Streifzüge 45/2009
von Roger Behrens
Vor fünfzig Jahren (1959 gründete Barry Gordy Jr. das Label Tamia Records, das dann ab April 1960 unter dem Namen Motown Record Corporation firmierte) wurde in Detroit ein Schallplattenlabel gegründet, das Musikgeschichte, mehr noch Musikkulturgeschichte, ja Sozialgeschichte geschrieben hat: Motown – der Name war Programm und ist noch immer als Programm zu verstehen, auf das sich eine materialistische Kritik der Popkultur ebenso einlassen kann wie die idealistische Begeisterung für die mit diesem Namen verbundene Musik: Motown ist vom Wort her eine Verkürzung von „Motor“ und „Town“, als Anspielung auf die das Alltagsleben in Detroit maßgeblich prägende Automobilindustrie. Die Musik indes, die unter diesem Label vertreten wurde, rangierte allerdings nicht zufällig unter dem Etikett, das der automobilen Techno-Urbanität genau entgegengesetzt war: Soul. Und das ist wörtlich zu nehmen: Musik, die von der Seele handelt, die die Seele berührt, die Seele hat und Seele ist – es ist eine Seele, die bisher nur als psychischer Apparat, als Wunschmaschine bei einem Industrieproletariat zu funktionieren hatte, dessen Leben ohnehin zwischen der Unmittelbarkeit von Sein und Bewusstsein eingespannt war. Nun reklamierten diese Menschen eine Gefühlswelt, in der zu leben bisher nur dem Bürgertum und seinem modernen Klassenderivat, den Angestellten, vorbehalten war. Jenseits der Nöte und Notwendigkeiten des alltäglichen Elends in der Fabrik ging es jetzt um Liebesverhältnisse, um sexuelles Begehren, um Sehnsüchte und Verlangen, womit wenigstens auf emotionaler Ebene erstmals eine Form autonomer Subjektivität und Individualität beansprucht werden konnte: „Your Heart Belongs to Me“, „Who’s Lovin’ You“, „Baby Don’t Go“, „Buttered Popcorn“ und „I Want a Guy“ heißen die Songs der A-Seite des ersten Albums der Supremes: das war die 1959 zunächst unter dem Namen The Primettes gegründete, erfolgreiche Motown-Band der schwarzen Sängerinnen Diana Ross, Florence Ballard, Mary Wilson und Betty McGlown.
Der Motown-Soul übernahm wesentliche Prinzipien der Kulturindustrie: Ähnlich wie die arbeitsteilige Produktion der Hollywood-Filmstudios war auch die Musikproduktion von Motown durchweg arbeitsteilig organisiert; Vorbild war das Fließband der Automobilindustrie. Zwar hat es solche arbeitsteiligen Produktionsverhältnisse schon vorher in der Musik gegeben, eigentlich nämlich bereits im Orchester des neunzehnten Jahrhunderts, spätestens aber mit der so genannten Sheet Music der New Yorker Tin Pan Alley; doch Motown schaffte es, ähnlich wie Hollywood in Bezug auf den Film, die Musik als eigenständige Kunstform, ja schließlich sogar als Leitkunst zu etablieren – und zwar gerade in der offenen Gestalt fortgeschrittener Massenproduktion als arbeitsteilig hergestellte Kulturware: The Supremes, um bei dem Beispiel zu bleiben, gingen aus einem Talentewettbewerb hervor; und ihre künstlerische Qualität war das Talent, singen zu können; ganz selbstverständlich wurde das Arrangieren, Instrumentieren und Produzieren anderen überlassen: Nur so war gewährleistet, dass Talent und Erfolg zusammenfallen, dass also die künstlerische Qualität durch den ökonomischen Profit begründet wird.
Zu diesem Verfahren, das in der Kulturindustrie noch Strategie war und in der Popkultur dann schließlich Prinzip wurde, gehört zudem die paradox anmutende Bindung und Entbindung von Ort und Kultur: So wie man im Hollywood-Film Hollywood erkennt, zugleich aber nichts über Hollywood als Stadt oder Stadtteil, als sozialen Raum, erfährt, so ist Motown untrennbar mit dem Sound der Industriestädte Nordamerikas verbunden, gleichwohl nicht mit einem Ton erkennbar wird, was diese Industriestädte zu Industriestädten macht; anders gesagt: Gerade hier, wo die Musik insgesamt von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen durchdrungen und bestimmt ist, ist über diese Produktionsverhältnisse in der Musik nicht das Leiseste zu erfahren.
Und dennoch bleibt das Bild der Motor Town das Image von Motown, obwohl das Label 1972 nach Los Angeles umzog und schließlich, nach Firmenverkauf, in New York seine Büros eröffnete.
In Los Angeles – Hollywood liegt vor der Tür – erweiterte die Motown Company ihr Tätigkeitsfeld um Filmproduktionen: Ein großer Erfolg war der für mehrere Oscars nominierte „Lady Sings the Blues“ mit Diana Ross in der Hauptrolle, an dem Motown beteiligt war. Wenn auch kein großer Erfolg und von den echten Fans keineswegs sonderlich geschätzt, so doch bemerkenswert für Motown ist schließlich der 1978 erschienene Film „The Wiz“, Regie: Sidney Lumet. Es ist eine Adaption von L. Frank Baums Beststeller-Buch „The Wonderful Wizard of Oz“, das schon 1900 erschien. „The Wiz“, bereits 1975 ein einträgliches Broadway-Musical, versetzt die Handlung, die Baum ursprünglich in Kansas verortete, nach New York: Hier hatte übrigens 1939 die dann weltberühmt gewordene Verfilmung der „Oz“-Geschichte – mit Judy Garland als Dorothy Gale in der Hauptrolle – Kinopremiere; zur selben Zeit fand in New York eine „Weltausstellung statt: deren Gelände wiederum, der Flushing Meadows Corona Park, dient dann in „The Wiz“ als Kulisse: Es ist das so genannte Munchkinland, wo sich Dorothy, die noch nie zuvor Harlem verlassen hat, nach einem Schneetreiben plötzlich wiederfindet. Dorothy (Diana Ross) trifft hier ihre neuen Freunde: Vogelscheuche (Michael Jackson), Löwe (Ted Ross) und Blechmann (Nipsey Russell). Gemeinsam geht es auf der Yellow Brick Lane, die im Film über die Brooklyn Bridge führt, nach Emerald City, für die die beiden Türmen des New Yorker World Trade Centers als Kulisse dienen: Eine imaginäre Stadt, die, passend zur Popkultur der späten siebziger Jahre, als eine einzige Diskothek erscheint – ein gewaltiger Lautsprecher zwischen den Türmen beschallt eine riesige Tanzfläche, auf der es zugeht wie damals im Studio 54. Der Zauberer (Richard Pryor), der hier als DJ dieser Party auftritt, entpuppt sich wie in der Buchvorlage als freundlicher Betrüger, ein Glücksversprecher, der tatsächlich nicht mehr ist als ein gescheiterter Politiker.
Mitnichten ist der Film das Beste, was je im Namen von Motown entstanden wäre: die Adaption der Oz-Geschichte ist recht dürftig, die Musik nett und brav, die Botschaft billig, fast haarsträubend. Interessant ist allerdings, gerade in Bezug auf Motown, wie hier die Soul-Musik wieder zur Stadt zurückkommt, wie Großstadt und Geistesleben hier wieder eine ideologische Einheit bilden, wie die Menschen einmal mehr emotional dort abgeholt werden, wo sie in der gefühllosen Wirklichkeit der kapitalistischen Motor Town zurückgelassen wurden.