es aber zur Gleichheit vor dem göttlichen Souverän. In der Unterwerfung unter das göttliche Gesetz werden die vom Nationalismus formulierten „rassischen“ bzw. ethnizistischen Differenzen aufgehoben. Die Gleichheit ist keine über biologistische Eigenschaften vermittelte, sondern resultiert aus der Anerkennung Gottes bzw. des göttlichen Gesetzes als Inbegriff von Macht, Größe und Gerechtigkeit.
In der Identifikation mit dem Größen-Selbst des „allmächtigen und vollkommenen Gottes“ lebt indes, wie schon erwähnt, der antikoloniale Impuls fort, der nicht zuletzt der Hoffnung auf eine Verbesserung der allgemeinen materiellen Lebensbedingungen entsprang, einer Hoffnung, die allerdings von den postkolonialen Regimes nicht erfüllt wurde. Im mythologisierenden Rückbezug auf die mekkanische Vorzeit Mohammeds, der weiter unten noch näher zu beleuchten ist, wird nun aber die göttliche Souveränität zum Inbegriff der Aufhebung von ungerechten Verhältnissen und materiellem Elend und gleichzeitig zum wahrhaft universalistischen Programm der Gleichheit vor dem göttlichen Souverän. Bei Qutb heißt es deswegen auch: “Es gibt keine Souveränität außer der göttlichen, kein Gesetz außer dem göttlichen, und keine Autorität eines Menschen über den anderen, da in jeder Hinsicht Gott allein die Autorität zukommt. Die Stiftung menschlicher Gemeinschaft, wie sie der Islam verkündet, gründet einzig auf diesem Glauben, dem Glauben, in dem alle Völker jeglicher Rasse und Hautfarbe … unter Gottes Banner gleich sind. Das ist der wahre Weg. Zu der Zeit, als der Prophet zu seiner Sendung berufen wurde, gab es in der arabischen Gesellschaft keine angemessene Verteilung des Reichtums und es gab keine Gerechtigkeit. Eine kleine Gruppe riss allen Reichtum und Handel an sich und bereicherte sich durch Zinswucher. Die große Mehrheit des Volkes war hingegen arm und litt an Hunger. Zudem galten die Reichen als adelig und vornehm, sodass das gemeine Volk nicht nur des Reichtums beraubt war, sondern auch seiner Würde und Ehre. Man kann sagen, dass Mohammed – Friede sei mit ihm! – eine soziale Bewegung entfachte, indem er der Klasse der Adligen und Reichen den Krieg erklärte, ihnen den Reichtum wegnahm und ihn unter den Armen verteilte (…) Die Gesellschaft wurde von aller Bedrückung befreit, und begründet wurde das islamische System, ein System, in welchem Gerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes war und in dem das Wiegen mit Gottes Waage erfolgte. Im Namen des Einen Gottes wurde das Banner der sozialen Gerechtigkeit gehisst, und der Name dieses Banners hieß Islam.” (Qutb 1965, Ch.2) Die Attraktivität des Islamismus resultiert also einerseits aus der idealisierenden Übertragung von Größe und Macht in das göttliche Selbst-Objekt, andererseits aus dem in antikolonialer Tradition stehenden Versprechen, die realen Lebensbedingungen zu verbessern und die bestehende soziale Ungleichheit aufzuheben. Mohammed war in der Lesart des Islamismus wohl so etwas wie die Urgestalt revolutionärer Subjektivität, die als erste den Klassenkampf erfand.
6.
Die Wahrnehmung der Jahiliyya, d.h. einer Totalität des gesellschaftlichen Verfalls als moralischer Entleerung, reiht sich ein in die Tradition des Antimodernismus. Kennzeichnend für diesen ist gerade, dass die äußerliche Beziehungsform als eine totale empfunden wird, der der Einzelne ohnmächtig gegenübersteht. Dieses Motiv der Totalentfremdung und Entleerung begleitet die Entwicklung der modernen Gesellschaft von Beginn an. Auch und gerade in den philosophischen Systemen und politischen Ideologien, die die nachholende Modernisierung teils theoretisch vorwegnahmen und legitimierten, spielt es eine zentrale Rolle. In Abgrenzung zur zunehmenden Abstraktifizierung, Funktionalisierung und Entäußerlichung erschien die völkisch begründete nationale Identität als Rettungsanker und hell leuchtendes Gegenbild. Die antimodernistischen Reflexe konnten dabei an eine lange Traditionslinie anknüpfen, die insbesondere in der deutschen Geistesgeschichte ihren Niederschlag fand (vgl. Lohoff 2008). Für die Vertreter des Antimodernismus, allen voran Johann Gottlieb Fichte, gehört die Abwehr der veräußerlichten und als Ohnmacht erlebten Beziehungsstruktur zum ideologischen Kernbestand. Ein stets wiederkehrendes Motiv ist darin die Vorstellung einer welthistorischen Verdichtung der Bedrohung und eines Höhepunkts veräußerlichter Herrschaft. Ähnlich wie Qutb und der Islamismus sich am Abgrund wähnen, erschien Fichte die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit in einem Zustand „vollendete(r) Sündhaftigkeit“ (Fichte 1956, S. 15) gefangen. Diese Epoche sei gekennzeichnet durch ein „leeres Nichts … durch das drückende Gefühl ihrer Leerheit“ (ebd., S. 87), dem die Menschheit „in absoluter Ohnmacht“ (ebd., S. 94) gegenübersteht. Freilich steht Fichte erst am Anfang der Verallgemeinerungsbewegung der warengesellschaftliche Beziehungsform. Zwar kündigt sich der Umbruch machtvoll an, doch die neue Zeit und deren fundamentalen Widersprüche spielten sich noch weitgehend in den Köpfen der deutschen Philosophen ab. So konnte der Idealismus in Deutschland das widersprüchliche Verhältnis der modernen Form theoretisch formulieren, ohne eine verallgemeinerte Entsprechung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorzufinden. In seinen theoretischen Reflexionen kam der Frage der Beziehung von Inhalt und Form, Materie und Geist, bzw. empirischem Dasein und Vernunft eine überragende Stellung zu. Für Fichte, und das macht seine spezifische Sichtweise aus, ist ein Bewusstsein, das sich mit und durch die gegenständliche Wirklichkeit, die „Dingwelt“, bildet, absolut unselbständig und damit den Dingbeziehungen unterworfen. Ein solches Subjekt ist nur das Produkt dieser Beziehungen der gegenständlichen Wirklichkeit, ein „Akzidens der Welt“ (Fichte 1967, S. 17). Dies ist insofern von größter Bedeutung, weil sich für Fichte die empirische Wirklichkeit als ein Zusammenhang toter Dingverhältnisse darstellt, die den formalen wie an sich leeren Gesetzen der Naturkausalität unterworfen sind: „Sie (die Menschen mit unselbstständigem Bewusstsein, KL) haben nur jenes zerstreute, auf den Objekten haftende, und aus ihrer Mannigfaltigkeit zusammengelesene Selbstbewusstsein.“ (ebd., S. 20, Hervorheb.: KL) Dieses in den Dingen zerstreute Dasein einerseits und das absolute Selbstbewusstsein des Ichs andererseits bilden für ihn „zwei Hauptgattungen von Menschen“ (ebd.). Die einen, die zu Höherem geboren sind, und die anderen, die als bloße Akzidenzien der äußeren Wirklichkeit dieser verfallen sind. Diese zweite Gruppe von Menschen, die sich den Objekten hingibt, in diese „zerstreut“ ist, befindet sich in jenem Zustand „der vollendeten Sündhaftigkeit“.
Wie schon kurz ausgeführt, korreliert die Wahrnehmung der Totalentfremdung und der Veräußerlichung mit der Wahnidee, in einer Zeit des Höhepunkts der Verfallenheit wie der Umkehr zu leben. Fichte meint ganz unbescheiden und die eigene ultimative Bedeutung in der menschlichen Entwicklungsgeschichte hervorhebend, „daß die gegenwärtige Zeit gerade in dem Mittelpunkte der gesamten Zeit stehe“ (Fichte 1956, S. 21). Er war indes mit seiner theoretischen Formulierung der „vollendeten Sündhaftigkeit“ seiner Zeit insofern voraus, als man Anfang des 19. Jahrhunderts, schon gar nicht was den deutschsprachigen Raum betrifft, keineswegs von einer Verallgemeinerung der modernen Form von Vergesellschaftung sprechen kann. Fichte hat so theoretisch vorweggenommen, was im Zuge der Durchsetzung immer mehr zum Erfahrungshintergrund der modernen Individuen wurde. Heidegger steht gewissermaßen am anderen Ende der Entwicklung, d.h. seine Fundamentalontologie entstammt der Hochphase des historischen Verallgemeinerungsprozesses der abstrakt-äußerlichen gesellschaftlichen Beziehungsform. Dennoch oder gerade deswegen stimmen Fichte und Heidegger in ihrem antimodernistischen Reflex mehr oder weniger überein. Was der eine aus der theoretischen Fragestellung des deutschen Idealismus entwickelt, ist für den anderen allgemeine Zeiterscheinung. Beide sitzen aber dem Wahn auf, dass die eigene äußerliche Vermittlung durch Abwehr bzw. Bekämpfung der äußerlichen Formen aufgelöst werden könnte. Für Heidegger erscheint das moderne, abstrakte Verhältnis und die Veräußerlichung als Ontologie eines anderen Daseins, eines essentiellen Andersseins, ähnlich der Fichteschen Einteilung in zwei menschliche Hauptgattungen. Die Entfremdungserfahrung der Warenform stellt sich für diesen ebenso als Verfallenheit dar: Das „Dasein“ als „alltägliches Selbstsein“ im „Man“ hat sich dem „Niemand“ „je schon ausgeliefert“. „Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muß sich erst finden“ (Heidegger 2001, S. 129). „Dieses Miteinander (in der Sphäre des äußerlichen Man, KL) löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart ‘der Anderen’ auf. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur“ (ebd, S. 126). Die Wahrnehmung und Beschreibung der Totalentfremdung als Zerstreuung stimmt bis in die Terminologie, mit der die Veräußerlichung beschrieben wird, mit dem idealistischen Vorgänger überein.
