mit zwei praktischen Anhängen
Streifzüge 48/2010
von Ilse Bindseil
Robert Walser, Der Räuber
Es gibt offenbar zwei Formen, Freundschaft zu schließen, erzählte ich mir selbst, eine, die auf einer Illusion, die andere, die auf einem So-tun-als-Ob beruht. Ob es sich um den einen oder andern Typ handelt, entscheidet sich hinterher, wenn die Freundschaft erblüht oder abgestorben ist. Abgestorben, da erinnert man sich an die ursprüngliche Beziehungslosigkeit, über die man sich hinweggesetzt hat. Erblüht, staunt man, wie Geringschätzung, Heuchelei, purer Zwang und Förmlichkeit sich in Freundschaft umwandeln können, sofern ein einziges Element sich dazugesellt: Zeit.
Wie kann man über einen ursprünglichen Einwand hinweggehen, fragte ich mich und erinnerte mich an die unwiderstehliche Wertschätzung, die mir entgegengebracht wurde, und dass ich mich wie eine Braut fühlte, die sich sagt: Die Liebe wird schon noch dazukommen. Sie war dazugekommen, aber ihr hatte stets der rechte Halt oder der aufrichtige Grund gefehlt. Das Ende war ein bitteres Scheitern der Freundschaft und befreite Rückkehr zu mir selbst.
Wie wird aus Förmlichkeit Freundschaft, fragte ich mich nicht weniger erstaunt und erschauerte bei der Erinnerung an den gigantischen Augenblick, als mir zwei freiwillige Hände statt der erpressten einen entgegengestreckt wurden. Die gestelzte Konversation auf der Türschwelle war einer Plauderei auf dem Küchensofa gewichen. Ich war anhänglich geworden, stellte ich hinterher fest, ich suchte sogar die Berührung. Von gedrechselter Sprache keine Spur, nicht einmal von der lästigen Atemlosigkeit, diesem Hineinstolpern in eine ungedeckte Zukunft, in der ich nachatmen musste, was ich zuvor geredet hatte. Diesmal hatte ich zwischen den Sätzen geatmet, was sag ich, zwischen den Worten. Wovon die Rede war? Nicht von allem Möglichen, sondern von uns Freunden, in dem genau konturierten Sinn, dass wir nichts gemeinsam erlebt hatten, aber die Zeit uns gemeinsam erlebt hatte. Ungezwungen hatten wir uns auf den Standpunkt der Zeit gestellt. „Ach, den Nussbaum wollen Sie umhauen? Sie meinen, seine Tage sind gezählt? Unsere auch.“ Hinterher war ich fröhlich – weil ich da gewesen war, nicht wie sonst, weil ich’s hinter mir hatte.
Freundschaft, sagte ich mir in einem ersten Versuch, Bilanz zu ziehen, ist die persönliche Anerkennung einer höchst unpersönlichen Angelegenheit, des Lebens, der gemeinschaftliche Verzicht auf Einzigartigkeit und Besonderheit, glückliche Entfernung von sich selbst.
So gefasst, hatte sie offenbar etwas mit Alter zu tun, das nachlassende Interesse an der eigenen Person erleichterte die Sache jedenfalls gewaltig. Alles hing davon ab, ob es einem gelang, die oberflächliche Beziehung in Ehren zu halten. Das war nicht einfach; noch war sie ja nichts außer ein bisschen Heuchelei und Simulation und musste trotzdem geehrt werden, nur so konnte sie etwas werden. Weil ich so wenig förmlich war, also eigentlich ganz sympathisch, standen meine Chancen hier nicht besonders gut, und vielleicht war ich von den Ausnahmen deshalb so beeindruckt, und die eine oder andere Freundschaft hatte sich ganz wunderbar bewährt.
Wenn ich ehrlich bin, kehrte ich zu meiner Eingangsüberlegung zurück, dann besteht für mich der ganze Unterschied darin, ob das Werben von mir oder vom andern ausgeht. Geht es von mir aus, kann ich Hoffnungen zurückschrauben, Enttäuschungen bearbeiten, frei mit den Grenzen hantieren, mal den Traum erleben und dann wieder die Realität konfrontieren, am Ende das herausdestillierte Körnchen reiner Freundschaft genießen. Geht es vom andern aus, dann bin ich anders, passiv, der leisesten Empathie unfähig und gierig nach Komplimenten.
