von Peter Klein
Die Demokratie herrscht mit großer Selbstverständlichkeit in den Köpfen der westlichen Menschen. So sehr, dass es kaum noch jemanden gibt, der es für nötig hält, sie zu legitimieren. Die Zeiten, in denen sie sich im Kampf befand, sind lange vorbei. Es gibt keine politischen Ordnungsvorstellungen mehr, die ihr ernsthaft Konkurrenz machen könnten. Die Demokratie ist schon für sich genommen zu einem Argument geworden. Sie zu stärken, mehr Demokratie zu wagen, ist sozusagen immer richtig. Wer in der politischen Sphäre ernst genommen werden will, muss sich als Demokrat ausweisen können. Die Frage, die gestellt wird, lautet allenfalls, ob jemand als Demokrat ernst zu nehmen ist. Ob das Bekenntnis zur Demokratie, das in der Politik weltweit zum guten Ton gehört, glaubwürdig ausfällt oder nicht.
Wie bei allen Bewusstseinszuständen, die es zu einer gesellschaftlichen Monopolstellung gebracht haben, ist natürlich auch mit diesem eine Gefahr verbunden. Es entsteht ein ideologischer Nebel, der es den Menschen schwer macht, die Härte und Grausamkeit, die mit der Ausübung jeglicher politischer Macht verbunden ist, deutlich wahrzunehmen. So sind etwa die vom Westen angezettelten Kriege der letzten Jahre trotz ihrer Unbeliebtheit auf bemerkenswert wenig Widerstand in der Bevölkerung gestoßen. Bomben, die im Namen der Demokratie und des Menschenrechts töten, machen anscheinend einen vernünftigeren und harmloseren Eindruck als das, was von „Hass“ und „religiösem Fantatismus“ angetriebene Attentäter tun – mag es militärisch gesehen auch noch so stümperhaft und unwirksam sein.
Demokraten sind einsam…
Überhaupt zeichnet sich die westliche Demokratie durch ein hohes Maß politischer Zumutungs- und Frustrationstoleranz aus. Bei allem Lob der Kritik, bei aller mit Nachdruck zelebrierten Offenheit und Streitkultur – sie hat sich im letzten halben Jahrhundert als ein Hort der politischen Ruhe und Stabilität bewährt. Und dieser Umstand scheint mir von grundsätzlicher Bedeutung zu sein. Er verweist auf die Tatsache, dass die Menschen des Westens, jeder einzelne für sich, ziemlich viel mit sich selbst zu tun haben. Dafür sorgt die politisch-rechtliche Grundstruktur, in der sie sich befinden. Die moderne demokratische Gesellschaft ist eine weitgehend individualisierte Gesellschaft. Das Volk, das herrscht, ist eine rechtliche Struktur, die auf das vereinzelte Individuum zugeschnitten ist. Die Menschen sind hier rechtlich voneinander unabhängige Subjekte, die ihr Leben in freier Selbstverantwortung zu gestalten haben. Was immer diesem selbstverantwortlichen Subjekt zustößt, es handelt sich zunächst einmal um seine eigene Angelegenheit und um sein eigenes Pech. Jeder ist hier seines Glückes Schmied, und das heißt im Umkehrschluss, dass er sich auch das Misslingen und das Unglücklichsein selbst zuzuschreiben hat. Das hämische „Selber schuld!“ liegt mehr auf der Linie des verbreiteten Einzelkämpfertums als die Entwicklung von Solidaritätsgefühlen. Mit anderen Worten: Die Zeiten, in denen man noch politische Überzeugungen hegte und Opfer für sie brachte, sind in der überaus „coolen“ Gesellschaft der westlichen Demokratie lange vorbei. Das Dasein als privater Egoist fristen zu müssen, ist schon anstrengend genug.
…und ohne Ideale
Genau hierin scheint mir das eigentliche Problem zu liegen, das mit der Demokratie unserer Tage verbunden ist. In dem Maße, in dem die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft, Freiheit und Gleichheit, sich der sozialen Wirklichkeit bemächtigten, in dem sie zur Struktur und zum politisch-ökonomischen System wurden, mussten sie als etwas, an das man glauben kann, abdanken. „Und man merke wohl“, schreibt Ortega y Gasset im „Aufstand der Massen“, „wenn etwas, das ein Ideal war, zum Bestandteil der Wirklichkeit wird, hört es unerbittlich auf, Ideal zu sein.“ (S. 16) Diese Worte stammen aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als die bürgerlichen Prinzipien ihren ersten Jugendschmelz bereits verloren hatten. Heute, wo alle Parteien demokratisch und in beliebiger Kombination regierungsfähig sind, wo die Politik bloß noch als ein Streit um Zahlen betrieben wird, als ein Hin- und Herrechnen zwischen verschiedenen Steuersätzen und Subventionsmilliarden, gelten sie in noch viel stärkerem Maße.
