von Nicoletta Wojtera
I
Präliminarien
„Die Möbel haben längliche Formen, matt liegen sie da. Sie wirken, als träumten sie; man könnte meinen, sie besäßen ein nachtwandlerisches Leben, wie das Reich der Pflanzen und Mineralien. Die Stoffe sprechen eine stumme Sprache, wie Blumen, wie Himmel, wie untergehende Sonnen (…).
Das paradiesische Zimmer (…), all dieser Zauber ist mit dem rohen Schlag des Gespenstes verschwunden.
O Schrecken! Ich erinnere mich! Ich erinnere mich! Ja! Dieses elende Loch, dieser Ort ewigen Überdrusses – es ist ja meine Behausung. Da sind die dummen Möbel, staubig und angeschlagen; da der Kamin ohne Flamme und ohne Glut (…).
O ja! Die Zeit ist wieder erschienen; die Zeit herrscht jetzt unumschränkt (…).
Ich versichere euch, dass die Sekunden nun stark und feierlich staccato erklingen, und jede sagt, während sie von der Wanduhr springt: ,Ich bin das Leben, das unerträgliche, das unversöhnliche Leben!‘“
(Charles Baudelaire, Das doppelte Zimmer)
Mit Baudelaire, mit den „Blumen des Bösen“ und den Prosagedichten des „Pariser Spleen“, beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts die Moderne als umfassender Paradigmenwechsel, als das „Staccato“ in der Seinsdefinition menschlicher (Ko-)Existenz. Wie sich dieses Staccato der Moderne auch fortsetzen mag – eine Frage, die uns im Verlauf dieser literarischen Wohnerkundung beschäftigen wird –, hier bricht es sich zunächst in der Dissonanz zwischen erfahrener Lebenswirklichkeit und gesuchter Selbstverortung Bahn. Die Diffusion der Existenz innerhalb der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse von Industrialisierung, Urbanisierung und Dynamisierung wird zum bestimmenden Parameter, und sie determiniert den Reflexionsmodus nicht nur der Literatur.
Baudelaire wählt das „Doppelte Zimmer“, das Sein im Wohnen als Maß der Entropie der modernen Existenz, und Edgar Allan Poe stellt etwa zeitgleich in seiner „Philosophie der Einrichtung“ fest:
„(…) Textilien mit gewaltigen, wuchernden und ausgreifenden Zeichnungen, von Streifen durchsetzt und in allen Farbtönen erstrahlend, zwischen denen kein Untergrund sichtbar ist –, so sind sie nur die üblen Erfindungen einer Sorte von Opportunisten und Geldschefflern – von Kindern des Baal und Verehrern des Mammon – von Utilitaristen, die, um am Denken zu sparen und die Phantasie einträglich zu machen, grausamerweise zuerst das Kaleidoskop erfanden und dann Aktiengesellschaften gründeten, um es durch Dampfkraft zu bewegen (…).“
(Edgar Allan Poe, Die Philosophie der Einrichtung)
Damit wird bereits jetzt, in der anbrechenden zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem Prosagedicht Baudelaires und dem Essay Edgar Allan Poes virulent, was Panajotis Kondylis im „Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ knapp 150 Jahre später auf den erkenntnistheoretischen Punkt einer verpassten Komplementärfunktion zwischen Kultur und Natur bringt: „Die Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese durch Angriffe, die von verschiedenen, ja geradezu entgegengesetzten Seiten kamen, verwandelte alles, was vorher nur als organisiertes Ganzes gedacht werden konnte (…) in Teile oder Fragmente, die nicht mehr in notwendigen Beziehungen zueinander standen.“ Es geht um nichts weniger als „die Auflösung der bürgerlichen Normhierarchie“. (Kondylis, 2007)
Und genau in diesem Moment, im Moment der Ablösung einer bürgerlich existenziellen Harmoniestruktur, setzt mit Baudelaire eine Literatur ein, die das Wohnen und damit die Bedingungen lebenswirklicher Räumlichkeit in der Frage nach der Selbstverortung des Menschen instrumentalisiert – in welcher Form, zu welchem Ende? Wir werden sehen.
