Zur Analyse der heutigen Gesellschaft ungeeignet

von Ernst Lohoff

In den 1960er Jahren verkündete die bundesdeutsche Soziologie das »Ende der Klassen« und den Übergang zur »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Diese These hatte das goldene fordistische Zeitalter zum historischen Hintergrund, in dem auch die arbeitende Bevölkerung etwas vom kapitalistischen Kuchen abbekam. Damals schien zumindest in den Weltmarktzentren das Massenelend ein für alle mal zu verschwinden. Der Vorstellung einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« kam dabei auch im ideologischen Richtungsstreit eine Schlüsselfunktion zu. Sie war die Antithese zur Doppelbehauptung der Marxisten, Kapital und Arbeit stünden in einer antagonistischen Beziehung und Kapitalismus bedeute zunehmende soziale Polarisierung.

40 Jahre später hat sich das Szenario gründlich verändert. Unter dem neuen Namen Prekarisierung kehrt die soziale Verelendung in die kapitalistischen Zentren zurück und erfasst nicht nur ein paar Randgruppen. Reichlich verzögert reagiert auch die öffentliche Meinung auf die sich verschärfende Ungleichheit und beklagt die »Erosion der Mittelschichten«. Als Kürzel für diese Entwicklung wird das lange verpönte Wort »Klassengesellschaft« plötzlich hoffähig. An der Marxschen Theorie bleibt brisant, dass sie den Kapitalismus als eine auf strukturellen sozialen Ausschluss gegründete Ordnung begreift. Die Verknüpfung von Ausschlusstheorie und Klassenkonzept ist aber nur vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts verständlich. Sie eignet sich nicht dazu, das System sozialer Apartheid auf seinen analytischen Begriff zu bringen, das sich heute formiert.

Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts war das Ergebnis der Zerstörung vorkapitalistischer Produktions- und Reproduktionsweisen und begleitete die massenhafte Inwertsetzung lebendiger Arbeit. Im Zentrum standen die unmittelbaren Produzenten. Für diese Phase kapitalistischer Entwicklung war die Diskriminierung und soziale Marginalisierung der Besitzer der Hauptproduktivkraft des Kapitals, der freien Lohnarbeiter, kennzeichnend. Ausgerechnet den Besitzern der kapitalistischen Basisware, der Ware Arbeitskraft, blieb die Anerkennung als gleichberechtigte Warenbesitzerkategorie neben anderen Warenbesitzerkategorien versagt.

Die soziale Frage heute hat dagegen die massenhafte Verdrängung der lebendigen Arbeit aus dem kapitalistischen Produktionsprozess als Hintergrund. In ihrem Zentrum steht die Figur des nach kapitalistischen Kriterien überflüssigen Menschen. Statt die Inwertsetzung lebendiger Arbeit zu begleiten, ist der soziale Ausschluss das Ergebnis massenhafter struktureller Entwertung der Ware Arbeitskraft. Auch die um sich greifende Überausbeutung der Beschäftigten lässt sich nur in diesem Kontext begreifen. Die Verkaufsbedingungen der Arbeitskraft verschlechtern sich ihrer potenziellen Verzichtbarkeit wegen. Die Rede von der Wiederkehr des Klassengegensatzes vernebelt, dass die heutige Entwicklung im Kern als das Resultat von Deklassierungsprozessen zu fassen ist.

Auch wenn Klasse heute vage-assoziativ verwendet wird, hat der Begriff eine eindeutige analytische Bedeutung. Statt beliebige Einkommensgruppen bezeichnet er die grundlegenden Funktionskategorien der kapitalistischen Gesellschaft. In diesem präzisen Sinn war der Klassenbegriff keineswegs schon immer antikapitalistisch aufgeladen. Als Adam Smith das von Linné als biologisches Ordnungsschema entwickelte Klassenkonzept auf die Gesellschaft übertrug, diente es der Legitimation der für den Kapitalismus charakteristischen sozialen Grundgliederung. Die klassische Ökonomie unterschied drei Produktionsfaktoren, die gleichermaßen zur Reichtums-erzeugung beitragen: Boden, Kapital und Arbeit; folglich schien es ihr nur recht und billig, dass Grundeigentümer, Kapitalisten und Arbeiter als die drei unverzichtbaren Träger der kapitalistischen Reichtumsproduktion deren Ergebnis in der Form von Grundrente, Profit und Lohn unter sich aufteilen.

In der immanenten Kritik, die Marx an dieser Sichtweise übte, erfuhr der Klassenbegriff eine bis heute nachwirkende antikapitalistische Wendung. Marx wies nach, dass zwar der stoffliche Reichtum aus der Verbindung von Natur und menschlicher Tätigkeit hervorgeht, der Reichtum an Wert, und allein auf diesen kommt es im Kapitalismus an, aber allein die Arbeit zur Quelle hat. Marx kehrte das harmonische Klassenkonzept zu einer Theorie strukturellen sozialen Ausschlusses um, ohne deswegen die Bedeutung von Klasse als kapitalistische Funktionskategorie in Frage zu stellen. Wie Smith sah er in Grundeigentümern und Kapitalisten integrale Bestandteile des kapitalistischen Kosmos. Der Arbeiterklasse schrieb Marx den Doppelcharakter zu, gleichzeitig Teil und Gegenteil der bürgerlichen Gesellschaft zu sein.

Der Besitz der für das Wertverwertungssystem unverzichtbaren Ware Arbeitskraft weist die Arbeiterschaft als Klasse aus; seiner vermeintlich exterritorial-negativen Stellung zur bürgerlichen Gesellschaft wegen soll der proletarische Klassenstandpunkt aber einen völlig anderen Inhalt als der anderer Klassen haben. Während diese nur für ihr besonderes profanes Geldinteresse stehen, verkörpert die aus der bürgerliche Gesellschaft ausgeschlossene Hauptproduktivkraft den Standpunkt der allgemein menschlichen Emanzipation.

Die kapitalistische Entwicklung hat die Verknüpfung von sozialem Ausschluss und dem Klassenstandpunkt gleich zweimal dementiert. Im 20. Jahrhundert wurde nicht zuletzt durch die Kämpfe der Arbeiterbewegung etwas erreicht, was das Marxsche Klassenkonzept kategorisch ausgeschlossen hatte: Die beschränkte Emanzipation der Arbeiterklasse auf dem Boden herrschenden Verhältnisse, die Emanzipation der proletarischen Parias zu freien und gleichen Geldsubjekten. Heute kehrt der soziale Ausschluss wieder, aber eben nicht als struktureller Ausschluss der unmittelbaren Reichtumsproduzenten. Die lebendige Arbeit rückt in der kapitalistischen Reichtumsproduktion immer mehr an den Rand und das führt zu massenhafter Deklassierung. Die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie liefert einen Schlüssel zum Verständnis dieser Konstellation, mit dem überkommenen emphatischen Klassenkonzept ist ihr aber nicht beizukommen.

Neues Deutschland, 14.03.08

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