Freiheit und Gleichheit besitzen keine Leuchtkraft mehr. Gerade weil sie allgegenwärtig sind und den Alltag des demokratisch vergesellschafteten Menschen prägen, haben sie die Position von Idealen, an deren Realisierung bestimmte Hoffnungen und Erwartungen geknüpft wären, eingebüßt. Perspektive, Zukunft, Fortschritt – all diese Denkfiguren, die bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein eine politisch bewegende Kraft besaßen, haben im Zusammenhang mit Freiheit und Gleichheit ausgedient. Man findet die Sprüche von Vision und Fortschritt allenfalls noch in Hochglanzbroschüren, mit denen neue Automodelle oder Computer beworben werden. Nichts charakterisiert die Lage des demokratischen Glaubensbekenntnisses besser als die jämmerliche Klage, die Wolfgang Lepenies, ein Demokrat alter Schule, aus Anlass einer Preisverleihung anstimmte: „Woran es mangelt, ist die Wärme, mit der wir uns zu unseren Werten bekennen. Ansteckend kann die Demokratie nur wirken, wenn sie nicht routiniert betrieben oder anderen mit Gewalt aufgezwungen, sondern mit Enthusiasmus gelebt wird.“ (Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2006, SZ vom 9.10.2006) Enthusiasmus, noch dazu massenhafter, das war einmal. Heute ist es die museale Atmosphäre von Preisverleihungen und Gedenktagen, wo Freiheit und Gleichheit noch gepflegt werden. Ansonsten dienen sie als ideologische Weichzeichner, mit denen der westliche Kapitalismus seine militärischen Abenteuer beschönigt.
Demokraten leben objektiv…
Was der Demokratie heute fehlt, ist jener Konservativismus der altständischen Herrschaften, neben dem sie eine ganze Epoche lang glänzen konnte. Dieses Kontrastprogramm einer Obrigkeit, die sich mit dem Allerhöchsten im Bunde wusste, ist ihr im Verlaufe der letzten zweihundert Jahre abhanden gekommen. An die Stelle der persönlich gefärbten Abhängigkeiten und Treueverhältnisse, die in Europa bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein der Stachel der sozialistischen Gleichheitsforderung waren, auch der nationalsozialistischen, ist die unpersönliche Form des Gesetzes getreten. Das Gesetz aber betrifft alle Menschen, die darum Staatsbürger heißen, in gleicher Weise. Es sorgt dafür, dass ihnen die vom Kapitalismus gesetzten Zwänge und Notwendigkeiten im unauffälligen Gewand der Objektivität begegnen. Der Privatstandpunkt, der sich komplementär zu dieser Objektivität entwickelte, musste sich notgedrungen auf den des vereinzelten Individuums verengen, das ja dabei aus allen vor- und außerstaatlichen Verbindlichkeiten entlassen wurde. Statt unmittelbar mit Menschen, hat dieses Individuum fast bloß noch mit objektiven, also rechtlich definierten und geregelten Funktionen zu tun, die mehr oder weniger gut, mehr oder weniger korrekt von Menschen ausgeübt werden. Es ist sozusagen umstellt von objektiven Gegebenheiten, und seine Freiheit besteht in dem Vergnügen, auf eigene Faust und auf eigene Rechnung mit diesen objektiven Gegebenheiten fertig werden zu müssen.
Dass dieses vereinzelte Individuum, angeblich ein Egoist, der nur seinem „eigenen Willen“ gehorcht und den „eigenen Vorteil“ berechnet, nicht dazu in der Lage ist, die ihm vorausgesetzte Objektivität zu hinterfragen, versteht sich von selbst. Was er vorfindet an Chancen und Gelegenheiten, ist für den demokratisch vergesellschafteten Menschen schlichtweg normal, und die Anstrengungen und Mühen, die er auf sich nimmt, sind diejenigen des Lebens selbst. Die Demokratie ist keine Sache des Bekenntnisses mehr, sie ist tief eingeschliffen in den Denkgewohnheiten und Handlungsmustern der modernen Gesellschaft. Sie ist das allgemeine Fluidum, in dem die Menschen fühlen, denken und handeln. Und das macht natürlich nicht ihre Schwäche aus, sondern ihre Stärke. Es bedeutet, dass sie auf die guten Wünsche von bekennenden Demokraten wie Wolfgang Lepenies gar nicht angewiesen ist.
