Dialektik der Freundschaft

Streifzüge 48/2010

von Julian Bierwirth

Der Kapitalismus macht keine Gefangenen. Er lässt „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘“ (Kommunistisches Manifest). Das Gegenüber zählt nur, solange es sich im Tausch als ebenbürtig erweist. Taugt es nicht dafür, kann es mir gleichgültig sein, was auch immer mit ihm passiert. Freundschaft ist die Aufhebung dieser patriarchal-kapitalistischen Anonymität, im Positiven wie im Negativen.
Im Negativen, weil Freundschaft als strukturell männerbündisches Prinzip immer schon Teil der gebrochenen Totalität eben dieser patriarchalen Vergesellschaftung ist und ihre Vollendung findet in der Kameradschaft des Schützengrabens: Während der Mann in den Krieg zieht, um Frau und Kind zu schützen und sich so im täglichen Kampf aller gegen alle zu bewähren hat, braucht er die Freundschaft als Ausweich- und Rückzugsort. Sie stellt die andere Seite der Männlichkeit dar, die notwendige Voraussetzung, um den Anforderungen der gesellschaftlichen Totalität an die Einzelnen zu trotzen und diese gleichsam zwar nicht überwinden, dafür aber ertragen zu können.
Im Positiven, weil die solidarisch-kooperative Überwindung der Vereinzelung, die Anerkennung von anderen als Individuum ohne Aberkennung all dessen, was an ihnen nicht in unseren eigenen Ansprüchen und Vorstellungen aufgeht, eine Grundbedingung für jedwedes individual-kooperatives Miteinander ist. Das Gegenüber ernst zu nehmen, ihm auf gleicher Augenhöhe zu begegnen ohne im selben Atemzug alles auf- und gegenzurechnen – wie sollte eine Überwindung der Warenmonade anders praktizierbar sein?
Freundschaft gelangt auf diese Weise zu einem Doppelcharakter, sie hat das Potential zur Aufhebung, steht aber in der ständigen Gefahr, als bloße Abspaltung zu enden. Noch in den reflektiertesten politischen Zusammenhängen schlägt sie von der Befreiung in die Unterdrückung um, sobald die Dialektik den Beteiligten nicht mehr bewusst ist.

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