7.
Der Antimodernismus in der Tradition der Fichteschen Philosophie hat die Durchsetzungsbewegung der modernen Vergesellschaftungsform begleitet und ideologisch legitimiert, und sie reicht mit dem Islamismus, oder, allgemeiner gesprochen, den religionistischen Bewegungen bis in die Gegenwart hinein. Auch für die Vorläufer des islamischen Fundamentalismus, den antikolonialen und nationalistischen Bewegungen in den „islamischen“ Ländern, war der Reflex gegen die äußerliche Vergesellschaftung ein treibendes Motiv. Die nationalen Befreiungsideologien stellten insofern eine Scharnierfunktion dar, als sie sich aus dem theoretischen Fundus des europäischen bzw. deutschen Antimodernismus bedienten und dessen Inhalte adaptierten. Zumeist absolvierten die Eliten der national orientierten Strömungen ein Studium in Europa, wo es zu einer breiten Rezeption antimodernistischer Theorien kam. Der Islamismus wiederum knüpft an diese Wahnkonstrukte an, nur dass er den Adressaten ändert. Er richtet sich nunmehr gegen den Nationalismus selbst.
Michel Aflaq, maßgebender Ideologe der antikolonialen und auf nationale Unabhängigkeit zielenden Bewegung, gemahnte die „neue Generation der Araber“ zu erkennen, „welche Gefahren die Zukunft der arabischen Nation von innen und außen bedrohen“. Der Gründer der „Partei der arabischen Wiedergeburt“ (Baath-Partei) rief die arabische Jugend dazu auf, „sich des in das Herz unserer Nation eingedrungenen Verfalls bewußt“ (Aflaq, zit. nach Meier 1994, S. 132f.) zu werden. Diese allgemeine Verkommenheit interpretiert Aflaq nicht nur als von außen durch die koloniale Herrschaft oktroyiert, sondern als innere und selbstverschuldete Schwäche der arabischen Nation: „Der Raubzug der westlichen Kultur auf die arabische Vernunft hat zu einer Zeit stattgefunden, in der diese Vernunft so sehr ausgetrocknet war, daß sie schließlich nur noch aus hohlen Ziegeln bestand: Deren Vakuum mit ihren Konzepten und Bedeutungen zu füllen, war für jene Kultur ein Leichtes.“ (ebd., S. 128) Aflaq ist freilich so frei, sich für die Begründung seiner anti-westlichen Befreiungsideologie aus dem Fundus westlich-moderner Philosophie zu bedienen und die klassische Figur des Gegensatzes von Geist und Materie zu bemühen, die schon bei Fichte zentral ist. Das gespaltene Herz der arabischen Nation, so Aflaq, rührt daher, dass „die Materie über den Geist und das Äußerliche über das Wesen herrschen“ (ebd., S. 125). Dieser Verfall könne nur überwunden werden durch „eine Bereitschaft, sich in dieser Zeit zur höheren Einheit und zur gesunden Harmonie … zu erheben“ (ebd.). Aflaq spricht also deutlich aus, worum es sich beim „eingedrungenen Verfall“ eigentlich handelt, nämlich um eine Beziehung zwischen dem Eigentlichen, dem „Wesen“, das unterdrückt wird von den materiellen Bedürfnissen, sprich dem „Äußerlichen“ der Dingwelt. Dieses Wahngebilde von einem Zeitalter der Dekadenz, der „Welt der Dunkelheit“ (Fichte 1956, S. 21), hat sich in verschiedenen Diskurslinien vom deutschen Idealismus, über die Ideologien nachholender Modernisierung bis zu den religionistischen Bewegungen unserer Tage immer wieder reproduziert. Es wäre allerdings verkürzt, dies positivistisch als bloße Erscheinung auf der Ebene von Diskursen zu deuten. Vielmehr liegt der immer wiederkehrenden Wahrnehmungsfigur gesellschaftlichen Verfalls die Struktur der veräußerlichten sozialen Beziehungen zugrunde. In den verschiedenen Ideologien werden zwar ganz unterschiedliche Projektionsflächen für diese Bedrohung geschaffen, seien es die Franzosen für Fichte, die Amerikaner für Heidegger, der Westen insgesamt für die nationalen und auch für die religionistischen Strömungen. Gemeinsam ist ihnen aber die Erfahrung der Äußerlichkeit einer entfremdeten gesellschaftlichen Struktur und der antimodernistische Reflex darauf.
8.
In den bisherigen Ausführungen wurde gezeigt, dass alle antimodernistischen Strömungen das Streben nach einer Abwehr und einer Überwindung des als umgreifend und absolut angenommenen gesellschaftlichen Verfalls eint. Die Frage wäre allerdings noch genauer zu klären, mit welchen Inhalten diese Wahrnehmung verbunden wird. Welche gesellschaftlichen Phänomene sind für den Antimodernismus überhaupt Ausdruck der „vollendeten Sündhaftigkeit, der „Zerstreuung“ des Daseins oder der Jahiliyyah?
Bei den Bemerkungen zu Fichte wurde schon darauf verwiesen, dass dieser den Stand der Sünde als Unselbstständigkeit des Subjekts begreift; was nichts anderes heißt, als dass dieses der gegenständlichen Wirklichkeit unterworfen ist und sich in der Objektivität „zerstreut“, indem es sich den Objekten hingibt. „Die sinnliche Begier, der Trieb der persönlichen Selbsterhaltung, und des natürlichen Wohlseins, ist die einzige Triebfeder, des Denkens sowohl, als des Handelns, des Menschen: – so steht das Denken lediglich im Dienste der Begier, und ist nur dazu da, um die Mittel zur Befriedigung jener sich zu merken, und sich zu wählen“ (Fichte 1956, S. 123). Die „Welt der Dunkelheit“ ist also für Fichte gekennzeichnet durch die Hingabe an die Objekte der Sinnlichkeit und der Lustbefriedigung.
Auch für Sayyid Qutb und in Anschluss an diesen für den Islamismus insgesamt stellt die Verfallenheit an die äußeren Objekte das zentrale Merkmal der Jahiliyyah dar: „Diejenigen, die nach einem Gegenstand dieser Welt streben … streben in Wirklichkeit nach etwas Hohlem, Billigem und Vorläufigem. Diese Welt in ihrer Gesamtheit ist in Allahs Sicht nicht den Flügelschlag eines Moskitos wert … Das Streben nach weltlichen Dingen lässt ihre Seelen in seichte Tiefen versinken … Die Mühen, die zum Erreichen weltlicher Ziele aufgebracht werden, verwandeln diese Welt in einen fauligen Sumpf, wo Tiere einander verschlingen und Insekten in das Fleisch der Gerechten stechen“ (Qutb, 1952, Kommentar zur Sure 83). Es ist die Hingabe an die sinnlichen Bedürfnisse, das immerwährende Streben und die ewige Lust nach äußerlicher Befriedigung, die die Welt in Schmutz und Dreck versinken lassen. Die moralische Degeneration der Jahiliyyah besteht also im Wesentlichen darin, den weltlichen sinnlichen Wünschen verfallen zu sein. Diese Hingabe an die Bedürfnisse des bloß sinnlichen Daseins erniedrigt laut Qutb die menschliche zu einer tierhaften Existenz. Die Würde des Menschen bestehe gerade darin, sich nicht dem sinnlosen Kreislauf sinnlicher Lust und damit den äußerlichen Objekten hinzugeben.7 Alle die dies tun, sind der Äußerlichkeit und ihrem triebhaften Dasein verfallen. Die Herrschaft ist bestimmt durch „tierähnliche Eigenschaften“ (Qutb 1965, Ch. 7) und die Gemeinschaft „wird trotz ihres materiellen zivilisatorischen Fortschritts ‚rückwärtsgewandt’, ‚entartet’ und ‚jahili’ sein“ (ebd.). Der Islamismus sieht sich also gegenüber der degenerierten und verkommenen Gesellschaft auf einem moralisch erhabenen Posten und er wendet sich mit Grausen von dem Zustand der Zerstreutheit an die Objekte der Lust ab und erhebt sich in höhere Gefilde.