Wenn ich verehrt werde, sagte ich mir, kann ich die Freundschaft nicht ehren, der Dritte im Bunde fehlt.
Das ist, wie wenn ein Verliebter dir die Sterne vom Himmel holen will; bald kannst du nicht mal mehr den Lichtschalter betätigen, willst aber Feuerwerk und Feiertagsbeleuchtung den lieben langen Tag.
Gerüchte …
Ich war mit dem Gerücht aufgewachsen, dass Freunde dazu da seien, bedenkenlos in Anspruch genommen zu werden, gemäß der alten Rätselfrage: „… und ist doch nie verbraucht?“ Ich hatte auch gehört, dass Freundschaft die einzige Beziehung sei, in der Kritik keine Rolle spiele. Wenigstens das konnte ich mir noch aus erlebten Kinderfreundschaften herleiten, wo das Aussetzen der Kritik den Einstieg in die Phantasie bedeutete. Konnte ich mit meiner Freundin nicht gemeinsamen Tagträumen nachhängen, ohne für blöd zu gelten? Konnte ich ihr nicht meine geheimsten Wünsche mitteilen, ohne mein Gesicht zu verlieren, ihr die abenteuerlichsten Pläne mitteilen, ohne beim Wort genommen zu werden, meine Familie schlechtmachen, ohne den gefürchteten Verrat zu begehen?
Wir haben uns in Freundschaft geübt, sagte ich mir. Was wie ein Alles-ohne-Kritik aussah, das war in Wirklichkeit ein Nichts-außer-Freundschaft. Wie sollte es Freundschaft sein, wenn wir doch gar nicht wussten, was Freundschaft ist? Also haben wir es Freundschaft genannt, und damit es nicht nichts war, haben wir gesagt: keine Kritik. Wenn wir schon nicht wussten, was es war, so hatte es doch eine Eigenschaft, die bewies, dass es sie gab.
Von daher, sagte ich mir, auch der Hang, dem Unsäglichen Raum zu geben, das Unterste der eigenen Person nach oben zu kehren, den Freund zum Mitwisser all des Miesen zu machen, das man aufzuweisen hat; gar nicht mal, weil man es nicht allein tragen kann, sondern aus Rücksicht auf ihn: Wie sonst soll er merken, dass er ein Freund ist?
So befreundet bin ich nicht mit mir, sagte ich mir, dass ich mich meinen unsäglichen Seiten aussetzen will. Lieber will ich keinen Freund.
Ich war in dem Köhlerglauben erzogen worden, dass der beste Freund des Mannes seine Frau ist und umgekehrt. Wenn das Vertrauen so weit gediehen war, dass er, der von Amts wegen ihr Mann war, ihr Kamerad wurde, wenn umgekehrt sie die Geschlechtergrenze überschritt und ebenfalls Kamerad wurde, dann war für eine Nur-Freundschaft, eine Nichts-als-Freundschaft-Freundschaft kein Bedarf.
Wenn ich meiner Freundin etwas über meinen Mann erzähle, argumentierte ich auf meine rigoristische Art, dann setze ich mich ja selbst herab. Wie kann ich ihn meinen Mann nennen und über ihn reden, frei nach der Devise: Weißt du, was mein Mann gemacht hat? Ich fand das unlogisch, nicht nur fragwürdig, vor allem unlogisch. Deutete es nicht auf eine Spaltung in mir, und was sollte meine Freundin sein, wenn nicht ein Teil dieser Spaltung?
Man hat ja auch nicht einen Freund, sagte ich mir, und redet über ihn, höchstens zu einem anderen Freund, wenn man nämlich das Bedürfnis verspürt, jedem Einzelnen von ihnen das Gefühl zu vermitteln, er wäre der Einzige. Oder aber – und das kam mir irgendwie bekannt vor –, wenn man zu bloßen Bekannten ein unbefangeneres, ja herzlicheres Verhältnis als zu Freunden pflegte, und da ergab sich natürlich schon die eine oder andere Gelegenheit zu einem Bonmot auf Kosten der Freundschaft.