Parallel zu Kondylis überführt Bruno Latour eben diese verpasste Komplementärfunktion in die „Hybriden“, in die „Quasi-Objekte“ einer zweifelhaften Moderne, die vielleicht „nie modern gewesen“ ist? Mit Baudelaire und Poe kündigt sich ein Spannungsbogen an, dessen kontingenter Spannungsgehalt von einem paradoxalen Welterfahren gespeist wird, das in Form einer „Ästhetik des Hässlichen“ die Möglichkeiten der Negation kumuliert und diese als Produktivkraft für die Literatur einsetzt. Eine Literatur, die mit Friedrich Nietzsche die Illusion der Wahrheit einer Ordnung, einer „Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen“ produktiv demontiert, „denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt gibt es keine Kausalität (…), sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten.“ (Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne)
Baudelaire nennt die Sphären Nietzsches beim Namen: das „doppelte Zimmer“, durchzogen von der Parallelität des Überdrusses und des paradiesischen Zaubers, der „moderne“ Subjekt-Objekt-Dualismus, literarisch im umgebenden Wohnraum verortet.
II
Gedanken
Gedanken
zum Grimm’schen Wörterbuch
Das Grimm’sche Wörterbuch weist unserer literarischen Wohnerkundung den Weg: Die Etymologie von Wohnen gründet auf „sich behagen, zufrieden sein“ und „sich an einer Stelle wohl befinden“. Welchen Weg nimmt dieses Wohlbefinden in der (Post-)Moderne?
Gedanken zu Heideggers „Wohnen des Menschen“
Heidegger diskutiert unter der Überschrift „dichterisch wohnet der Mensch“ nicht nur Hölderlins Frage nach dem unbekannten oder offenbaren Gott; vielmehr formuliert sein Vortrag aus dem Jahr 1951 die zunehmend virulenter werdende Frage nach dem Ende der „bürgerlichen Denk- und Lebensform“ und damit die Frage nach dem „Ende der großen Erzählungen“. Wenn Hölderlin in der Dichotomie von Natur und Mensch die dichterische Synthese eines Lebens im Tod, denn – „Tod ist auch ein Leben“ (Hölderlin, In lieblicher Bläue), entwickelt, sieht Rainer Maria Rilke in ebendieser Dichterexistenz bereits den unüberwindlichen Widerspruch des Menschen zwischen Wohnen und Leben. Und in ebendiesem Kraftfeld ruft Malte Laurids Brigge: „O was für ein glückliches Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauses zu sitzen unter lauter ruhigen, sesshaften Dingen (…). Zu sitzen (…) und ein Dichter zu sein. Und zu denken, dass ich auch so ein Dichter geworden wäre, wenn ich irgendwo hätte wohnen dürfen, irgendwo auf der Welt, in einem von den vielen verschlossenen Landhäusern, um die sich niemand bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht (…). Aber es ist anders gekommen (…). Meine alten Möbel faulen in der Scheune.“
Rilke betont das Wohnen im Gegensatz zum „Leben“, und er nimmt damit eine Unterscheidung vorweg, die Judith Hermanns Erzählung „Hunter-Tompson-Musik“ als Lebenswirklichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts beschreiben wird.
Für Heidegger ist das „Verhältnis von Mensch und Raum (…) nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen“, dessen Komplexität sich in der Literatur manifestiert. Mit Blick auf Hölderlin stellt Heidegger fest: „Das Dichten erbaut das Wesen des Wohnens. Dichten und Wohnen schließen sich nicht nur nicht aus. Dichten und Wohnen gehören vielmehr, wechselweise einander fordernd, zusammen. (…) Das Dichten ist das Grundvermögen des menschlichen Wohnens.“
Gedanken
zur modernen Literarizität von Wohnen
Destruktion, Provokation, Hohn und Widerspruch – der Impetus der Moderne ist die Dekonstruktion überlieferter Formen, das Brechen mit herkömmlichen Darstellungsverfahren. Dennoch sind wir möglicherweise „nie modern gewesen“, denn die systemische und für die menschliche Existenz produktiv gemachte Korrelation von Natur, Technik und Mensch wird innerhalb der herrschenden lebensweltlichen Wirklichkeit(en) nicht erreicht. Aber vielleicht lässt sich gerade diese Diskordanz in der Interferenz von Literatur, Literarizität und Wohnen aufzeigen.