Dieser wahnhafte Abscheu vor der Lustverfallenheit ist vom aufgeklärten, liberal-westlichen Standpunkt immer wieder als vormoderne, gesellschaftliche rückständige Lustfeindschaft interpretiert worden, die angeblich in „dem Islam“ angelegt sei. Bei dieser Gegenüberstellung einer scheinbar fortschrittlichen, an den individuellen Neigungen sinnlicher Befriedigung orientierten Moderne im Gegensatz zu den rigiden Moralvorstellungen der Islamisten gibt sich der westliche Standpunkt freilich gewohnt betriebsblind. Zweifellos handelt es sich bei dem Abscheu gegenüber der sinnlichen Begierde um eine regressive Auflösung der warengesellschaftlichen Widersprüche. Allerdings verweist dies zugleich darauf, dass der der Warenform eigene Kreislauf sinnlicher Befriedigung nicht Ausdruck je individueller Neigungen sinnlicher Lust ist, sondern vielmehr Resultat konsumistischer Zwanghaftigkeit im Rahmen äußerlich bleibender sozialer Bezüge. Die von der warenförmigen Vermittlung konstituierte subjektive Bedürfnisstruktur ist wesentlich davon geprägt, dass die Gegenstände in einem endlosen Prozess von Bedürftigkeit und äußerlich bleibender Befriedigung zu bloßen Objekten der Lust reduziert werden, die immer nur Surrogate für den primären Narzissmus sind. An diesen Grundwiderspruch der rational-irrationalen Subjektivität der Warenform knüpft der Islamismus an, um ihn regressiv aufzulösen. Er identifiziert ihn als verkommene Daseinsweise einer westlich geprägten Subjektivität, die es zu bekämpfen gilt. In der kulturalistischen Deutung dieser Regression vom Standpunkt einer „westlichen“ Überlegenheit wird freilich unsichtbar gemacht, dass der Kreislauf des steten Objektverbrauchs zum Zwecke der Lustbefriedigung (Konsumismus, Sexismus) selber durch und durch zwanghafte Züge aufweist und alles andere als freigewählt und souverän ist.
9.
In der antimodernistischen Perspektive der islamistischen Ideologie scheint es für die als total erlebte gesellschaftliche Wirklichkeit der Jahiliyyah eine klare Ursache zu geben: die ökonomische Korrumpiertheit, die moralische Verkommenheit und die persönliche Gier der neo-kolonialen Unterdrückungsregime. Die Überzeugungskraft des Islamismus resultiert zu einem erheblichen Teil aus dieser Identifizierung des gesellschaftlichen Verfalls mit der Vorherrschaft des Partikularismus.
Diesem sozialen und ökonomischen Niedergang entspricht dabei ein Verfall „menschlicher Werte“ und die Regression in einen „tierähnlichen Zustand“ sinnlichen Bedürfniszwangs. Der Kampf ist also für den Islamismus auf zwei Ebenen zu führen: einerseits auf der Ebene der Politik gegen die korrumpierten Eliten, andererseits und wichtiger noch als „Kulturrevolution“ gegen den allgemeinen gesellschaftlichen Verfall, wobei diese Eliten als die Vertreter par excellence des verkommenen Privatinteresses gelten: „Sie streben ohne Unterlass nach den belanglosen Reichtümern dieser Welt. Ein jeder versucht den anderen zu übertreffen und so viel wie möglich zu erraffen. Und deshalb frönt er allen Arten von Ungerechtigkeit und Laster um des flüchtigen Luxus willen.“ (Qutb 1965, Ch. 7) Die Herrschaft des (Neo-)Kolonialismus besteht nicht einfach in der politischen, rechtlichen und ökonomischen Unterdrückung, sondern diese Herrschaft wird als identisch angesehen mit der Hingabe an die äußerlichen Objekte der Lust, die als identisch mit dem partikularen Standpunkt gesehen wird. „Die Hingabe an Triebe und Launen ist wesentlich die Ursache aller Arten von Tyrannei und Missetaten. Sie ist der Quell allen Übels.“ (Qutb 1952, Kommentar zur Sure 78) Diese Hingabe korrumpiert die ganze Gesellschaft und führt zu einer „animalischen Freiheit, die sich im Niedergang des Menschen zeigt, in seiner Unterwerfung unter die Lüste und dem Verlust der Kontrolle über sich selbst. Diese Art der Freiheit wird nur von denjenigen vertreten, die ihre Menschlichkeit verloren haben und die deshalb ihre Sklaverei mit einem Kostüm trügerischer Freiheit verhüllen.“ (Qutb 1952, Kommentar zur Sure 79)
Die koloniale Herrschaft besteht damit letztlich in der Hegemonie der partikularen Interessen als Hingabe an die äußerlichen Formen der Bedürfnisbefriedigung. Im Kampf gegen „das Böse“ geht es folglich auch nicht mehr um die Erlangung politischer und ökonomischer Macht und um die konkreten Formen und Repräsentationen des allgemeinen Interessensstandpunkts, sondern um die Eliminierung der Herrschaft des egoistischen Interesses und der damit identifizierten äußerlichen Beziehungsformen.
10.
Die Wirkmächtigkeit des Islamismus resultiert nicht zuletzt daraus, dass er ein verbreitetes Unbehagen an den verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnissen aufgreift und ihm einen regressiven, antimodernistischen Ausdruck verleiht. Der eigene Standpunkt erhält dadurch eine höhere Weihe. Psychodynamisch entspricht dies der Identifikation mit der Vollkommenheit des Größen-Selbst. Der islamistische Kampf gegen die „gesellschaftliche Dekadenz“ im Namen eines höheren Zieles ist grundsätzlich und strukturell kompatibel mit antisemitischen Wahnvorstellungen. Im Antisemitismus ist die Figur des lüsternen, den sinnlichen Begierden hingegebenen „Juden“ ein stets wiederkehrendes Stereotyp.8 Die sinnliche Befriedigung wird dabei aber nicht schlicht als Hingabe an die äußerlichen Objekte der Lust charakterisiert, wie es einem Grundmuster des europäischen Rassismus entspricht, der den Nicht-Weißen als instinktgesteuertes Naturwesen identifiziert, das seinen natürlichen Trieben folgt. Die antisemitische Projektion geht darüber hinaus. Es sind nicht die bloß naturhaften Zwänge, die die „jüdische Dekadenz“ auszeichnen. Vielmehr dient die zügellose Begierde nur als Mittel zum eigentlichen Zweck, der darin besteht, die Ordnung und scheinbare Ganzheit jener „Gemeinschaft“ zu zersetzen, die sich in Abgrenzung zu den „Juden“ definiert. Wie im obigen Exkurs schon ausgeführt, entspringt die antisemitische Wahnvorstellung aus den rational-irrationalen Formen der modernen Subjektivität und erfüllt darin die Funktion, das stets bedrohte Gleichgewicht der narzisstischen Vollkommenheitsphantasien zu stabilisieren. Indem sich die idealisierende Übertragung auf das Größen-Selbst richtet, werden die veräußerlichten Beziehungsformen zugleich als existentielle Bedrohung wahrgenommen. Dieses Bedrohungsgefühl wird aber projektiv verarbeitet, indem die „Juden“ als eine fremde Macht erscheinen, welche die organische Gemeinschaft des grandiosen Selbst bedroht. Auf diese Weise lassen sich die veräußerlichten Beziehungen identitär als fremdes Dasein personalisieren. Im antisemitischen Wahnkonstrukt führt daher das eigene Größen-Selbst einen Kampf ums Überleben gegen die zersetzende Anti-Gemeinschaft des „Judentums“. Ein zentrales Moment dieser wahnhaften Identifizierung und Personalisierung ist die imaginierte Verschwörung und Planhaftigkeit im Vorgehen der „Juden“. Ihre Macht ist dadurch gekennzeichnet, dass diese nach einem geheimen, wiewohl durchdachten Plan handeln. Teil dieses verschwörerischen Handelns ist es, die moralische Verkommenheit und sinnliche Dekadenz zu fördern. Es ist also gemäß antisemitischer Zwangsvorstellung nicht einfach so, dass bestimmte Menschen und speziell „Juden“ sich ungezügelter Lust hingeben würden; solches könnte man als deviantes Verhalten identifizieren und den Mechanismen der öffentlichen Kontrolle unterstellen. Vielmehr handelt es sich um eine existentielle Bedrohung, die aus dem Ziel der „Juden“ erwächst, die Gesellschaft zu zersetzen und zu verderben. Der Verfall ist also kein natürlich-instinkthafter, wie dies das rassistische Ressentiment unterstellt, sondern er verknüpft sich mit dem Ziel, die Menschheit nach einem hinterrücks ausheckten Plan ins Verderben zu führen. Die Weltverschwörung der „Juden“ besteht in der planvoll betriebenen Auflösung der Gesellschaft mittels moralischer Dekadenz und sinnlicher Lustverfallenheit.