…und metaphysisch
Wie weit das herrschende Bewusstsein an die Gesellschaftsstruktur des demokratischen Kapitalismus angepasst ist, zeigt der bemerkenswerte Umstand, dass die Frage nach dem freien Willen, dem grundlegenden Bauelement dieser Struktur, inzwischen bei den Naturwissenschaftlern angelangt ist. Allen Ernstes haben sich einige Gehirn- und Verhaltensforscher in den letzten Jahren dazu veranlasst gesehen, das Thema „wissenschaftlich“ zu bearbeiten. Mit großer theoretischer Gebärde führten sie den Nachweis, dass sich der freie Wille in den Synapsen und neuronalen Netzen nicht finden lässt, dass es ihn somit im Sinne der empirischen Wissenschaften „nicht gibt.“ Für ein Ordnungsprinzip, das Kant unter der Bezeichnung „regulative Idee“ seiner nicht-empirischen Beschaffenheit wegen ausdrücklich der Metaphysik zurechnete, ist das ein schöner Erfolg. Es spricht für die Wirksamkeit und Allgegenwart dieses Prinzips, wenn Naturwissenschaftler heute das Bedürfnis empfinden, diesen nicht-empirischen Charakter erst noch beweisen zu müssen.
Auf ähnlich naive Weise, nämlich wie über ein Ding, das es geben oder nicht geben mag, haben die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts über den Gott der Theologen geurteilt. Aber schon sie wurden historisch widerlegt – den Papst gibt es bekanntlich immer noch, wenn auch bloß als Museumsstück mit verminderter Autorität. Ein Begriff wie Gott, der in den Lebens- und Produktionsverhältnissen wurzelt, ist eben nicht in demselben Augenblick erledigt, in dem man ihn für nicht-existent erklärt. Das Gleiche ist heute über den freien Willen der Philosophen zu sagen, der, als Strukturprinzip der modernen Demokratie verstanden, in vieler Hinsicht die Nachfolge Gottes angetreten hat. Wenn die Gehirnforscher meinen, ihn einfach durchstreichen zu können, demonstrieren sie nur, dass ihr verdinglichendes Denken diesem „Ding“, das eben keines ist, das vielmehr ein gesellschaftliches Verhältnis ausdrückt, nicht angemessen ist. Eine Kritik kann man das leider nicht nennen.
Es ist Zeit…
Eine Kritik der grundlegenden Elemente der Demokratie scheint mir aber dringend erforderlich zu sein. Die Krise des kapitalistischen Weltsystems, die spätestens seit den spektakulären Bankenzusammenbrüchen der Jahre 2007 und 2008 für jedermann sichtbar geworden ist, wird selbstverständlich auch den demokratisch organisierten Staat in Mitleidenschaft ziehen. In den aus dem Weltmarkt ausgeschiedenen Elendsregionen dieser Erde ist der Prozess der Entstaatlichung schon seit längerem in Gang, inzwischen mehren sich die Zeichen der Verwahrlosung auch in den kapitalistischen Zentren. Die Summen, die im internationalen Finanzsystem als vermeintliches Kapital gebucht sind, sind schon seit einiger Zeit nicht mehr werthaltig. In dem Maße, in dem diese Tatsache ins Massenbewusstsein dringt, in dem der Glaube an die staatlichen Bürgschaften und Rettungspakete schwindet, dürfte sich auch der Trend zur Verwahrlosung und sozialen Desintegration verstärken. Das Gerüst von rechtsgültigen Verträgen und Institutionen, in dem sich die Menschen bei ihrem privaten pursuit of happiness soeben noch sicher bewegten, wird dann nicht mehr viel taugen. Die harmlosesten Gewohnheiten werden plötzlich in der Luft hängen. Es ist klar, dass eine solche krisenhafte Situation umso mehr die Züge einer Katastrophe annehmen muss, je weniger die Menschen darauf vorbereitet sind, je weniger sie sich zu den gewohnten Strukturen eine Alternative vorzustellen vermögen.
