Wie Reichstag ohne Kuppel

Über den neuen demokratischen Populismus

von Roger Behrens

»Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten«, hieß es früher einmal im korrekt anarchistischen Jargon. Heute, wo ohnehin nichts mehr verboten zu sein scheint, und vor allem nicht die aggressive Zurschaustellung jeder nur erdenklichen Form plappernder Dummheit, lautet die Devise bündig »Mitmachen!« – ändern will man eh nichts. »Jede Stimme zählt«, »Deine Stimme zählt«, »Geh wählen«, »Mach Dein Kreuz« heißen die Aufrufe zur Entmündigung.

Diese Wahl ist nicht die erste, bei der die Wahl selber als konformistisch-konsumistischer Akt beschworen wird, und beileibe auch nicht die erste, bei der das zur Wahl stehende Angebot sich nur in der beschämenden Banalität unterscheidet. Eigentlich hatte man wohl gehofft, dass nach der US-Präsidentschaftswahl die »Yes We Can!«-Euphorie auch auf die bundesdeutsche Politik überschwappt; nun funktioniert das demokratische System der BRD gänzlich anders, und vor allem fehlt es hierzulande an einer profilierten Identifikationsfigur, wie Barack Obama sie darstellt.

Zudem zeichnet sich jetzt schon in den USA unheilvoll ab, dass die Logik des Kapitals von großen Slogans weitgehend unbeeindruckt ihren Weg nimmt, und zwar nicht aus der Krise raus, sondern schnurstracks auf die nächste Krise zu. ­Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die großen deutschen Volksparteien über konkrete oder zumindest konkret erscheinende Krisenlösungskonzepte in ihren Wahlprogrammen weitgehend schweigen – stattdessen präsentiert man Propaganda auf Waschmittelreklame-Niveau (»Wirtschaft mit Vernunft«, »Unser Land kann mehr« ).

Zwar gibt es noch den klassischen Populismus, insbesondere in nationalistischen Braun- und Rottönen, wo durchaus von der Krise die Rede ist – nämlich im Zusammenhang mit Schuld und Verantwortung, von »denen da oben«, reichen Bonzen und Geld raffenden Kriminellen. Die popkulturelle Inszenierung der Demokratie hatte sich bisher darauf beschränkt, zur Wahl aufzurufen, damit diese Parteien, die sich auf Sünden­böcke kaprizieren, nicht gewählt und die so genannten Protestwähler demokratisch überstimmt werden.

Mit der nun bevorstehenden Bundestagswahl setzt sich ein neuer Populismus durch, der eine demokratische Variante von jener Politisierung der Gesellschaft darstellt, die Herbert Marcuse dereinst für den Nationalsozialismus diagnostizierte: Die Wahl selbst wird zum Zustimmungsakt, dem das prinzipielle Einverständnis mit der bestehenden Ordnung immer schon vorausgeht. Akzeptiert wird diese Ordnung allerdings nicht als Zwangsverhältnis, und nicht einmal, weil der Einzelne hier den persönlichen Vorteil wittert, sondern einfach aus Gewohnheit und Selbstverständlichkeit. Vom autoritären Staat ist hier keine Spur. Insofern treten bei den verschiedenen Kampagnen zur Wahl ebenso wie bei den Umfragen zur Wahl die Parteien kaum und der Staat gar nicht in Erscheinung. Das skurrilste Beispiel dafür ist die Initiative »Die Demokratiebotschafter«. Sie wollen »darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, wählen zu gehen. Dafür brauchen sie Mitstreiter und laden jeden – ob jung oder alt – herzlich ein mitzumachen.« Es geht um ein »Zeichen gegen Wahlmüdigkeit«; »Demokratiebotschafter sind zudem herzlich aufgefordert, den Slogan ›Demokratie ohne Wähler ist wie…‹  kreativ zu ergänzen.« Die Initiative hat es vorgemacht: »Demokratie ohne Wähler ist wie Reichstag ohne Kuppel.« Und das ist auch die einzige, im Übrigen völlig geschichtsvergessene Begründung, die von der Initiative dafür geliefert wird, warum es denn nun wichtig sei zu wählen.