Da diese allgemeinen Muster antisemitischer Wahnvorstellungen Teil jener Widerspruchsbearbeitung sind, die als Gegenbild zu den veräußerlichten gesellschaftlichen Beziehungen das Phantasma eines vollkommenen Größen-Selbst der Gemeinschaft hervorbringt, sind sie folglich ganz spezifisch für die Warengesellschaft und die dazugehörige nationalstaatliche Formierung. Daher kann es auch nicht sonderlich überraschen, dass die Antisemitismusforschung mittlerweile fast einhellig davon ausgeht, dass sich antisemitische Muster und Wahrnehmungsraster in den „islamischen“ Ländern erst im Prozess der kapitalistischen Modernisierung herausgebildet haben. Von zentraler Bedeutung war dabei die Entstehung des modernen Nationalstaats bzw. des Nationalismus mit seiner identitären Bezogenheit der Einzelnen auf das Größen-Selbst der nationalen Gemeinschaft, ein Prozess, der auf engste verknüpft war mit der Transformation der gesellschaftlichen Vermittlung und der Entstehung der modernen, rational-irrationalen Formen von Subjektivität. Zusammen mit dem Nationalismus wurde aber auch der Antisemitismus aus Europa „importiert“, der deshalb so wirkmächtig werden konnte, weil er gegenüber der Bedrohung des allmächtigen Selbst-Objekts eine Entlastung verschafft, indem diese zu einer personalisierten Bedrohung durch die „Juden“ umdefiniert wird, gegen die es einen existentiellen Kampf zu führen gilt. Der Islamismus steht nicht nur, was das Versprechen eines „wahren“ Allgemeinheitsstandpunkts und der Vollkommenheit und Größe seiner Gemeinschaft angeht, in enger Tradition zur nationalistischen Ideologie, sondern auch in Bezug auf den Antisemitismus. Als Nachfolger des Nationalismus in den „islamischen“ Ländern kann man die islamistischen Strömungen als getreue Erbverwalter antisemitischer Wahnideen ansehen. Für den islamischen Fundamentalismus hat Michael Kiefer zu Recht bemerkt: „Die antisemitischen Stereotype des radikalen Islamismus unterscheiden sich nur unwesentlich von den antijüdischen Feindbildern der nationalistischen Propaganda der fünfziger und sechziger Jahre. Hinter der islamistischen Rhetorik … verbergen sich die altbekannten, dem modernen Antisemitismus entnommenen Stereotype“ (Kiefer 2002, S. 123). Zwar spielt auch der Palästina-Konflikt bei der Verbreitung antisemitischer Vorstellungen in den „islamischen“ Ländern eine wichtige Rolle, doch wäre es verfehlt, ihn als Ursache dafür anzusehen. Im Wesentlichen hat dieser Konflikt eine Katalysatorfunktion ausgeübt, die aber nur im Kontext der Widersprüche im Zuge der nationalen Formierung und deren Verfallsprozess zu erklären sind (vgl. ebd., S. 122ff.). Hintergrund für die Durchsetzung des modernen Antisemitismus ist die spezifische Konstitution gesellschaftlicher Irrationalität, die in den gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisen virulent geworden ist. Sayyid Qutb, der schon mehrfach zitierte Theoretiker des Islamismus, wirkte in diesem Zusammenhang wiederum als Vordenker: „Der erbitterte Krieg, den die Juden gegen den Islam angezettelt haben (…), ist ein Krieg, der in beinahe 14 Jahrhunderten nicht für einen einzigen Moment unterbrochen worden ist, der sich bis zu diesem Moment fortsetzt und sein Feuer in allen Ecken dieser Erde auflodern lässt. (…) Von ihrem ersten Tag an waren Juden die Feinde der muslimischen Gemeinschaft. Die Juden waren es, die die Polytheisten aufhetzten, ihnen Versprechen machten und mit ihnen gegen die muslimische Gemeinschaft konspirierten. Die Juden waren diejenigen, die einen Krieg der Gerüchte, der verdeckten Konspiration und des Verrats innerhalb der muslimischen Reihen führten, so wie sie auch Zweifel und Verdächtigungen über den Islam verbreiteten und zu Verfälschungen des muslimischen Glaubensbekenntnisses und zu falschen Behauptungen über seine Führer anstifteten. Der Kampf zwischen dem Islam und den Juden setzt sich gewalttätig fort und wird auf diese Weise weitergehen, weil die Juden erst mit der Zerstörung des Islam zufrieden sein werden. (…) In der jüngsten Ära sind Juden an jedem Punkt dieser Erde die Anführer des Kampfes gegen den Islam geworden. (…) Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckte ein Jude; hinter der Doktrin der animalistischen Sexualität steckte ein Jude und hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der geheiligten Beziehungen in der Gesellschaft steckte ebenfalls ein Jude. (…) Jeder, der diese Gemeinschaft von seiner Religion und seiner heiligen Schrift wegführt, kann nur ein jüdischer Agent sein, ob er dies nun bewusst oder unbewusst, willentlich oder unwillentlich tut. (…) Die Juden befreien die sinnlichen Begierden von ihren Beschränkungen und sie zerstören die moralische Grundlage, auf der der reine Glaube basiert. Sie tun dies, damit der Glaube in eben jenen Dreck gezogen wird, den sie so reichlich auf dieser Erde verbreiten. (…) Diesen jüdischen Konsens würde man niemals in einem Vertrag oder auf einer offenen Konferenz ausgesprochen finden. Es handelt sich stattdessen um eine stille Übereinkunft zwischen dem einen Agenten und dem anderen hinsichtlich des wichtigen Ziels“ (Qutb 2002; vgl. auch Müller 2004, S. 250). So komprimiert hätte wohl nicht einmal Fichte die Verderbnis sinnlicher Lust als Mittel des „jüdischen Weltverschwörungsplans“ formulieren können. Seit Entstehung, also seit Anbeginn der islamischen Gemeinschaft stellt das „Judentum“ eine stete Gefahr für die Fortexistenz dieser Gemeinschaft dar. Ihr Handeln war schon immer konspirativ und verräterisch und zielte von jeher auf die Zerstörung des Islam. Die geheiligten Beziehungen der Muslime sind überall und umgreifend bedroht vom Schmutz moralischer Verkommenheit, die sich in den unbeschränkten sinnlichen Begierden äußern. Die Zersetzung der Gemeinschaft ist das Werk jüdischer Verschwörung. Qutbs Schrift „Unser Kampf mit den Juden“ ist ein erschütternder Beleg dafür, in welchem Ausmaß der Islamismus von der Logik des Größen-Selbst und seines Abwehrkampfes gegen eine imaginierte existentielle Bedrohung durchsetzt ist.
11.
Proklamierten die Modernisierungsdiktaturen noch den allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt im Horizont abstrakter Reichtumsproduktion als politisches Ziel, so hat sich der Islamismus weitgehend davon verabschiedet. Die „Energie“ des Selbst-Objekts richtet sich somit nicht mehr auf die Massenmobilisierung der staatlich gelenkten Fortschrittsmaschine, sondern konzentriert sich weitgehend auf eine Moralisierungspolitik alltäglichen Verhaltens. In der Programmatik postnationaler Tugenddiktatur geht es ausschließlich um die Einhaltung der von Gott gegebenen und von Mohammed überbrachten Gesetze. Der nationale Souverän stellte noch eine gewisse Teilhabe am abstrakten Reichtum in Aussicht. Dagegen reduziert sich die Partizipation am materiellen Reichtum unter der Herrschaft der postnationalen, religionistischen Souveränität auf eine Teilhabe in der Form der Elendversorgung. Die ökonomische Potenz der islamistischen Gemeinschaft ist – im arabischen Raum jedenfalls – zumeist vermittelt über die Transfers aus den Öleinnahmen und gewährleistet allenfalls eine materielle Grundversorgung auf Suppenküchenniveau. Hierin hat die auf das Politische bezogene Farce des Allgemeinheitsstandpunkts ihre materielle Entsprechung. Die grandiose Gemeinschaft des Rechts und Gesetzes hat ihren Mitgliedern nicht mehr zu bieten als ein prekäres Überleben. Dieser Verfall materieller Reichtumspotenz reflektiert sich auch in den konkreten Bestimmungen, die der Souveränität zugesprochen wird. Als Souverän der kapitalistischen Modernisierung strebte der Staat die umfassende Entwicklung der materiellen und produktiven Ressourcen an. Dementsprechend nahm das Wechselverhältnis von Massenmobilisierung und Produktion einen zentralen Stellenwert ein. In der postnationalen Form hat sich die Souveränität dagegen von solch schwerfälligen Merkmalen emanzipiert: Die abstrakte Allgemeinheit reduziert sich auf die blanke Form des (göttlichen) Gesetzes überhaupt, dem die Gesellschaft zu unterwerfen ist. Die identitäre Einheit der Einzelnen stellt sich über den reinen Glaubensakt her. Kennzeichen dieses religiösen Kollektivs ist seine explizit metaphysische Qualität, das von Gott gegebene Gesetz und der Glaube daran. Charakteristisch ist deswegen auch der Wechsel der Embleme: Nicht mehr Hammer und Sichel als Sinnbild für Arbeit und Produktion kennzeichnen die Bestimmung der Allgemeinheit, sondern das Gesetzesbuch des Korans. Das Unterordnung unter den göttlichen Souverän, der die Einheit der Gläubigen verbürgt, ist durch einen Glaubens- bzw. Willensakt realisierbar, während die Arbeit als integrierendes Moment einen nationalen Produktionsapparat voraussetzt. Hier kann auch der Unterschied zwischen Fundamentalismus und Totalitarismus festgemacht werden. Totalitäre Regime können als Akteure des warenförmigen Modernisierungsprozesses verstanden werden, die wesentlich zur blutigen Durchsetzung des Systems abstrakter Reichtumsproduktion beigetragen haben. Der islamische Fundamentalismus hingegen erwächst aus der Krise eben jenes Prozesses, weshalb sich seine Herrschaft im Wesentlichen nur mehr auf die Diktatur des Gesetzes stützen kann (vgl. Lewed 2008a).
Diese Wendung zu Recht und Gesetz ist indes auch ein Zeichen für die Flexibilität der modernen Subjektform. Die Transformation zum grandiosen Selbst der Gesetzesform bietet die Möglichkeit, sich jenseits von „schwerfälligen“, ökonomisch vermittelten und auf ein nationales Territorium bezogenen Kollektividentitäten einer großen Gemeinschaft zugehörig zu fühlen, die notfalls auch ohne materiellen und produktiven Inhalt auskommt. Die Form ohne Inhalt eröffnet Möglichkeiten flexibler Identitäten, die der Struktur des globalisierten Krisenkapitalismus viel adäquater sind als die traditionellen nationalen. Die Allgemeinheit des Gesetzes, der Volkswille, hatte in der Epoche der Nationalstaaten noch eine geographische Entsprechung und das Selbst-Objekt gewissermaßen seine geographische Heimat. Nunmehr ist die Allgemeinheit aber über die nationalen Grenzen hinausgewachsen und als umma, d.h. als religiöse Gemeinschaft globalisiert. Damit geht auch eine Individualisierung des Heiligen des Selbst-Objekts einher. Um Teil der Gemeinschaft zu sein, reicht das persönliche Bekenntnis, der individualisierte Glaubensakt. Letztendlich ist die reale Macht und Größe des religionistischen Kollektivs gar nicht ausschlaggebend, da die Imagination des grandiosen Selbst sich von den materiellen Grundlagen emanzipiert hat. Notfalls kann der tatsächliche Umfang dieser Gemeinschaft auch auf die „Mannschaftsstärke eines Tretboots“ sinken (Lohoff 2008, S.75).