„Krise ohne Alternative“ – das Wort stammt von dem Althistoriker Christian Meier, der es auf die Situation der späten Römischen Republik zur Zeit Julius Caesars angewendet hat. Eine ganze Epoche von Bürgerkriegen brauchte es, bis die Einrichtungen und Wertvorstellungen der res publica hinlänglich zerschlissen waren und sich mit dem Prinzipat des Augustus endlich eine neue politische Organisationsform von einiger Stabilität etabliert hatte. Genauso passt das Wort aber auf die Krise des mittelalterlichen Weltbildes im 16. und 17. Jahrhundert, die in das entsetzliche Gemetzel der Religionskriege mündete. Der in Glaubensdingen neutrale Staat des Absolutismus, die Vorform des modernen Rechts- und Verfassungsstaates, erwies sich schließlich als die Lösung des historischen Problems. Und nicht zuletzt wird man bei dem Wort von der „Krise ohne Alternative“ an die beiden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts denken. Auch diese Umbruchzeit hat uns eindrucksvoll vor Augen geführt, welche Folgen es haben kann, wenn Millionen Menschen den Boden unter den Füßen verlieren und die Welt nicht mehr verstehen. Zig Millionen Opfer, niedergemetzelt in einem Anfall nationalistischen und rassistischen Wahnsinns – und der historische „Sinn“ der ganzen Veranstaltung lag möglicherweise nur darin, dass der ständisch und national beschränkte Kapitalismus des 19. Jahrhunderts für die von ihm selbst hervorgetriebenen Produktivkräfte zu eng geworden war und an seine Stelle die moderne Massendemokratie zu treten hatte – mit ihrem flexiblen, im globalen Kapitalismus überall einsetzbaren Individuum, das für Geld, ohne groß zu fragen, so ziemlich alles macht.
War das nötig? Im Nachhinein drängt sich das Nein als Antwort geradezu auf. Das Resultat einer Epoche sieht immer sehr viel weniger spektakulär aus als die Leidenschaften und Glaubenssätze, die die Menschen bei seiner Herstellung bewegten. Erst hinterher, wenn die ehedem gültigen Glaubenssätze sich hinlänglich blamiert haben, wenn die Gläubigen sich oft genug die Köpfe eingerannt haben, wenn die unumstößlich feststehende Wahrheit umgestoßen worden ist, lichtet sich der Nebel. Und die späteren Generationen können sich über die vorangegangenen erhaben dünken und sich wundern über die dogmatische Enge und Verbohrtheit, mit welcher das, was inzwischen ein Aberglaube geworden ist, seinerzeit für die Wahrheit gehalten wurde.
…die Demokratie aufzugeben
Wenn das Nein zur Abwechslung einmal etwas früher auftreten und sich obendrein auch noch Gehör verschaffen könnte, wäre dies in Anbetracht der historischen Erfahrungen sicher von Vorteil. In diesem Sinne möchte ich den hier vorliegenden Versuch einer Demokratiekritik verstanden wissen. Die Krise, mit der wir konfrontiert sind, besitzt nach meiner Auffassung fundamentalen Charakter, das Ende einer ganzen Epoche zeichnet sich ab. Je deutlicher wir uns diese Situation bewusst machen, je besser wir mental darauf eingestellt sind, desto weniger Schmerzen wird uns der Übergang in die postkapitalistische Ära bereiten. Hinter den immergleichen Formeln und Floskeln wie hinter den Gitterstäben eines Käfigs hin- und herzustreifen, ist das Letzte, was uns Not tut. Es kommt im Gegenteil darauf an, diese Gitterstäbe zu durchschauen und zu überwinden. Der Abschied von der kapitalistischen Epoche fällt in dem Maße leicht, in dem sich die Einsicht verbreitet, dass das zu Verabschiedende überflüssig ist wie ein Kropf, dass es gut und nützlich ist, wenn man es hinter sich lassen kann. Der Abschied wird zur Qual ohne Ende, wenn man sich an den gewohnten Maßstäben und Denkformen um jeden Preis festzukrallen versucht.