Ich war auch in der Überzeugung aufgewachsen, Freundschaft wäre die libidinöse Erscheinungsform der Pubertät, erstens zielgehemmt und zweitens passager, also nichts Eigenständiges. „Komm an meinen Busen, Freund!“, die Aufforderung galt dem, was gerade nicht in der Liebesbeziehung aufging, der Jugend, der Humanität, dem gemeinsamen Traum von der Frau, schlicht dem Träumen. Sie meinte nicht zuletzt die Kunst, obwohl mir das immer absurd vorgekommen war: dass etwas die Kunst und nicht die Kunst, umgekehrt, eine Sache meinte. Auch dass Freundschaft sich selbst meinen sollte, dieser Gedanke erzeugte in meinem Kopf keine Vorstellung.
… und Mystifikationen
Ausgerechnet die Äußerung eines Jesuiten, der in einer WG lebte, brachte mich wieder auf das Thema. Wie er, in seinen Lebensumständen von andern Menschen seines Alters nicht unterschieden, das Zölibat verkrafte, wurde er gefragt. „… und man muss gute Freunde haben“, antwortete er. Den ersten Teil seiner Antwort vergaß ich sofort; wahrscheinlich hatte er mit Religion zu tun. Aber das Paradox ging mir nach. Was ersetzen die guten Freunde dem, der mit ihnen die Liebesbeziehung ersetzen muss, fragte ich mich, und ohne dass sie bloß Ersatz wären. Was hieß in diesem Sinn gut? Im Geläufigen bezeichnete „guter Freund“ ja eher die Abwesenheit eines Feindes.
Die Antwort ließ sich ein paar Jahre Zeit, aber ich hielt die Frage in Ehren. Das war nicht wenig, da Ersatz, frz. ersatz, für mich immer eine trostlose Vorstellung gewesen ist, vielleicht die trostloseste von allen. Und natürlich haben weder Glaube noch Verstand, sondern die Umstände mir ein Licht aufgesteckt; mit andern Worten: Ich erfuhr, was ein guter Freund ist, eine Freundin oder ein Freund.
Ein Freund, sagt der Volksmund, ist jemand, der einen so akzeptiert, wie man ist. Ich fixierte mich nicht länger auf das potenziell Diskriminierende daran, dass man eben nur so ist, wie man ist, auch das Diskriminierende für den Freund. Ein Freund, formulierte ich für mich, ist jemand, der mich wahrnimmt. Wenn er mich anredet, merke ich, dass ich wirklich bin. Zwar, das Erlebnis stellt sich auch ohne Freund ein, ich brauche bloß eine Ohrfeige zu kassieren. Dass ich es mit begleitenden Gefühlen, minimalen Reflexionen, einem ganzen in behaglicher Gewohnheit ablaufenden Reaktionsschema ausstatten kann, also in einem alltäglichen, zugleich erlebten Sinn bin, liegt an der Gegenwart meinen Freundes.
Es ist nicht so, dass ich ihm ein griesgrämiges, deprimiertes, verheultes Zerrbild von mir liefern darf, und er muss es mögen; diese Karikatur des Alter Ego ist nicht gefragt. Vielmehr verfügt er selbst dann über ein authentisches Bild von mir, wenn dieses mir restlos abhanden gekommen ist, ich teils wie tot, teils verzweifelt lebendig, aber wie ohne Körper bin. Durch ihn werde ich zwar nicht von mir, aber von der Entstellung geheilt. Er ist mein Treuhänder, bei ihm ist meine Normalversion hinterlegt: ich, wie ich bin, bloß nicht verzerrt. Er hat sie sich angeeignet, im vielfältig verschachtelten Sinn des Begriffs, und ich habe mich an diese Tatsache gewöhnt, mich auch ein wenig abhängig davon gemacht, weiß ich doch, dass ich mich bei Bedarf mit ihr versorgen, mich mit ihr abgleichen, mich gegebenenfalls mit ihr aufladen kann. Nur auf Grund einer blinden Gewohnheit oder eines mechanischen Reflexes flüchte ich mich zu ihm, wenn ich mich wie versteinert oder verkümmert fühle, meine Stimme nicht mehr kontrolliere, meine Themen nicht mehr variieren kann; ich weiß weder, warum mir so ist, noch warum ich komme. Lächelnd greift er in die Schublade und gibt mir ein Messer: Hier, schäl mal die Kartoffeln, aber nicht wieder so dick wie beim letzten Mal!