12.
Wie schon ausgeführt, ist das Selbst-Objekt gekennzeichnet durch eine Allmachts-Instanz der Vollkommenheit und Stärke, der sich der Einzelne undifferenziert verbunden fühlt. Die drohende Ohnmacht und Leere bei Trennung vom grandiosen Selbst generiert den identitären Zwang zur Zuordnung. Dieses allgemeinste Kennzeichen moderner Kollektividentitäten auf der Ebene psychischer Konstitution ist indes verknüpft mit spezifischen Motiven auf der Ebene der symbolischen Formen. Die kulturelle Symbolik macht gewissermaßen die Imagination von Größe und Erhabenheit plastisch, indem sie spezifische Repräsentationen für die ihr zugrundeliegende Struktur des grandiosen Selbst schafft. Zum einen dienen „gemeinsame psychische Repräsentationen von Ereignissen und Helden“ dazu, das „Selbstwertgefühl unter den Gruppenmitgliedern zu steigern“. Diese sogenannten „gewählten Ruhmesblätter (chosen glories) … unterliegen einer starken Mythologisierung und werden dadurch zu typischen Markern von Großgruppen“ (Volkan 2006, S. 221). Man müsste dieser Erkenntnis allerdings noch hinzufügen, dass es dabei um eine mythologisierte Selbstbestätigung des grandiosen Selbst geht, das bestrebt ist, sich durch historische Rückbezüge seiner Größe zu vergewissern. Der Islamismus stellt den Mythos vom „Goldenen Zeitalter“ in den Mittelpunkt, in dem Mohammed und seine ersten vier Nachfolger als Auserwählte Gottes die Herrschaft innehatten. Er beruft sich also nicht nur auf die historische Größe eines bestimmten Herrschers, sondern zudem noch auf die Instanz göttlicher Allgewalt. Im Kontext der dialektischen Beziehung von Allmacht und Ohnmacht bedeutet dies aber, dass sich gerade die reale ohnmächtige Erfahrung in die Anrufung einer allmächtigen Instanz Gottes verkehrt. Der Erweckungsgesang ist gleichzeitig ein Verzweiflungsruf der Tretbootgruppe, die sich auf dem Heil versprechenden Weg wähnt und nicht auf dem, der ins Verderben führt.9 Auf den Krisenprozess in den „islamischen“ Ländern bezogen, kann man also sagen, dass der Verfall der Modernisierungsregime in einem bestimmten kulturell-symbolischen Muster verarbeitet wird, in dem die religiöse Überlieferung von der ehemaligen historischen Größe des Islam aktiviert wird.10 Es wäre allerdings entschieden verkürzt, diese Mythenbildung bloß auf die Ebene diskursiver Konstrukte zu reduzieren. Vielmehr ist sie auf eine grundsätzliche Weise vermittelt mit den Widersprüchen der rational-irrationalen Subjektkonstitution. Begreift man den Islamismus nicht im Kontext des Widerspruchs zwischen Äußerlichkeit und primärem Selbst, so können die geradezu grotesken Mythen, mit denen er seine chiliastischen Phantasien ausstaffiert, auch und gerade bei Kennern der Materie nur kopfschüttelndes Unverständnis erzeugen.11 Der Springpunkt der großen Erzählungen wie dem des „Goldenen Islamischen Zeitalters“ ist, dass sie auf eine Art Ur-Mythos verweisen, der im Bedingungsfeld des Unbewussten gebildet wird und der konkreten Mythenbildung, die sich auf kulturelle Traditionen in Form von Geschichten, Traktaten und Überlieferungen bezieht, vorgelagert ist. Der rückprojizierten Größe als Mythos vom „Goldenen Zeitalter“ liegt der irrationale, zwanghafte Anspruch des allmächtigen Selbst-Objekts zugrunde. Erst dieser Anspruch verleiht den „gemeinsame(n) psychische(n) Repräsentationen“ von Ereignissen und Helden ihre spezifische Wirksamkeit, und ohne ihn würden die grotesken Mythologisierungen ideologisch nicht in dem Maße greifen, wie sie es tun.
Wenn man sich in diesem Zusammenhang der Sentenz von Carl Schmitt erinnert, dass „die Kraft zum Handeln … in der Fähigkeit zum Mythus (liegt)“ (zit. nach Sombart, S. 27f.), so heißt dies, dass sich die Kraft zum Kampf nicht aus der bloßen historischen Erzählung speist, wie dies eine diskurs-positivistische Lesart vielleicht nahelegen würde. Vielmehr ist die „Fähigkeit zum Mythus“ bezogen auf ein psychisches Dispositiv der Grandiosität und der Größe, das erst den Hintergrund für die Wirksamkeit der historischen Erzählung bildet. Die Mythen über Mohammed und seine Nachfolger sind die Veranschaulichung und Bestätigung der Erhabenheit des Größen-Selbst.
13.
Die Mythologisierung von Größe und Erhabenheit erfüllt nicht nur die Funktion, die Kollektividentitäten zu bestätigen und zu stärken. Zugleich drückt sich darin auch ein zentrales Moment warenförmiger Herrschaft aus: das patriachale Geschlechterverhältnis.
Auf die basale Beziehung zwischen dem Erhabenen als Inbegriff des Größen-Selbst und dem veräußerlichten Verhältnis des warenförmigen Subjekts zu seinem gesellschaftlichen Zusammenhang wurde schon mehrfach hingewiesen. Bei Fichte ist das „absolute Selbstbewusstsein“ grundsätzlich geschieden von dem „unselbstständigen Bewusstsein“, das auf die Objekte der Äußerlichkeit bezogen bleibt. Und der in der Tradition Fichtes stehende arabische Nationalist Michel Aflaq fasst diesen Gegensatz explizit als ontologisches Verhältnis zwischen Materie und Geist, also als Gegensatz zwischen der Äußerlichkeit des Materiellen und der Wesenhaftigkeit des Geistes. Der Geist müsse sich angesichts der Verfallenheit der sinnlichen Begierden an das „Materielle“ zu einer „höheren Einheit erheben“. In diesen Widerspruch zwischen dem vollkommenen und dem äußerlichem, auf die sinnliche Befriedigung bezogenen Selbst schreibt sich aber das moderne patriarchale Geschlechterverhältnis ein. Der Mann steht für die Größe und das Erhabene, während die Frau die sinnlichen wie äußerlichen Bedürfnisse repräsentiert. Sie dient dabei als Projektionsfläche für die Abwertung und Verachtung der sinnlichen, äußerlichen Wirklichkeit, während der Mann durch die ihm eigene „Kraft des Geistes“ (Schopenhauer) sich angeblich über die nur äußerlichen Begierden der Sinnlichkeit erhebe (vgl. Lewed 2005, S. 120 – 127). Die Frauen sind in dieser Imagination aber nicht nur sinnlich orientierte Naturwesen, denen die männliche Erhabenheit souverän gegenübersteht, sondern werden auch „als Repräsentantinnen der Gattung angesehen, denen es gelingt … den Mann in den Bann zu schlagen und für die Zwecke der Natur zu ködern“ (Bennent 1985, S. 192f.) Als „der Verderb der modernen Gesellschaft“ (Schopenhauer) „personifizieren sie alle die Gefahren, die den … Mann aus seiner Bahn schleudern“ (ebd.). Das „Weibliche“ steht in diesem Zusammenhang für die Gefahr, die das männliche Willenssubjekt von seiner eigentlichen Bestimmung abhält, nämlich sich mittels der „Kraft des Geistes“ von eben diesem Sinnlichen loszureißen, und die ihn stattdessen in den Niederungen des äußerlich-sinnlichen Daseins gefangenhält. Die Dialektik von Größen-Selbst und Äußerlichkeit spiegelt sich also auch im Geschlechterverhältnis, in der das Männliche als willensstarke Kraft (Geist) der Naturverfallenheit (Materie) des Weiblichen gegenübersteht. Hintergrund für dieses patriarchale Verhältnis bildet die „Abspaltung“ (Roswitha Scholz) all jener Momente, die in der Reduktion menschlicher Verhältnisse auf rational-verdinglichte Beziehungen zwischen Waren- und Rechtssubjekten nicht aufgehen und die in eine „imaginierte Weiblichkeit“ (Silvia Bovenschen) projiziert bzw. an die Frauen delegiert werden. Aus der Perspektive des männlichen Standpunkts wird „die Frau“ dabei als Bedrohung des idealisierten Selbst-Objekts wahrgenommen, ähnlich wie in der antisemitischen Wahnvorstellung. Im Gegensatz zum Phantasma einer planvollen, weltverschwörerischen Zersetzung der Gemeinschaft mittels sinnlicher Begierde steht das Weibliche allerdings für die spontane und rein aus der Natur kommende Bedrohung des grandiosen Selbst. Das Selbst-Objekt, nach Kohut nur auf die Dimension kollektiver politischer oder religiöser Kollektive bezogen, steht somit auch für die Imagination männlicher Gemeinschaft und Größe, die bestrebt ist, sich von der „weiblichen Naturverfallenheit“ abzuheben, indem sie sich über diese „erhebt“. Der von Kohut so bezeichneten „In-Group“ des vollkommenen Größen-Selbst steht also nicht nur eine „Out-Group“ im Sinne einer kollektiven politischen oder religiösen Gegenidentität gegenüber, vielmehr bildet „das Weibliche“ als Abspaltung der nicht zugelassenen sinnlichen Momente eine eigene Dimension. Einerseits ist sie notwendig für die Konstitution und Abgrenzung des Größen-Selbst, andererseits aber stellt sie eine ständige „Störung des Gleichgewichts der narzisstischen Vollkommenheit“ (Kohut) dar. Als Personifizierung der sinnlichen Verfallenheit wird sie zugleich inferior gesetzt und bekämpft.