Klar wird hier das Prinzip, nach dem dieser demokratische Populismus funktioniert: Es geht nicht mehr um Programme, für die einzelne Parteien oder Politiker stehen, sondern um den Wahlvorgang, das Kreuzchen machen, als performativer Akt der redundanten Selbstbestätigung des Wählers als Wähler. Drastisch, bunt und eindrucksvoll demonstriert das der Medienverbund von Pro 7, Sat 1, N 24 und Kabel 1 mit seiner Kampagne »Geh wählen!«, für die B- bis E-Prominente Reklame machen. Einer der Werbesprüche lautet: »Gehst Du? Theoretisch könnte eine Stimme die Wahl entscheiden. Theoretisch könnte Deine Stimme entscheiden. Entscheiden wer Deutschland vertritt: beim G8-Gipfel, im UN-Sicherheitsrat, bei der Weltklimakonferenz. Theoretisch könnte Deine Stimme entscheiden, ob der Meeresspiegel steigt, ob die Mönchsrobben aussterben und 1 000 andere Tiere. Ob die Wirtschaft wieder wächst. Ob die Steuern wieder sinken. Ob Deine Eltern mehr Rente bekommen. Ob Deine Kinder mehr Bildung bekommen. Und 1 000 andere Dinge. Du entscheidest: Geh Wählen!« – »Theoretisch könnte« heißt ja: »praktisch nicht« und meint die bloß statistische Chance. Dass zudem über keines der genannten Themen bei der Wahl entschieden wird, ist vollkommen unerheblich. Es geht sowieso nicht um den G8-Gipfel, 1 000 Tiere und 1 000 Dinge, sowenig wie es um die Lebenssituation des Einzelnen geht, die hier mit keinem Wort erwähnt wird (also nicht einmal in der offiziellen Leistungsterminologie als Arbeit oder Arbeitsplatz auftaucht …). Trotzdem wird aber an den Einzelnen der Appell gerichtet. Das Engagement, das ihm abverlangt wird (Kreuzchen machen), ist jedoch kein gesellschaftliches, auch wenn man sich mit Klimagipfel und Robben pseudosozial gibt: Appelliert wird nämlich an einen Subjekttypus, der als autonomer Konformist beschrieben werden kann – es ist dies ein Wesen, das von allen guten Geistern verlassen ist und dessen Interessen sich vollständig aus der Logik der Warentauschgesellschaft ableiten lassen.

Die Pro 7-etc.-Kampage treibt es damit auf die Spitze: Nicht mehr Aufklärung und Mündigkeit ist der – wie auch immer ideologisch verstellte – Gradmesser der Politik, sondern das beharrliche Selbstbekenntnis zu Beschränktheit und Ressentiment. Jeder Idiot kann wählen gehen, und jeder Idiot findet noch irgendeinen Grund dafür (1 000 Tiere, 1 000 Dinge). Dafür stellt sich eine Riege auf, die von Stefan Raab über Sonya Kraus bis zu Wigald Boning und die Popstargruppe Monrose reicht. Im Werbespot hört sich das dann so an: »Ich gehe!« – »Ich gehe mit!« – »Und ich gehe auch! Und deswegen gehen wir jetzt einfach.« Ein dem folgendes »Ist mir doch egal«, das im Making Of auf Youtube noch zu hören ist, wurde leider rausgeschnitten.

Mit dem demokratischen Populismus scheint sich zu realisieren, was vor beinahe einem Jahrhundert Edward Bernays für die Inszenierung der Politik selbst entwickelte: der (demokratische) Führer als Star, dessen politische Kompetenz sich nicht rational, sondern über die Adressierung dessen, was der Onkel von Bernays, nämlich Sigmund Freud, kurz zuvor als Unbewusstes entschlüsselte, erklärt. Dies fiel zusammen mit der Entfaltung des Konsumkapitalismus. Seit den Kampagnen, die Bernays für Calvin Coolidge und Herbert C. Hoover konzipierte, folgt politische Propaganda ohnehin keiner politischen Logik mehr, sondern einer psychologisch-ökonomischen. Die Grundfunktionen der Wahlkampagnen sind dem Warenfetischismus entlehnt und in die allgemeine Struktur der Verdinglichung des Bewusstseins eingefasst.