Das Wohnen als Existenzparameter wird in der Literatur der Moderne zum Hybrid, zum „Quasi-Objekt“ zwischen dem essenziellen Erfordernis des „Sich-Behagens“ und einer dem Menschen äußerlichen existenziellen Mobilität, die zu seiner „Unbehaustheit“ (Holthusen, 1951) führt und in der kumulativen Ruhelosigkeit der Existenz bei Botho Strauß und Judith Hermann qua Selbstaufhebung endet.
Nicht lange nach Heideggers „Wohnen des Menschen“ diagnostiziert Lyotard die „Verschiebung im Raum“ als qualitative Modifikation der Existenz. Der Nietzscheanische Dualismus von Subjekt und Objekt potenziert sich in der „universellen Mobilmachung“ (Lyotard, 1989), und die Grimm’sche Definition des „sich an einer Stelle wohl befinden“ wird zu einem flüchtigen Anwesend-Sein.
Wohnen berührt die Existenz, das Sein und ein „Sichzusichverhalten als Daseinsstruktur“ (Biella, 1998). Ausdrucksform und Medium dieses Sichzusichverhaltens kann die Literatur sein, ihre (Un-)Tiefen und Grenzwerte als mögliche Poetologie der menschlichen soziokulturellen Existenz. Denn am Ende unserer Betrachtungen steht eine schlichte Antwort auf die Frage „Weshalb Sie hier leben? – Weil ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen, die Tür hinter mir zuziehen, gehen.“ (Judith Hermann, Hunter-Tompson-Musik).
Entlang dieser Skizzen und Gedanken liegt ein literarischer Spannungsbogen, den wir verfolgen können und der uns zeigen mag, ob die Literatur und die Metaphorik des Wohnens für das Projekt der (Post-)Moderne eine eigene ästhetische Projektionsfläche bildet.
III
Rilke, Hofmannsthal, Kafka, Perec, Strauß, Hermann…
Was passiert zwischen Rainer Maria Rilkes „Malte Laurids Brigge“ und Judith Hermanns „Hunter-Tompson-Musik“? Was liegt auf diesem knapp ein Jahrhundert umfassenden Spannungsbogen, dass sich die beiden literarischen Entwürfe am Ende im „Asyl“ treffen? Zwei gleichsam „Moderne“ exemplifizieren die Frage des Daseins im „Raum“ entlang einer Wohnstatt: „Es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyl de nuit.“ – „Es ist ein Asyl, ein Armenhaus für alte Leute, eine letzte verrottete Station vor dem Ende, ein Geisterhaus.“ – „Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.“
Hans Egon Holthusen lässt den Beginn der Moderne und die Existenz des „unbehausten Menschen“ mit Blick auf Rilke einsetzen: „1910 also. Es war das Jahr, in dem die ,Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ erschienen, das Pariser Tagebuch eines jungen Menschen, der von sich sagte, dass ,dieses so ins Bodenlose gehängte Leben eigentlich unmöglich sei‘“.