Ich und mein Original
Ein Freund, resümiere ich für mich, ist jemand, der im Besitz meines Originals ist. Ein Liebster ist vielleicht im Besitz von mir, mein Freund ist im Besitz meines Originals. Ein Freund, sagte ich mir, beschenkt mich mit meiner eigenen Wirklichkeit. Nicht existenziell, eher moralisch oder ästhetisch bin ich auf ihn angewiesen. Denn ohne ihn bin ich zwar auch, aber je nach Zufall vergröbert, verkleinert, verzerrt, ohne die Aura der Person, mit ihm aber verantwortungslustig und handlungsfähig. Hochgradig gefährlich daher, den Freund zu strapazieren, aber unabdingbar, ihm zu vertrauen; wenn man ihm nicht vertraut, bestreitet man ihm nämlich, was er ist. Kein Grund indes, die Wirklichkeit, die von ihm abhängt, mit Banalität zu verwechseln, seiner natürlich; auch umgekehrt, was er einem gibt, für etwas anderes als das Gewöhnlichste zu halten. Man ist nicht auserwählt, bloß weil er mit einem spricht, er nicht Gott und man selbst weiß Gott nicht gerettet; selbst wenn dieses Gefühl dem nicht totzukriegenden Größenwahn am genauesten entspricht. Seine Leistung ist einzigartig in einem höchst alltäglichen Sinn: Soeben warst du noch in deinen Tagträumen, Halluzinationen und Projektionen abgesoffen, da kommt er und sagt: „Hör mal …“, und du fühlst dich im Bruchteil einer Sekunde wie repariert.
Über den Freund nachdenken, sagte ich mir, kann man nicht, ohne dass die Drohung aus Kindertagen herüberklingt: „… dann bist du nicht mehr mein Freund.“ Da mein Freund nicht nur ein Teil, sondern auch der Garant meiner Welt ist, ist die Drohung seines Verlusts gleichbedeutend mit der des Verlusts meiner Welt. Je nachdem, ob er mehr den immanenten oder den transzendentalen Part übernimmt, ist dabei mal die Drohung größer als der Verlust, mal der Verlust erheblich größer als die Drohung. Eine Freundschaft, die halten soll, muss unablässig nach beiden Seiten bearbeitet, das Existenzielle muss zum Alltäglichen herab-, das Alltägliche zum Existenziellen heraufgestuft werden; perspektivisch jedenfalls, um sie vom Ballast der Projektionen zu befreien und um den Schnittpunkt in den Blick zu bekommen.
Das heißt nicht, sagte ich mir, dass an ihr herumgedoktert werden soll, im Gegenteil. Eine Freundschaft leben – um das geschmacklose Wort zu gebrauchen – heißt sie genießen.
Pragmatik des Benimms1: Faule AusredeVor allem komm mir nicht mit der Entschuldigung, du seiest erschöpft. Erschöpft zu sein ist würdelos, Verrat an sich selbst. Alles andere als ein Rückzug, ist es die heimtückischste Form des Übergriffs, Dramatisierung, getarnt als Appell und inszeniert als Unterwerfung. Alles andere als eine Entschuldigung, ist es selbst eine Untat, auf dem kriminellen Pfad nicht nur das nächste, sondern auch das schwerere Vergehen. Da hat jemand nicht bedacht, dass seine sterbliche Natur ihm das Maß gibt, er hat nur an Ausnahme und so weiter und hinterher dann an Erschöpfung gedacht! Er hat gegen die Verantwortung für sich selbst verstoßen und damit gegen das einzige Gesetz, das der Einzelheit des Menschen Rechnung trägt. Ein solcher Verstoß bedürfte mehr als andere der Entschuldigung, nur, wenn das Vergehen den Platz der Entschuldigung besetzt, wo soll die Entschuldigung Platz nehmen? Aus welcher Ressource soll sie schöpfen? – Ich weiß, was du sagen willst. „Die Verantwortung für sich selbst entsteht aus der Einzelheit; sie entsteht aus dem Alleinsein, sie entsteht aus der Einsamkeit. Ich bin aber nicht allein“, willst du sagen, „einsam schon gar nicht, meine Ethik ist nicht mager, sie zielt auf Vergesellschaftung, sie zielt auf Verwirklichung. Nur wenn ich mich übernehme, merke ich, dass ich nicht allein bin, und überschreite die Grenzen meiner Persönlichkeit.