Eine Schwierigkeit demokratischer Ideologie schien bisher gewesen zu sein, trotz der Möglichkeiten von Film, Fotografie und anderer bildgebender Verfahren, der Macht ein Gesicht zu geben. In der Regel kommt dies über die Inszenierung der charismatischen Persönlichkeit nicht hinaus, was mal Jahre braucht (Helmut Kohl, Angela Merkel), aber auch unmittelbar gelingen kann (Gregor Gysi, Karl-Theodor zu Guttenberg). Je undeutlicher die Gesichter werden, desto diffuser wird das Gesamtbild der Demokratie. An den klassischen Politik-Talkshows lässt sich zeigen, dass Glaubwürdigkeit nichts mehr mit politischer Kompetenz und Vertrauen zu tun hat, sondern mit der Fähigkeit, die eigene Position als Machtposition kenntlich zu machen: Physiognomie der Macht als Selbstdarstellung.

Es kommt nicht von ungefähr, dass Sendungen wie »Anne Will« im öffentlich-rechtlichen Fern­sehen gezeigt werden. Dagegen repräsentieren nämlich die vor allem vom Privatfernsehen initiierten Kampagnen ein anderes Moment demokratischer Ideologie: Hier wird nicht der Macht ein Gesicht gegeben, sondern der Ohnmacht; hier geht es nicht um die Anrufung der Stimme der Herrschaft (in dem Sinne, dass die Parteien sagen müssen, was sie wollen), sondern um die Stimmabgabe der Beherrschten (in dem Sinne, dass die Wähler eben wählen). Während Anne Will, ja selbst Leute wie Johannes B. Kerner und Reinhold Beckmann tatsächlich noch als öffentliche Personen mit journalistischer Kompetenz operieren, vom mündigen Zuschauer ausgehen und wie dereinst Ernst Dieter Lueg den Bildungsauftrag verteidigen, bemüht man sich zwar auch bei den Privatsendern – etwa mit Sabine Christiansen bei Sat 1 – um periphere Ernsthaftigkeit, womit aber das zynische Eingeständnis, dass schließlich von der Demokratie doch nichts zu erwarten sei, kaum überdeckt wird. Sei es auch nur der Quote wegen, hatte Pro 7 zur Ausstrahlung des Simpsons-Films flächendeckend die Reklame plakatiert: »Wählt Homer!«

Konnte man die APPD oder die Titanic-Partei noch als Kritik am herrschenden Parteiensystem lesen, so sind die gegenwärtigen Wahlaufrufe ebenso wie die Horst-Schlämmer-Partei (würde angeblich 18 Prozent bekommen) und die »Wählt Homer«-Aktion so wenig kritisch wie Pepsi die Kritik an Coca Cola ist, nämlich nur die etwas lustig aufgepäppelte Verlängerung von den Verhältnissen, mit denen wir es sowieso zu tun haben. Man rechnet mit dem durchschnittlichen Konsumentenbewusstsein, das selbstverständlich weiß, dass die Produkte kaum etwas voneinander unterscheidet außer ihr Markenetikett. Und es ist kein Zufall, dass sich zu Wahlzeiten die Supermärkte und Möbelhäuser in ihren Werbeprospekten gerne der Abstimm- und Wahl-Metaphorik bedienen (»Die real,-Spartei«).

Nimmt man diesen Populismus ernst, dann markiert er die spaßgesellschaftliche Verwandlung dessen, was Michel Foucault in den siebziger Jahren als Gouvernementalität bezeichnete und tatsächlich zeitgleich zum politischen Programm von Ronald Reagan (»Let the people rule!«) und Margaret Thatcher wurde: der unbedingte Wille, regiert zu werden, verdinglicht als Ideologie, sich selbst zu regieren, wenn man die Chance wahrnimmt, irgendwo bei der Bundestagswahl sein Kreuz zu machen. Dem hat eine halbwegs vernünftige Forderung nach Demokratie nur entgegenzusetzen, seine Stimme eben nicht einfach abzugeben. Denn immerhin ist soviel an der Demokratie noch wahr: Jede Stimme zählt!

aus: Jungle World 39/2009

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