Das „Pariser Tagebuch“ ist das Tagebuch eines Unbehausten im Wortsinn; Rilkes Malte Laurids Brigge sucht nach der Wohnstatt, nach der räumlichen „Ver-Ortung“ (s)einer Existenz. Diese Suche ist eine Suche in der Interferenz der Subjekt-Objekt-Relation, für die Nietzsche das ästhetische Verhalten als die einzig denkbare Lebenswirklichkeit definiert hatte. Und in der brachialen Erkenntnis des Subjektes zwischen der Dichotomie der Dinge setzt Rilke ein mit der unrevidierbaren Form von Leben – mit dem Tod –, indem er feststellt: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. (…) Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.“ Dieser Unmittelbarkeit des Todes korrespondiert eine spezifische Ambivalenz, denn – „Die Hauptsache war, dass man lebte. Das war die Hauptsache.“
Die Polarität der Sphären, ihre Überlagerung in der Feststellung eines gelebten Todes wird lanciert von einer äußeren Dynamik, die die innere Lebenswelt unmittelbar erfasst und in der Wohnsituation kumuliert, wenn Malte im Tagebuch festhält: „Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin.“
Das Pariser Tagebuch lässt die Amplituden der Moderne ausschlagen, und die Perspektive der eigenen Wohnsituation bestimmt ihre Frequenz in der Frage Maltes „Was für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die?“
Zuhause sein, bei sich sein, sich behagen – wir erinnern uns an die Definition des Grimm’schen Wörterbuches. Rilke differenziert die semantische Zuordnung: Die Kohärenz von Wohnen und Leben wird perspektivisch variiert und erweitert, indem der Wohn-Raum der Bücher, die Nationalbibliothek in Paris, als Lebens-Raum apostrophiert wird, bei dem man „eine besondere Karte haben (muss), um in diesen Saal eintreten zu können. (…) und dann bin ich zwischen diesen Büchern, bin euch weggenommen, als ob ich gestorben wäre, und sitze und lese einen Dichter.“
Rilke kontrastiert den von Kondylis bezeichneten „Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ in der Kohäsion des Wohnens und der offengelegten Fassade der modernen Existenz. Er formuliert den einsetzenden Niedergang äußerer Harmoniestrukturen in Parallele zu einer unaufhaltsamen Dynamik der Existenz: „Denn das ist das Schreckliche (…): es ist zu Hause in mir.“
Auf dieser Projektionsfläche schließlich geschieht im zweiten Teil der „Aufzeichnungen“ mit dem Beginn der „Zeit, wo alles aus den Häusern fortkommt“, die Umwertung. Die Häuser „können nichts mehr behalten. Die Gefahr ist sicherer geworden als die Sicherheit.“ Und diese Sicherheit der Gefahr manifestiert sich in der flüchtigen Wohnsituation eines Hotels, wie sie uns in Judith Hermanns „Hunter-Tompson-Musik“ etwa einhundert Jahre später wieder begegnen wird – „Ich sah ihnen ins Gesicht und ließ sie fühlen, dass ich im Hotel Phönix wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte.“
In Parallele zu Rilke und doch singulär in seiner Radikalität reagiert Hugo von Hofmannsthal auf die Diskordanz der Moderne und auf die Frage nach dem Bei-sich-Sein des Menschen. Im „Märchen der 672. Nacht“ erfahren wir erneut die physische Korrespondenz des Todes zu dem ihn umgebenden Wohnraum: „Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod.“ Die Modi des Todes. Sie wirken als zentrales Movens in der dissonanten Lebenserfahrung der Moderne. Und doch wandeln sie im Verlauf des Spannungsbogens ihre Aussagewerte; die „Unbehaustheit“, die bei Rilke und Hofmannsthal in den katastrophisch erfahrenen Zustand des Todes mündet, wandelt ihre dichterische Existenz und wird zum integrativen Element.