Mit der Abwertung und Verachtung der als weiblich identifizierten sinnlich, äußerlichen Wirklichkeit ist also auch gleichzeitig die Imagination eines Kollektivs männlicher Größe verbunden, dem sich der Einzelne verknüpft fühlt. Diese Imagination treibt teils nur in der individualisierten Vorstellung ihr Unwesen, wie in Nietzsches Übermensch-Gemeinschaft philosophischer Heroen aller Zeitalter. Diese Fixierung drängt aber geradezu danach, real zu werden, und sie setzt sich um in männerbündischen Strukturen, die das männliche Größen-Selbst repräsentieren.12 Der von Carl Schmitt geprägte Begriff der Dezision erhält in diesem sozial-psychologischen Kontext eine klare Bedeutung: Er ist das Geltendmachen und Wirklichwerden der „Kraft des Geistes“, die reine Darstellung von Macht, die gleichzeitig die Bekämpfung des projizierten „Weiblichen“ bedeutet. Das bedrohte Erhabene versichert sich seiner Stellung durch die Kontrolle bzw. die Bekämpfung der abgespaltenen Momente.
14.
Diese für die moderne Gesellschaftsform charakteristische Dichotomie des Männlich-Erhabenen und der kontrollierenden Abwertung des Weiblichen durchzieht die Geschichte der Modernisierung. Sie ist ein durchgängiges Merkmal der rational-irrationalen Subjektivität, die sich dem Größen-Selbst verbunden fühlt und die bedrohliche Äußerlichkeit als naturhaften, ja tierähnlichen Zustand identifiziert. Auch und besonders gilt dies für das ideologische Krisenungeheuer des Islamismus. Kein Wunder also, dass sich der islamistische Vordenker Sayyid Qutb auch dieser Frage eingehend widmete: Der weiblich konnotierten „animalischen Freiheit, die sich im Niedergang des Menschen darstellt, in seiner Unterwerfung unter die Lüste und dem Verlust der Kontrolle über sich selbst“ setzt er die Instanz entgegen, die für die moderne Gesellschaft insgesamt eine wesentliche Bedeutung innehat und einen zentralen Stützpfeiler ihrer Herrschaft darstellt: die über die geschlechtliche Arbeitsteilung definierte und die Abspaltung repräsentierende patriarchale Familie. Dieser Abschnitt sei hier ausführlich zitiert: „Wenn die Familie das Fundament der Gesellschaft und das Fundament der Familie die Teilung der Arbeit zwischen Ehemann und Ehefrau ist, und zudem das Großziehen der Kinder die wichtigste Aufgabe der Familie darstellt, dann gilt eine solche Gesellschaft als wahrhaft zivilisiert. In der islamischen Lebensordnung schafft diese Art der Familie die Lebenswelt, in der sich menschliche Werte und Moral entwickeln und sich in der neuen Generation entfalten können; außerhalb der Einheit der Familie können diese Werte und diese Moral keinen Bestand haben. Wenn jedoch freie sexuelle Beziehungen und Kinder, die aus solchen Beziehungen hervorgehen, das Fundament der Gesellschaft bilden, und wenn das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf sinnlicher Lust, Leidenschaft und Trieben basiert, und wenn die Arbeitsteilung nicht auf der Verantwortung der Familie und den naturgegebenen Gaben beruht; wenn die Rolle der Frau hauptsächlich darin besteht, attraktiv, sexy und verführerisch zu sein, und wenn die Frau ihrer grundsätzlichen Verantwortung der Kindererziehung entbunden ist … dann ist eine solche Zivilisation von einem menschlichen Standpunkt aus gesehen rückwärtsgewandt oder in islamischer Terminologie ‚jahili’. Die Ordnung der Familie und die Beziehung der Geschlechter bestimmen den gesamten Charakter einer Gesellschaft, ob diese rückwärtsgewandt oder zivilisiert, jahili oder islamisch ist. Gesellschaften, die den körperlichen Trieben und den animalischen Empfindungen freien Lauf lassen, können nicht als zivilisiert betrachtet werden, gleichgültig wie groß ihr Fortschritt in den Bereichen Industrie und Wissenschaft sein mag … Auf der Stufenleiter des wahrhaften menschlichen Fortschritts führt die Entwicklung von animalischen Trieben zur Sphäre höherer Werte. Um diese Triebe zu kontrollieren, basiert eine fortschrittliche und zivilisierte Gesellschaft auf einer Ordnung der Familie, in der die menschlichen Bedürfnisse ihre Befriedigung finden können, und ebenso sorgt sie für die künftige Generation, damit diese in einer Weise heranwächst, durch welche die menschliche Zivilisation voranschreitet und die menschlichen Eigenschaften zur vollen Blüte kommen.“ (Qutb 1965, Ch. 7) Was Qutb hier mit „zivilisiert“, „höheren Werten“ und „fortschrittlicher Gesellschaft“ bezeichnet, ist nichts anderes als die inneren Bestimmungen des als erhaben imaginierten Größen-Selbst. Ihnen stehen die naturhaften und tierähnlichen Verhältnisse der Jahiliyya entgegen. Es ist für das Wahngebäude des Islamismus durchaus konsequent, die Dekadenz und Naturverfallenheit nicht nur auf den Einfluss des Westens zu beziehen, sondern ihn auch mit dem „Weiblichen“ zu verbinden. Denn schließlich steht dieses „Weibliche“ als äußerliche „Natur“ für das Gegenteil des erhabenen Größen-Selbst und bedroht daher die von diesem imaginierte gesellschaftliche Ordnung. Die patriarchale Struktur der Familie erlaubt es aber, so Qutb, die Regression zu kontrollieren, und ist somit unhintergehbare Voraussetzung für die „fortgeschrittene“ Gemeinschaft. Die Naturnähe und damit die Inferiorität der Frau bleibt auch hier bestehen, nur dass sie durch ihre spezifische Rolle in der Familie auf ein höheres Ziel hin orientiert werden kann. Dazu gehört zum einen die Erziehung der Kinder, die zu den „natürlichen Bestimmungen“ der Frau gehört; zum anderen leistet sie damit aber durch die Bildung einer neuen islamischen Generation einen wesentlichen Betrag zur Schaffung einer „zivilisierten Gesellschaft“. Die Frau ist also wichtiger Bestandteil des kollektiven Größen-Selbst, allerdings in inferiorer Stellung als Repräsentantin des „Natürlichen“, das jedoch unter der Kontrolle und Führung des Mannes im Dienst eines höheren Ziels nützlich gemacht werden kann.
Was bei Qutb der Sache nach schon klar formuliert ist, wird in der Charta der Hamas, also dem palästinensischen Zweig der Muslimbrüder, noch weiter ausgeführt: „Die muslimischen Frauen spielen im Freiheitskrieg keine geringere Rolle als die Männer; sie gebären die Männer und spielen eine große Rolle in der Anleitung und Erziehung der (neuen) Generation. Die Feinde (Kreuzfahrer, Juden und Imperialisten; KL) haben diese Rolle begriffen und erkannt, dass sie unter einer bestimmten Bedingung den Krieg gewinnen würden: wenn sie nämlich die muslimischen Frauen in einer Weise leiten und erziehen könnten, die sie dem Islam entfremden … Die Frauen zu Hause und die Familie der Dschihad-Kämpfer, seien sie Mütter oder Schwestern, erfüllen die allerwichtigste Pflicht: die Sorge um den Hausstand und die Erziehung der Kinder gemäß den vom Islam abgeleiteten moralischen Vorstellungen und Werten; und ferner, dass sie ihre Söhne dazu anhalten, den religiösen Weisungen zur Vorbereitung auf die Pflicht des ihnen bevorstehenden Dschihad zu folgen. Deshalb müssen wir ein Auge haben auf die Schulen und die Lehrpläne, nach denen die muslimischen Mädchen erzogen werden, damit sie zu wahrhaften Müttern werden, die sich ihrer Pflichten im Freiheitskrieg bewusst sind. Sie müssen in vollem Maße befähigt werden, wachsam zu sein und zu wissen, wie sie ihren Haushalt besorgen müssen. Ökonomisch zu wirtschaften und jede Vermeidung von unnützen Ausgaben für den familiären Haushalt sind die Grundvoraussetzungen, unser Ziel weiter zu verfolgen, trotz der schwierigen Umstände, mit denen wir konfrontiert sind. Darum müssen wir sie ständig daran erinnern, dass sparsamer Umgang mit Geld von gleichem Wert ist wie das durch die Adern zirkulierende Blut: Es stellt die Fortdauer des Lebens der jungen wie der älteren Generation sicher“ (Hamas 1988, Artikel 17 und 18).