“ Jetzt bist du in deinem Fahrwasser. „Wenn meine Kräfte erschöpft sind“, fährst du fort, „merke ich, dass es noch andere Kräfte gibt, sprich: die von anderen; solange die eigenen reichen, merke ich es ja nicht. Wenn andere mir zu Hilfe kommen müssen, spüre ich meine kollektive Natur, mein faktisches Verschmolzensein, mein wahres und wahrhaftes Wesen.“ Triumphierend, in Gedanken längst vor größerem Publikum: „Wie sollen wir unsere kollektive Natur betätigen, wenn wir keine Hilfe brauchen, und wie können wir uns helfen lassen, wenn wir uns nicht zu viel zumuten?“ Wäre ich ein buddhistischer Meister, ich würde dir mit der Faust ins Gesicht schlagen: das für deine Erschöpfung und das für die schmeichlerische Miene, mit der du sie vorträgst, und das für den Stolz in deinen Augenwinkeln, und das und das! Mit blutender Nase würdest du davonschleichen: erleuchtet. Aber nichts ist so verführerisch wie Erschöpfung: für einen selbst, denn man braucht nicht zu denken; für andere, denn jeder kann sich einklinken. Nichts ist ein so machtvolles Argument, ein so eindeutiger Ruf. Das ist wie SOS: Hilfe tut not, Kritik ist verboten. „Meister, ich bin erschöpft, schlaflos wühle ich mich durch die Bücher großer Geister; wahrlich, wenn ich den Kopf auf dem Kissen drehe, spüre ich, wie die Buchstaben mit schwerem Gewicht von der einen auf die andere Schädelseite hinüberpurzeln, wie sich das H im sperrigen G, das breitbeinige A im O verfängt.“ Ich würde dir mit der Faust ins Gesicht schlagen: Dies für die Selbstgefährdung und das hier für die Ausnahme, etwas Besonderes für das Besondere. Weißt du, was es bedeutet, eine Ausnahme zu sein? Für den eigenen Überfluss die Notration der andern einfordern, das bedeutet es. Hier hast du, was ich den andern zugedacht hatte, die ganze Ration! Um das Nasenblut aufzufangen, müsstest du den geschwätzigen Mund mit der Hand verschließen, und prompt, wie es in den alten Büchern heißt, stellte Erleuchtung sich ein. – Wäre ich aber bloß Personalchef einer großen Firma, würde ich in deinen Personalbogen schreiben: Kann nicht einmal Verantwortung für sich selbst tragen, wie dann für andere; eifrig und bemüht, aber die Basis fehlt. 2: Goldene RegelWas dir widerfahren ist, erzähle nur einmal und einem Einzigen; dann hast du es erzählt. Und wenn es der Vulkanausbruch des Jahrhunderts, die Liebe deines Lebens, das Unglück deiner Familie, der Schlüssel zu deinem Charakter ist, erzähl es nur einmal. Du wirst merken, dann erzählst du es gar nicht. Lebe, dann brauchst du dich nicht zu erzählen. – Es ist nötig, das Wissen über dich zu vervollständigen, und sei es aus Bescheidenheit oder, um der Wahrheit die Ehre zu geben, der Idealisierung zu wehren? Du meinst, wer schweigt, wird überschätzt, stille Wasser sind tief, sagt man zu Unrecht von ihm? Du musst deutlich machen, meinst du, dass auch bei dir manches im Argen liegt, dass du von Widersprüchen gebeutelt bist? Das musst du um der lieben Wahrheit willen, um der noch lieberen Wirklichkeit willen klarstellen? – Interessiere dich nicht für das, was du nur in Erklärungen bist. Sei das nicht, dann gibt es auch nichts dahinter zu vermuten. – Wer auch hier wieder einen Trick vermutet, sich künstlich zu verkleinern, mit dem geh um, wie der Meister mit dem ungebetenen Schüler: Versteck dich vor ihm, vertreib ihn mit dem Knüppel, und wenn du ihn schließlich akzeptierst, ist das sein Bier, kann er resignieren lernen. – Gib das Reden seinem Gegenstand oder dem Reden seinen Gegenstand zurück. Plaudere über das Wetter – früher hieß das, preise die Schöpfung –, erzähle das Gewesene, erkläre das Mechanische, denk über das Denken nach. Erzähle nicht das Wetter, erkläre nicht das Gewesene, denke nicht über das Mechanische nach, preise nicht das Denken. Erkläre nicht das Wetter, denk nicht über das Gewesene nach, erzähle nicht das Mechanische, preise nie das Denken. |