Auf diesem Weg liegt ein anderer „Moderner“, der die Radikalität auf dem Spannungsbogen konzentriert – Franz Kafka übersteigert die physische Ebene ins Paradoxale und manifestiert damit den Verlust des „Sich-Behagens“ in einem Wohnen, in dem das Moment des Bei-sich-Seins keine Geltung mehr hat. Ab jetzt wird das Wohnen selbst, die individuelle Wohnsituation zur Bedrohung. Das von Rilke befürchtete Eindringen in die „Stube“ geschieht, der Einzelne ist ohne Macht und Behagen in seinem Lebens-Raum: Joseph K. wird zum ortlosen Objekt auch und gerade in seiner Wohnung. Der von Sartre explizierte „Blick des Anderen“ in der Begrenzung von Zimmer(Lebens-)Wänden kündigt sich an. Noch einmal Hans Egon Holthusen:
„Bei Kafka hingegen funktioniert die Wirklichkeit grundsätzlich nicht, die Sinnfiguren schließen sich nicht, jedenfalls nicht auf vernünftige Weise: alles bleibt offen. Der Stil des Dichters ist durchaus ,realistisch‘, er ist konkret, sachlich, schlicht und genau (…). Und trotzdem tritt überall der Hintersinn und Unsinn des Daseins im unsicher gewordenen Gefüge der Wirklichkeit zutage, das Hinterwirkliche bricht in Form des Absurden, Ironischen und Paradoxen in den Bereich des Greifbaren und Sichtbaren ein.“
„Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen“ – Franz Kafka entwickelt in der Erzählung „Der Bau“ aus den Jahren 1923/24 bereits zu Beginn die Umkehrung der Werte Rilkes und Hofmannsthals in eine paradoxe Übersteigerung, indem er die Ambivalenz der physisch-mentalen Existenz zwischen äußerer (Bau-)Realität und innerer Lebenswirklichkeit der „Hinterwirklichkeit“ Holthusens kontrastiert: „Von außen ist eigentlich nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nirgends hin, schon nach ein paar Schritten stößt man auf natürliches festes Gestein. (…) Freilich manche List ist so fein, dass sie sich selbst umbringt, das weiß ich besser als irgendwer sonst (…). Doch verkennt mich, wer glaubt, dass ich feige bin und etwa nur aus Feigheit meinen Bau anlege.“ Es geht um den Kampf der Kreatur mit dem Bau und damit um den Brennpunkt der Selbstverortung in der Haltlosigkeit der modernen Existenzsituation, in der der Einzelne qua Reflexion auf die ihn umgebenden Angstparameter seinen Wohnraum schafft und dort dennoch nicht „in seinem Haus ist“ – denn: „Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran. (…) Hier gilt auch nicht, dass man in seinem Haus ist, vielmehr ist man in ihrem Haus.“
Kafka kontrastiert unmittelbar. Es gibt keine vermittelnden Elemente zwischen den Sphären; es gibt keine Brücken zwischen Subjekt und Objekt, sondern mit Nietzsche lediglich ein „ästhetisches Verhalten“. Kafka manifestiert dieses ästhetische Verhalten in der subtilen Korrelation der Wandelbarkeit und Negativmobilität des Wohnraumes in der Literatur: „Arme Wanderer ohne Haus.“
Die Erzählung wird um die Akausalität der beiden Sphären zentriert; das „Sich-Behagen“ der „bürgerlichen Denk- und Lebensform“ korrespondiert einer inneren Dauermobilität, die sich in der paradoxalen Umkehr als äußerer Zwang preisgibt. Die Kreatur wird sui generis zu einer getriebenen Existenz und die Nietzscheanische Demontage bereitet den Weg für Lyotards „universelle Mobilmachung“, wenn Kafka formuliert: „Wie? Dein Haus ist geschützt, in sich abgeschlossen. Du lebst in Frieden, warm, gut genährt, Herr, alleiniger Herr über eine Vielzahl von Gängen und Plätzen, und alles dieses willst du hoffentlich nicht opfern (…). Aber dann hebe ich doch vorsichtig die Falltüre und bin draußen, lasse sie vorsichtig sinken und jage, so schnell ich kann, weg von dem verräterischen Ort.“
Odradek schließlich, Kafkas „Hybrid“ in „Die Sorge des Hausvaters“, domestiziert diese Jagd in dem „ästhetischen Verhalten“ zwischen Subjekt und Objekt:
„Es (Odradek, Anm. Verf.) sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen (…).
Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sterns kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sterns auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. (…).
,Und wo wohnst du?‘ ,Unbestimmter Wohnsitz‘, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann.“
Das Kafkaeske, die mehrdimensionale Hintergründigkeit soziokultureller (Ko-)Existenz und das paradoxal Politische der harmonischen Denkfigur führen (nicht nur) die Literatur und die Literarizität in den postmodernen Diskurs.
Mit Franz Kafka beginnen wir den Blick nach innen zu richten, ohne das Außen der expliziten demontierenden Analyse zu unterwerfen, wie es Rilke und Hofmannsthal schreibend erkunden, um im Schreibakt, in der ästhetischen Konsequenz die Möglichkeit einer Antwort auf den generativen Wechsel der Seins-Dimension zu finden. Der Spannungsbogen dehnt sich, um in einer veränderten Perspektive der Polarität Nietzsches einen integrativen Impuls zu geben.