Die Frau ist also auch bei der Hamas Teil der Gemeinschaft, insofern als sie für die Erziehung der neuen Generation in der Pflicht steht. Was bei Qutb implizit enthalten ist, formuliert die Charta der Hamas explizit: die Aufzucht der jungen Generation – gemeint sind natürlich die Söhne – steht im Zeichen des Kampfes gegen den äußeren Feind, also Israel und den Westen insgesamt. Die Frau integriert sich durch ihre Mutter- und Erzieherinnenrolle in das kollektive Größen-Selbst. Ihre inferiore Stellung als Naturwesen wird einerseits festgeschrieben, andererseits auch auf das höhere Ziel der „Befreiung“ des Größen-Selbst bezogen. Bei der Hamas kommt indes noch eine zusätzliche Anforderung für die Frauen hinzu. Angesicht der elenden materiellen Lebensverhältnisse der palästinensischen Muslimbrüder ist es die Aufgabe des weiblichen Geschlechts, das existentielle Elend zu managen und den familiären Haushalt ökonomisch prekär abzusichern. Die Aufgabe der Krisenfrauen besteht darin, mit den materiellen Entbehrungen und dem Elend als Bedingungen für das Weiterexistieren der Gemeinschaft umzugehen. Sie sorgen so einerseits für frisches Blut in Form der Dschihad-Kämpfer und sind gewissermaßen selbst das Blut der Verzichts-Gemeinschaft. Für die Hamas scheint die Einbindung der Krisenfrauen in die Größen-Selbst-Gemeinschaft derart selbstverständlich, dass eine Vernachlässigung ihrer Pflichten nur dem äußeren Feind geschuldet sein kann. Die antisemitische Wahnvorstellung eines planvollen Vorgehens zur Zersetzung des Kollektivs spiegelt sich also auch in der Wahrnehmung, dass die Frauen durch die Feinde von ihrer eigentlichen Bestimmung abgelenkt und in die Irre geführt werden. Hinter der Vernachlässigung ihrer Pflichten steht das planvolle Vorgehen von „diversen zionistischen Organisationen“ (ebd.). Diese „kontrollieren gewaltige materielle Ressourcen, die sie in den Stand setzen, ihre Mission inmitten unserer Gesellschaften durchzuführen … Diese Organisationen operieren (in einer Situation), in welcher der Islam von gesellschaftlicher Macht ausgeschlossen und von seinem Volk entfremdet ist. Deshalb müssen die Muslime ihre Pflicht erfüllen und sich den Strategien dieser Saboteure entgegenstellen. Wenn der Islam die Herrschaft zur Führung der Muslime wiedererlangt, wird er diese Organisationen vernichten, die in Feindschaft zur Menschheit und zum Islam stehen” (ebd.). Die muslimische Gemeinschaft befindet sich diesem Wahnkonstrukt zufolge aber nicht nur im beständigen Abwehrkampf gegen die imaginierte Verschwörung zionistischer Organisationen, sondern auch gegen die Bedrohung, die im Wesen der Frau selbst begründet liegt. Denn als „Naturwesen“, das mit der abgespaltenen Sinnlichkeit identifiziert wird, repräsentiert sie die ständige Gefahr und Versuchung des Abgespaltenen. Deshalb muss auch die Erhabenheit des Größen-Selbst durch permanente Kontrolle der Frauen geschützt werden: „Es ist offensichtlich, dass eine Gesellschaft, welche die animalischen Begierden insofern lenkt, als sie günstige Voraussetzungen für die Entwicklung und Vervollkommnung des menschlichen Verhaltens schafft, dass eine solche Gesellschaft strenger Schutzmaßnahmen für friedvolle und stabile Familienverhältnisse bedarf. Nur so kann die Institution der Familie unbehelligt von den Einflüssen jäher Leidenschaften ihre grundlegenden Aufgaben erfüllen. Demgegenüber kann in einer Gesellschaft die wahre Menschlichkeit schwerlich zur Entwicklung kommen, wenn sittenlose Erziehung, moralisch vergiftete Lehren und außerhalb der Moral stehende sexuelle Praktiken um sich greifen. Der Menschheit angemessen und würdig sind deshalb allein die islamischen Werte und Sittengesetze, die islamischen Lehren und deren Absicherung. Nach diesem unwandelbaren und wahrhaften Maßstab des menschlichen Fortschritts stellt der Islam die wahre Zivilisation und die islamische Gesellschaft die wahrhafte Zivilisiertheit dar.“ (Qutb 1965, Chapter 7) Die patriarchale Familie ist also die Instanz, mittels derer die „animalischen Begierden“, die „weiblich“ besetzt sind, kontrolliert und in die Gemeinschaft des Großen und Erhabenen integriert werden können. Da aber die Frauen das Einfallstor für zügellose sexuelle Begierden darstellen, bedarf es stets strenger Sicherungen, um zu verhindern, dass sie das Größen-Selbst von innen heraus zersetzen. Frauen, die sich dem nicht fügen, müssen aus der Gemeinschaft ausgestoßen und gerade wegen ihrer Naturverfallenheit bekämpft werden.
15.
Die feste Burg des Islamismus ist also die Erhabenheit seines kollektiven Größen-Selbst, die es gegen die weltverschwörerische Zersetzung durch „die Juden“ und die Naturverfallenheit der Frauen zu verteidigen gilt. Der Antisemitismus, der an den Frauen ausagierte Kontrollwahn und die Moralisierung der gesamten Gesellschaft sind daher für die islamistische Ideologie gleichermaßen konstitutiv. Darin erweist sich der Islamismus als legitimes Kind des kapitalistischen Modernisierungsprozesses. Das gilt auch für die Kategorie des Allgemeinwillens und der (göttlichen) Souveränität. Der Islamismus ist, wie bereits ausgeführt (Lewed 2008), ein Abkömmling des antiimperialistischen Kampfes, der mit blutigem Ernst noch das Gespenst des Volkswillens auf seinen Fahnen trägt. Allerdings – und hier liegt der entscheidende Unterschied zur Epoche der nationalen Befreiungsbewegungen – hat sich der ökonomische und politische Rahmen insofern vollständig verändert, als das warenproduzierende Weltsystem in einen säkularen Prozess der Zersetzung und des Zerfalls übergegangen ist. Auf der Ebene der psycho-sozialen Konstitution war in der Durchsetzungsphase der modernen Vergesellschaftungsform die nationale Einheit und das in Nationalstaaten organisierte Allgemeininteresse noch Bezugspunkt für das Größen-Selbst. Der Islamismus reflektiert das Brüchigwerden bzw. den Zerfall des nationalen Bezugsrahmens insofern, als sich dieses nun auf die transnationale Gemeinschaft der umma bezieht und damit ein dem globalen Krisenkapitalismus adäquates Konstrukt schafft. Am konsequentesten wird diese Transformation des Kollektivphantasmas in jenem Spektrum des Islamismus wirksam, das sich selbst als dschihadistische Kämpfergemeinschaft versteht. Die regressiven Momente, die den Islamismus insgesamt auszeichnen, können sich hier ungebremst und unabhängig von nationalen Bezügen und politischen Verpflichtungen im Kampf gegen „Kreuzfahrer und Juden“ transnational austoben. Das zur Erhabenheit und Größe führende Erweckungserlebnis bedarf nicht mehr der nationalen Projektionsfläche, sondern verwirklicht sich im individuellen Bekenntnis zum heilbringenden Kampf gegen die Jahilliyya. Die adäquate Organisationsform dieser individualisierten Bekenntnisgemeinschaft ist, wie könnte es anders sein, die des Männerbundes. Ihr Ziel ist aber nicht mehr, die Verwaltung der allgemeinen Angelegenheiten in die Hand zu bekommen, sondern besteht in einem männlich-apokalyptischen Kampf gegen das imaginierte „Böse“. Ohne die veränderten historischen Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen, beziehen sich die Dschihadisten zwar noch auf die Dimension des Allgemeinwillens, doch ist dies nur möglich, weil dieser in die metaphysischen Sphären des göttlichen Souveräns entwichen ist. Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, dass sich das Entstehen dieser wahnwitzigen Avantgarde des Allgemeinwillens mit dem weltpolitischen Niedergang der Vormacht nachholender Modernisierung, der Sowjetunion, verband. Die Niederlage des realsozialistisch geprägten Modernisierungsprojekts in Afghanistan war ein Markstein für das Ende der nachholenden Modernisierung überhaupt und gleichzeitig ein Markstein für den Aufstieg des transnationalen und postpolitisch verwilderten Islamismus. In der Herausentwicklung der Dschihadgruppen in Afghanistan spielte der schon zitierte Azzam eine zentrale Rolle: „Tausende – womöglich Zehntausende – Ausländer wurden von Azzam und seinem Dienstleistungsbüro rekrutiert, aufgenommen und ausgebildet mit dem Ziel, dem afghanischen Widerstand militärische Unterstützung zu liefern. Das Ergebnis war eine islamistische ‘Internationale’, bestehend aus Männern, die ein starkes Gefühl brüderlicher Verbundenheit über alle nationalen, kulturellen und ideologischen Unterschiede hinweg entwickelten, ein Gefühl, das über die Grenzen des Nationalstaates und den Kampf gegen eine bestimmte arabische Regierung weit hinausreichte. Vielleicht noch wichtiger ist, dass das Dienstleistungsbüro einen Kreis hochmotivierter, erfahrener und abgehärteter Männer sammelte, die mehr paramilitärische Fähigkeiten besaßen als jede andere islamistische Gruppe vor ihnen.“ (Hegghammer 2006, S. 165)
Bewegungen wie Al-Qaida, die in afghanischen Höhlen ihre „feste Basis“ gefunden haben, zielen selbstverständlich nicht mehr darauf, im Rahmen von Nationalstaatlichkeit politische Organisationen aufzubauen, um entweder durch Revolution oder Wahlen die politische Macht im Sinne einer Verwirklichung des „wahren Allgemeininteresses“ zu übernehmen. Der Heroismus der islamistischen Kämpfergemeinschaft hat keine politische Dimension mehr, aber er ist der Weg in die höheren Gefilden männlicher Erhabenheit, des Stolzes, der Todesverachtung und der Selbstopferung. Abdullah Azzam steht für eine ganze Generation dschihadistischer Kämpfer, deren Erweckungserlebnisse der letzte Schrei eines ohnmächtigen Bewusstseins und einer verwilderten postmodernen, individualisierten und globalisierten männlichen Subjektivität sind. Den betreffenden Schriften über die religiöse Erweckung und über die Geburt einer neuen Gesellschaft entströmt ein spezifischer Leichengeruch: der Leichengeruch des religionistischen Märtyrertums als höchster Stufe des Menschseins. Die Karawane des männlichen Heroismus zieht nicht mehr durch die sumpfigen Niederungen des Interessenkampfes veräußerlichter Beziehungen, sondern wandelt in höheren Sphären, dem Jenseits ihres möglichen Opfertodes zugewandt.13
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1 Zum Begriff des Religionismus vgl. Lohoff 2008.