Die Tatsache, dass sich die westlichen Menschen allesamt für Demokraten erklären, scheint mir eben ein solches Festkrallen zu sein. Es gilt demgegenüber zu begreifen, dass die Demokratie nichts weiter ist als das In-Geltung-Setzen und In-Geltung-Halten jener Subjektform, für welche die kapitalistischen „Sachzwänge“ eben den Rang zeitloser Objektivität besitzen. Es handelt sich bei dieser Subjektform um den abstrakten Menschen des Menschenrechtes, der keinesfalls mit den real existierenden Menschen und ihren je konkreten Bedürfnissen verwechselt werden sollte. Mit der Etablierung dieser Subjektform ist dem demokratischen Kapitalismus ein Kunststück gelungen, das bis heute nicht nur seinen ideologischen, sondern vor allem auch seinen mentalen, in der Charakterstruktur der kapitalistisch vergesellschafteten Menschen verankerten Rückhalt bildet. Das Kunststück besteht darin, dass sich in dieser Subjektform, soweit wir sie verinnerlicht haben, die Unterwerfung unter die kapitalistischen Zwänge und Zumutungen als die Betätigung eines freien Willens vollzieht. Oder um es mit den Worten Karl Mannheims zu sagen: „Die größere Wirksamkeit der demokratischen Methoden liegt eben gerade darin, dass sie dort, wo autoritäre Methoden nur Gehorsam erzwingen, Zustimmung und freiwilliges Mitgehen zu erreichen vermögen.“ (Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Darmstadt 1958, S. 319)
Dieses „freiwillige Mitgehen“ in möglichst großem Umfange zu erzeugen, muss man wohl als den geheimen Sinn jenes Projektes ansehen, das seit dem 18. Jahrhundert als Aufklärung, Modernisierung und Demokratisierung abgelaufen ist. Mannheim hat unter anderem die „Erzeugung des erforderlichen Arbeitswillens“ im Auge. Angesichts des modernen, von leistungsbeflissenen Zwangsneurotikern betriebenen Kapitalismus muss man zugeben, dass diese „Erzeugung“ geglückt ist. Die dazu passende theoretische Überschrift hat der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beigesteuert, sie lautet: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Mit diesen Worten wird in der Tat die gesamte geistige Entwicklung seit der Reformation abgedeckt. Der Appell an die Einsicht und an das eigene Gewissen markiert die grundlegende Wende, die die vormodernen von den modernen Zeiten unterscheidet. Er schlägt im bürgerlichen Menschen viel tiefere Wurzeln, als es die zweitausend Jahre lang vorgetragene Aufforderung zur Demut und zum Gehorsam bei den Menschen der Antike und des Mittelalters hatte tun können. Erst von hier ab hört die Metaphysik auf, ein wundertätiger Gott zu sein, an den man glauben muss, und es öffnet sich der Weg zur modernen Metaphysik, die es fertig gebracht hat, zum dominierenden Bestandteil des modernen Ich-Bewusstseins zu werden.
Die Geschichte der Demokratisierung ist die Geschichte der Durchsetzung und Verbreitung dieser auf den Standpunkt des vereinzelten Individuums beschränkten Bewusstseinsform. Die modernen westlichen Menschen sind als das Resultat dieser Geschichte anzusehen. Sie sind aktiv, schnell und leistungsbereit, aber auf Pawlowsche Art leider so konditioniert, dass sie nur auf die systemspezifischen Reize zu reagieren vermögen. Nur solche Dinge können sie wertschätzen und überhaupt wahrnehmen, die einen Preis haben und viel kosten, die sich also in der Warenform präsentieren. Und ihre Verantwortung reicht nicht weiter als bis zu den genau definierten Grenzen jener Funktion, die sie per Arbeitsvertrag und also freiwillig übernommen haben. Wofür ich nicht bezahlt werde, das geht mich nichts an, dafür ist jemand anders zuständig. Diese millionenfach verbreitete Mentalität überlässt sogar die Sorge für den eigenen Körper und das eigene Wohlbefinden, von den eigenen Kindern zu schweigen, den „dafür“ ausgebildeten Spezialisten, die es objektiv und damit besser wissen müssen.
Es ist schon viel gewonnen, wenn es uns gelingt, zu dieser Konstellation mental und bewusstseinsmäßig auf Distanz zu gehen. Letzten Endes sollte die demokratische Vernunft aber als das aus unsichtbaren Mauern bestehende Gefängnis verstanden werden, das den modernen Menschen daran hindert, seine existenzielle Befindlichkeit ernst zu nehmen und sich auf eine unbefangene Debatte darüber einzulassen.