Der Wandel ist in und an der Literatur (ab-)lesbar – Baudelaires „Ich bin das Leben, das unerträgliche, das unversöhnliche Leben!“ überführt George Perec in „Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung“.
Zentral in Perecs „Gebrauchsanweisung“ ist das Element des Puzzles. Das Puzzle integriert. Im Moment der Hybridisierung der sozialen Existenz übernimmt die Idee der konstruktiven Demontage die Argumentationslinie zwischen Moderne und Postmoderne. Perecs Puzzle synthetisiert die Elemente der Existenz. Es geht darum, die Dynamik des menschlichen Seins zwischen Erscheinen und Verschwinden, das Flüchtige und das in allem manifeste Nichts Sartres in der Parallelität der äußeren Realität eines Pariser Mietshauses auszuspielen. Perec spielt mit dem Puzzle in einer subtilen Mehrdimensionalität; der Roman setzt Leben zusammen aus Zimmern, Wohnungen, Einrichtungen, Küchen-, Bad- und Wohnzimmermöbeln, aus Einzelnen und Paaren und der versuchten Selbstverortung in einem Haus mit 99 Zimmern.
Die spürbare Getriebenheit des Einzelnen im undurchdringbaren Labyrinth der modernen Existenz bei Rilke und Hofmannsthal wird zum frei flottierenden Lebensspiel, das Ich wird zu einem Puzzle in der Ambivalenz der Frage danach, wer puzzelt und wer definiert das Puzzle? Denn – „Die Kunst des Puzzles beginnt (…), wenn der, der sie fertigt, sich alle Fragen zu stellen sucht, die der Spieler lösen muss, wenn er, statt den Zufall die Spuren verwischen zu lassen, an seine Stelle die List, die Falle, die Illusion zu setzen gedenkt: (…)“ Und dennoch ist es „allem Anschein zum Trotz (…) kein solitäres Spiel: jede Gebärde, die der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller vor ihm bereits gemacht; jeder Baustein, den er immer wieder zur Hand nimmt, den er betrachtet, den er liebkost, jede Kombination, die er versucht und immer wieder versucht, jedes Tasten, jede Intuition, jede Hoffnung, jede Entmutigung, sind von dem andern ergründet, auskalkuliert, beschlossen worden.“
Perec fragmentiert und er fügt zusammen: 99 Zimmer, einzeln und auf sich zentriert in der übergeordneten Einheit eines Wohnhauses, gespeist durch zwei Protagonisten – den Puzzlespieler und den Puzzlehersteller in der Synthese des Hauses und doch singulär in der Vereinzelung des Seins.
Die Vereinzelung im Raum – damit hat die (Post-)Moderne ihren literarischen „Hybriden“ gefunden. Heideggers „Bauen Wohnen Denken“ und Botho Strauß’ „Wohnen Dämmern Lügen“ bedingen sich, Gerhard Kurz hat zu Recht darauf hingewiesen. In der Interferenz von Baudelaires „Staccato“ und Heideggers „Rede von Mensch und Raum“ ist es Botho Strauß, der den entscheidenden Schritt zur Hybridisierung des Wohnens in der Literatur geht.
Wo Heidegger feststellt: „Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen“, setzt Botho Strauß ein mit der Frage: „Wann merkt ein Mann, dass er auf einem stillgelegten Bahnhof sitzt und vergeblich auf seinen Zug wartet? Denn es ist schwer, vielleicht unmöglich, in einem Wartesaal einzukehren, um seine erschöpften Beine auszuruhen, und gegen den Raumsinn zu empfinden, dass hier kein Warten mehr belohnt wird.“
Der Roman „Wohnen Dämmern Lügen“ demontiert weit mehr als Perecs „Das Leben“ die gesellschaftliche (Ko-)Existenz des Einzelnen in der Frage nach der Konstante einer Sinn stiftenden Einheit. Wo Perec das Haus, und darin 99 Zimmer, als Rahmen des „modernen“ Spiels, des Puzzles mit dem Ziel des großen Ganzen definiert, überblendet Botho Strauß diesen Halt gewährenden Parameter in der programmatischen Ausrichtung auf das systematisierte Chaos.