2 Walter Laqueur hat in seinen Arbeiten über den islamistischen Terrorismus zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht nur „objektive Faktoren“ die Entstehung von Terrorgruppen bedingen, sondern ebenso psychische (Laqueur 2003, S. 33). Falsch ist es dabei allerdings, diese „psychischen Faktoren“ als allgemein menschliche zu bestimmen und die für die moderne Subjektivität charakteristischen Formen des „psychischen Apparats“ (Freud) außer Acht zu lassen. Wenn Aggressivität und Hass beispielsweise als allgemein menschliche Charakterzüge betrachtet werden, die zu politischem Fanatismus führen können, so verschwimmt das Phänomen des Islamismus im Nebel historischer Zufälle: Einst war das Christentum von Fanatismus geprägt, aus dem Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverbrennungen resultierten, heute hat eben der „Fanatismus im Islam … eine Wiedergeburt erlebt“ (ebd., S. 40), so lautet dann die Schlussfolgerung. Diese Figur der unspezifischen, d.h. allgemein menschlichen psychischen Disposition führt dazu, dass auch die historische Erklärung – um die es eigentlich gehen soll – bestenfalls unspezifisch wird. Schlimmstenfalls gerät sie zur Apologie und dient dazu, den westlichen Wertehimmel anzupreisen und ihn in Stellung gegen den Islamismus zu bringen, der dann als Rückfall in vorzivilisatorische Zustände gilt: „Bisher ist die Psychologie des geschlossenen Geistes (wohl so etwas, wie das Gegenteil des „offenen“, westlichen Geistes, KL) nicht allzu gründlich erforscht worden. Dass Selbstmordterroristen im Westen eine technische Ausbildung erworben haben, bedeutet jedenfalls nicht, dass sie die westlichen Werte verstehen oder diese gar akzeptieren“ (ebd., S. 142).
3 Zur logisch-historischen Entwicklung der modernen Subjektivität vgl. Lohoff 2005.
4 Holz’ theoretisches Bezugsfeld zur Kritik des modernen Antisemititismus beschränkt sich auf die Ebene semantischer Beschreibung. Diese formal-deskriptive Analyse gewinnt ihre Durchschlagskraft erst durch den Bezug auf die Kategorien der kapitalistischen Vermittlungsverhältnisse und ihrer sozial-psychologischen Implikationen.
5 Da in der Online-Version des Textes keine Paginierung vorliegt, wird bei den Zitaten jeweils nur das entsprechende Kapitel (abgekürzt mit Ch.) angegeben, sofern nicht aus der Einleitung (Introduction) zitiert wird .
Die folgenden Zitate von Qutb und Hamas wurden aus dem Englischen übersetzt von Hermann Engster. Diesem sei an dieser Stelle herzlichst gedankt.
6 Hegel reflektierte diese radikale Auflösung der Interessen zugunsten der Allgemeinheit in Bezug auf die Epoche der „Tugend und des Schreckens“ (Robespierre) der Französischen Revolution sehr präzise. Die Freiheit des Allgemeinwillens ist mit der Sphäre des Besonderen und Einzelnen nicht zu vermitteln: was mithilfe der Begrifflichkeiten der Narzissmustheorie auch völlig konsequent erscheint, da die Äußerlichkeit dem Größen-Selbst unvermittelt gegenübersteht. „Es ist die Freiheit der Leere, welche zur wirklichen Gestalt und zur Leidenschaft erhoben [wird] und zwar […] zur Wirklichkeit sich wendend, im Politischen wie im Religiösen der Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und die Hinwegräumung der einer Ordnung verdächtigen Individuen wie die Vernichtung jeder sich wieder hervortun wollenden Organisation wird. Nur indem er etwas zerstört, hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseins; er meint wohl etwa irgendeinen positiven Zustand zu wollen, z.B. den Zustand allgemeiner Gleichheit oder allgemeinen religiösen Lebens, aber er will in der Tat nicht die positive Wirklichkeit desselben, denn dieser führt sogleich irgendeine Ordnung, eine Besonderung sowohl von Einrichtungen als von Individuen herbei; die Besonderung sowohl und objektive Bestimmung ist es aber, aus deren Vernichtung dieser negativen Freiheit ihr Selbstbewußtsein hervorgeht. So kann das, was sie zu wollen meint, für sich schon nur eine abstrakte Vorstellung und die Verwirklichung derselben nur die Furie des Zerstörens sein” (Hegel 1982, S.50). Die Selbstbestätigung der abstrakten Allgemeinheit vollzieht sich nach Hegelscher Terminologie nicht durch die Dialektik von Entäußerung und Rückkehr zum eigenen und eigentlichen Wesen, sondern nurmehr in der Zerstörung. Für die Identität von Allgemeininteresse und Größen-Selbst bedeutet dies die absolute Frontstellung gegen die Sphäre der Äußerlichkeit und die Besonderheiten des privaten Standpunkts. Siehe Wedel (2001).
7 Die projektive Wahrnehmung, dass die sinnliche Bedürfnisbefriedigung den Menschen auf das Dasein eines Naturwesens reduziert, ist indes nicht gerade neu. Sie entsteht im Prozess der Selbstlegimitierung der modernen Vernunft, ist aber auch in den lebensphilosophisch inspirierten Strömungen Allgemeingut. Ortega y Gassets Auslassungen können so auch als repräsentativ für eine ganze Geistesrichtung projektiver Naturwahrnehmung angesehen werden. Er schreibt: „Das Tier lebt … in einer dauernden Weltangst und gleichzeitig in dauernder Begierde nach den Dingen … (Es) sind die Objekte und Ereignisse der Umwelt, die das Leben des Tieres beherrschen und es wie eine Marionette hin und her ziehen und führen. Es beherrscht sein Dasein nicht, es lebt nicht aus sich selbst … Das Tier (lebt) immer außer sich, sich selbst entfremdet … sein Leben (ist) wesensmäßig ein Außer-sich-Sein, eine Selbstentfremdung.“ (Ortega y Gasset 2005, S. 64)
8 In dem antisemitischen „Klassiker“ „Die Sünde wider das Blut“ von Arthur Dinter, erstmals erschienen 1917, ist zu lesen: „Der Körper ist ja nur das Instrument, auf dem die Seele spielt. Ein hoch entwickelter Geist kann nur in einem hochentwickelten Organismus die leibliche Voraussetzung finden, sich auszuwirken. Ein tiefstehender oder schlechter Geist sucht sich umgekehrt einen der Tierheit noch näher stehenden Körper aus, um seinen niederen Trieben und Lüsten zu frönen. So dienen die höheren Rassen vorwiegend hohen und guten, die niederen vorwiegend niederen und schlechten Geistwesen zur Wohnung auf der Erde.“ (Dinter, zit. nach A.G. Gender-Killer, S. 15)
9 Die einflussreichste Schrift von Sayyid Qutb lautet auf englisch „Milestones“, was sich mit dem Begriff „Meilensteine“ nur ungenügend übersetzen lässt. Denn die Konnotation von Milestone beinhaltet auch die Gabelung des Weges, der zum einen in Richtung Verderbnis führt und zum anderen zur Vollkommenheit und zum Heil.
10 Marx hat dieses Phänomen im „Achtzehnten Brumaire“ schon beschrieben: „Wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürden Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (Marx 1974, S. 542)
11 Gilles Kepel, der seine Analyse über den Islamismus fernab von irrationalen Momenten ansiedelt, vermerkt im Zusammenhang der historischen Verklärung des „Goldenen Zeitalters“, dass man über „diese Weltsicht, über deren simples Nachahmertum nur lächeln könnte.“ (vgl. Kepel 2002, S. 42)
12 Auf die politische Sphäre der Weimarer Zeit und speziell auf Carl Schmitt bezogen hat Nicolaus Sombart in seiner Studie „Die deutschen Männer und ihre Feinde“ gezeigt, wie politisches Handeln irrationalem männlichem Dominanzstreben unterliegt und sich in männerbündlerischen Strukturen vollzieht (siehe Sombart 1997).
13 Dass derartige Höhen männlicher Allmachtsphantasie indes alles andere als mit der modernen Vernunft unvereinbare Identitätsbestimmungen sind, davon gibt der Leitstern aufgeklärten Denkens hinlänglich Auskunft: „Auch im allergesittesten Zustande bleibt diese vorzügliche Hochachtung für den Krieger … selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat also etwas Erhabenes an sich, und macht zugleich die Denkungsart des Volkes, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handlungsgeist (d.h. Handelsgeist, KL), mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen pflegt“ (Kant 1996, S. 187).
aus: krisis 33 (2010). Die Ausgabe ist um 12 Euro bei uns bestellbar.