Die Kapitelstruktur von Strauß’ Roman ist rein visuell: Die Satzanfänge der Kapitel im Buchraum sind typografisch differenziert; 37 Kapitel nehmen die Diskordanz der Moderne in der Raumstruktur des Lebens auf: Es sind Einzelne und Paare, Ehepaare und Kinder, die einen Teil des Lebens-Raumes im Roman einnehmen und ihn doch nicht füllen. Da ist „Er“, der einfach nicht auszog aus einer längst überlebten WG-Idee, dessen Freund längst als Freund nicht mehr bezeichnet werden kann und der „für zwei Stunden am Nachmittag zwischen vier und sechs (…) den Stuhl in den Flur (rückt), dicht neben die Wohnungstür. Treppensteigen hören!“ Und da ist Julias Mutter, die zurückschaut, denn „Jemand ist auf dem Weg zurückgeblieben. Jemand lässt auf sich warten.“ In einem anderen Moment stellt sie fest, „man laokoonisiert langsam, ganz allmählich geht das Geschlinge in den Zustand, in die Reglosigkeit über. Zeit raus, Raum rein. (…) Raum! … Raum! Wie ein Erstickender um Atem, so rang sie um Raum … als die Zeit versiegte in ihren Adern (…)“
Das Ringen um (Lebens-)Raum und die parallel sich vollziehende Dissoziation des modernen Menschen in der Suche nach Individualität konzentriert Strauß in dem Theaterstück „Die Zeit und das Zimmer“ jeweils in einem einzigen Raum. Das „Staccato der Zeit“, wir erinnern uns an Baudelaire, manifestiert sich in der räumlichen Lebenssituation. Der Autor verlegt die Differenzierung des Lebens als Solitär im Raum in das Medium eines Theaterstückes und eröffnet damit die physische Mehrdimensionalität von Heideggers „wesentlich gedachte(m) Wohnen“ in der Literatur. Das Zimmer als Lebens-Raum hat sich längst seiner bewahrenden und schützenden Funktion begeben, und in der Konsequenz dieses Paradigmenwechsels liegt das andere Ende des Spannungsbogens, der mit Rilke begonnen hatte. Die Modi der „Unbehaustheit“, die Kafka bereits in die Paradoxale der sich selbst bedrohenden Wohnsituation überführt hatte, wird mit Strauß zu einem Reflexionsparameter des Lebens. Zeit und (Wohn-)Raum heben sich innerhalb eines Zimmers – und bezeichnenderweise innerhalb eines Theaterraumes – auf, die perspektivische Mehrdimensionalität moderner Existenz findet hierin mit Latour ihren produktiven „Hybriden“.
Einer, der diese Mehrdimensionalität der Flüchtigkeit zur unmittelbaren Konsequenz des physischen Verschwindens steigert, heißt in Judith Hermanns Erzählung „Sommerhaus, später“ bezeichnenderweise „Stein“; und „Stein fand das Haus im Winter“: „Stein hatte nie eine eigene Wohnung besessen, er zog mit diesen Tüten durch die Stadt und schlief mal hier, mal da, und wenn er nichts fand, schlief er in seinem Taxi. Er war nicht das, was man sich unter einem Obdachlosen vorstellt. (…) er hatte eben keine eigene Wohnung, vielleicht wollte er keine.“
Das zentrale Movens des Wohnens, das Sich-Behagen, hat die Umwertung aller Werte der Moderne vollzogen, die Parameter der „Unbehaustheit“, Dynamisierung und Flüchtigkeit bestimmen die Perspektive des Einzelnen auf seine Verortung in Zeit und Raum. Stein lebt expressis verbis in (s)einem Mobilitätsfaktor – einem Taxi – denn, er will keine Wohnung. Die Negation macht die Drohung der Moderne substanzlos: keine (sic) „Elektrische(n) Bahnen rasen läutend durch meine Stube“, denn ihnen wurde „die Stube“ entzogen.
Die Affirmation der Negation – in der Erzählung „Hunter-Tompson-Musik“ schließlich wird sie offenbar in Hunters Antwort auf die Frage: „Ich will nur wissen, weshalb Sie hier leben, weshalb denn, können Sie mir das sagen? – Weil ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen, die Tür hinter mir zuziehen, gehen.“
IV
Nachliterarische Skizze…
In der Frage nach dem (Wohn-)Raum in der literarischen Moderne entstehen Wege:
„In lieblicher Bläue blühet
mit dem metallenen Dache der Kirchthurm. Den umschwebet
Geschrei der Schwalben, den umgiebt die rührendste Bläue.
Die Sonne gehet hoch darüber und färbet das Blech,
im Winde aber oben stille krähet die Fahne.
Wenn einer unter der Glocke dann herabgeht, jene Treppen,
ein stilles Leben ist es, weil,
wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist,
die Bildsamkeit herauskommt dann des Menschen.(…)
Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.“
(Hölderlin, In lieblicher Bläue)
Bei Rilke und Hofmannsthal ist der Tod im Wohnen ex negativo und in der unmittelbaren Korrelation eines polaren Dualismus von Leben und Tod präsent. Das ändert sich. Die Moderne nimmt Form an, die Parameter verdichten sich und verwischen ihre Demarkationslinien. Im diskursiven Blick zwischen Moderne und Postmoderne interpoliert die Moderne den Tod dem Sein. Die Existenz erschafft sich qua literarischem Möglichkeits-Raum einen lebensweltlichen Wohn-Raum: den kreativen Spannungsbogen zwischen „Wohnen Dämmern (und) Lügen“.
V
Post Scriptum
Das Entstehen des Beitrags wurde lanciert von einer speziellen Lektüreerfahrung: „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace, als „Infinite Jest“ bereits 1996 in den USA erschienen. Ein Buch, das über den (be-)schreibenden Weg der Frage nach dem „Sich-zu-sich-Verhalten“ die Brücke schlägt zu dem Wohnen des Menschen im 21. Jahrhundert. Der Autor steigert die Feststellung des „Ich bin hier drin“ zum „Ich bin da gefangen drin“ und wechselt den Modus zu – „Wenn da eigentlich gar keiner drin ist“?! Dann? Dann wird der euklidische Standpunkt der Geraden als kürzeste Verbindung zwischen den Dingen aufgegeben. Und damit ist der als postmodern apostrophierte David Foster Wallace bei dem Modernen, bei Rainer Maria Rilke, angekommen, für den der Halt des euklidischen Standpunktes bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts keiner mehr sein konnte. Die literarische Idee des Wohnens innerhalb des Selbst macht die Negation der euklidischen Geraden produktiv.
Literatur
Baudelaire, Charles: Pariser Spleen. Kleine Gedichte in Prosa. Stuttgart 2008.
Ders.: Œuvres complètes. Paris 1975.
Biella, Burkhard: Eine Spur ins Wohnen legen. Düsseldorf, Bonn 1998.
Foster Wallace, David: Unendlicher Spaß. Köln 2009.
Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abtlg., Bd. 7 u. 13. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt/M. 2000.
Hermann, Judith: Sommerhaus, später. Frankfurt/M. 1998.
Hofmannsthal, Hugo v.: Gesammelte Werke. Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt/M. 1979.
Holthusen, Hans Egon: Der unbehauste Mensch. München 1951.
Kafka, Franz: Der Bau. In: Beschreibung eines Kampfes. Frankfurt/M. 1976.
Ders.: Die Sorge des Hausvaters. In: Gesammelte Werke. Bd. 5. Frankfurt/M. 1950.
Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Berlin 2007.
Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Berlin 1995.
Lyotard, Jean-Fraçois: Das Inhumane. Wien 1989.
Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: KSA I, München 1988.
Perec, Georges: Das Leben. Gebrauchsanweisung. Frankfurt/M. 2002.
Poe, Edgar Allan: Werke IV. Hrsg. von Kuno Schuhmann. Olten 1973.
Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt/M., Leipzig 1996.
Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts. Reinbek 1991.
Strauß, Botho: Besucher. München, Wien 1988.
Ders.: Wohnen Dämmern Lügen. München, Wien 1994.